SAID: Ida kommt nicht mehr (Kurzprosa)

ida kommt nicht mehr

den ort bestimmst du, ich komme dort­hin – wenn auch mit ein wenig verspätung.”
so lau­tete idas mail vor dem ers­ten rendezvous.
er war­tete gerne auf sie.
von dem trot­toir gegen­über kam eine frau in einem mini­rock auf ihn zu.
“sie hat einen ent­schlos­se­nen aus­druck”, dachte er.
sie setzte sich neben ihn und zeigte viel von ihren beinen.
“ida kommt nicht, ich heisse arlette.”
er bekam kein wort heraus.
“sie hat mich geschickt für dich.”
“sie hat was?”
“ida meint, ich würde gut zu dir passen.”
mit 175 cm war ida grös­ser als er; arlette war klein, um die hüf­ten ein wenig plump.
inmit­ten sei­ner über­le­gun­gen mel­dete sich die neue:
“wir kön­nen in einen park gehen und uns auf eine bank setzen.”
dort auf der bank legte sie die beine über­ein­an­der, wippte mit dem fuss und wartete.
er griff in ihre bluse, sie ver­wehrte ihm nichts und folgte sei­ner hand.
her­nach suchte er nach einer phrase und sprach von ida.
“die liai­son mit ihr hat mit scheuen bli­cken begon­nen und ein paar flüch­ti­gen worten.”
“höre ich schon einen vor­wurf?” fragte sie.
“selbst ihre stim­men sind so ver­schie­den: ida hoch und schrill, arlett warm und dun­kel”, dachte er und suchte nach einem aus­gang für die situation.
nach der dusche lief arlette nackt in sei­ner woh­nung herum.
“ein bei­nah gedrun­ge­nes mäd­chen”, sin­nierte er.
sie kämmte und schminkte sich mit weni­gen bewe­gun­gen, schlüpfte in den mini­rock und ging mit ihm hinaus.
“du ziehst die bli­cke der män­ner an.”
“ich geniesse es, dass sich alle an mir sät­ti­gen”, schmun­zelte sie, “mit ihren blicken.”
“ida hätte so einen satz nie ausgesprochen.”
“men­schen, die nicht lügen kön­nen, tau­gen nicht für eine lie­bes­be­zie­hung”, flö­tete sie und hängte sich bei ihm ein.
“was mache ich mit die­sem tier­chen?” über­legte er.
nachts schlief jeder in sei­nem bett.
die tage teil­ten sie sich, die nach­mit­tage nackt.
sie leg­ten sich hin, ohne sich aus­zu­zie­hen, sie drück­ten die hand­flä­chen gegen­ein­an­der. er sprach von ida. arlette kannte das schon, liess das eine weile gesche­hen und schlen­kerte sich dann die schuhe von den füs­sen. sie liebte es, genom­men zu wer­den, unter dem tageslicht.
er betrach­tete die gegend um ihre augen und ver­riet sich:
“wir müs­sen klare spiel­re­geln festlegen.”
“die ein­deu­tig­keit ist nur eine form von sau­ber­keit”, und sie wühlte in sei­nem haar.
“spiel­re­gel bedeu­ten puf­fer­zo­nen, und die sind nötig.”
“du meinst leer­räume”, schnaubte sie.
er hob die schulter.
“vor allem müs­sen wir dein gedächt­nis trai­nie­ren”, arlette liess sich zeit, bevor sie hin­zu­fügte: “damit du ida vergisst.”
sie erwar­tete keine ant­wort, aber es kam eine.
“warum sollte ich sie vergessen?”
“um näher zu kommen.”
“weisst du, wie lange ich mit ida war?”
“ich weiss es”, sie küsste sein ohr: “drei jahre, acht monate und sechs tage.”
“das weisst du?”
“ich weiss noch mehr”, und ihre stimme wurde dünn.
“zum beispiel?”
arlette wollte ihn nicht ver­lie­ren und begann zu erzäh­len, bis kein geheim­nis mehr in ihrer erin­ne­rung geblie­ben war.
er sagte nichts und starrte sie an.
“was hältst du von masken?”
“nichts”, ant­wor­tete er.
“aber es gibt nackt­hei­ten, die danach schreien”, sie wurde rot im gesicht, als hätte sie etwas scham­lo­ses gesagt.
“es ist schlimm, wenn einem die gabe des schwei­gens fehlt”, war seine erwiderung.
“meine geheim­nisse fal­len aus mir her­aus, wenn sie gereift sind”, sagte sie und schluckte.
er schwieg.
“wäre ich in der dun­kel­heit geblie­ben”, dachte sie und kehrte zur demut zurück:
“in mir gibt es nichts, was end­gül­tig wäre.”
“ob die aus­strah­lun­gen dei­ner unruhe für meine wirk­lich­keit brauch­bar sind?”
sie begann sich anzuziehen.
“der mensch kann nicht bestehen, wenn er geöff­net vor den bli­cken eines ande­ren daliegt”, und er machte eine vage geste. ♦


S A I D (Pseud­onym)

Schriftsteller SAID - Autor im Glarean MagazinGeb. 1947 in Tehe­ran gebo­ren, 1965 Über­sied­lung als Stu­dent in die BRD, 1979 Rück­kehr in den Iran, jedoch bald dar­auf und seit­her aus poli­ti­schen Grün­den wie­der im deut­schen Exil lebend; zahl­rei­che Lyrik- und Prosa-Publi­ka­tio­nen in Büchern und Zeit­schrif­ten, Trä­ger ver­schie­de­ner inter­na­tio­na­ler Lite­ra­tur- und Kul­tur-Preise; 2000 bis 2002 Prä­si­dent des PEN-Zen­trums Deutsch­land; lebt in München

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2 Kommentare

  1. also mir gefällt diese kleine psycho-etüde. sie hat dichte, sprach­li­che inti­mi­tät, ist sehr ein­dring­lich geschrie­ben. kommt bei mir rüber wie eine lite­r­a­rir­sche fin­ger­übung über die bezie­hung an sich. wenn man dann noch den bio­gra­fi­schen hin­ter­grund des autors ein­be­zieht, ist es sogar fast eine stu­die über zwei kultur-welten…
    L. Haaleh
    ps: und DEINE mei­nung, milan? gefällt dir der text nicht?

  2. Ich möchte gerne die Mei­nung der andere Lesern mit­be­kom­men über, ida kommt nicht mehr von Said.

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