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Eine strahlende Gestalt
von Christian Busch
Die Musikwelt gedenkt heuer des großen ungarischen Dirigenten Ferenc Fricsay (1914-1963), der vor 60 Jahren viel zu früh verstarb. Peter Sührings jüngst erschienene Fricsay-Biographie “Der Dirigent als Musiker” leistet einen wichtigen Beitrag zu diesem Gedenken.
Anlässlich seines 60. Todestages erinnert sich die Musikwelt in diesem Jahr an den 1914 in Budapest geborenen, ungarischen Dirigenten Ferenc Fricsay. Die Deutsche Grammophon hat soeben eine vollständige, 87 Tonträger umfassende Komplettausgabe seiner Einspielungen veröffentlicht, ein lebendiges Zeugnis eines Dirigenten, der trotz seiner für einen großen Dirigenten nur kurzen Schaffensphase (er verstarb im Alter von 48 Jahren) zur Legende geworden ist, und von dem Dietrich Fischer-Dieskau einmal gesagt hat: “Dieser strahlenden Gestalt begegnet zu sein und ihn zumindest auf einem Teil seiner Reise begleitet zu haben, ist ein Geschenk, das man nur mit Gefühlen der Dankbarkeit annehmen kann.”
Biographisch neu beleuchtet
Der Musikhistoriker Peter Sühring legt nun mit seiner Monographie in der Buchreihe SOLO, die sich programmatisch ausführenden Musikern widmet, auch eine biographische Würdigung des Dirigenten vor, die Fricsay, sein Denken und seine Bedeutung neu beleuchtet. Als Grundlage fungiert hier vor allem die Erschließung seines Nachlasses im Archiv der Akademie der Künste in Berlin.
Sühring macht dabei keinen Hehl aus seiner schon frühen Bewunderung für Fricsay, dem es insbesondere durch seine Rundfunkaufnahmen gelang, junge Menschen zu erreichen und zu faszinieren, und dessen Plattenaufnahmen ihren festen und exponierten Platz in der privaten Tonträgersammlung besitzen.
Werdegang eines früh Berufenen

In seiner Monographie zeichnet er zunächst – mit einer Zeittafel, Anekdoten und illustren Zitaten untermalt – die wichtigsten Stationen seines Lebens nach: Den Werdegang von seiner schon in der Kindheit verspürten frühen Berufung, Dirigent zu werden, über sein orchestrales Wirken in der ungarischen Provinz (Széged) auf den Spuren seines Vaters als Militärkapellmeister, sein erstes Engagement an der Budapester Oper 1939, bis zum eigentlichen Beginn seiner Karriere 1948 in Berlin und den Opernhäusern und Konzertsälen Europas, vor allem Salzburg und Wien.
Der Leser erfährt nicht nur, dass Fricsay die österreichische Staatsbürgerschaft beantragte und erhielt, sich sein Privatleben einrichtete, sondern auch ausführlich und detailliert von den musikalischen Aktivitäten in seiner leider zu kurzen Laufbahn. Dabei wird deutlich, dass für Fricsay stets die Musik und nicht in erster Linie die Karriere wichtig war. So half er politisch Verfolgten in seiner Zeit in Budapest und musste selbst untertauchen. Skandale gab es keine in seinem Leben.
Charakter und Ethos
In weiteren Kapiteln seiner sehr klar strukturierten und belegten Darstellung beleuchtet Sühring Fricsays besonderes Verhältnis zur Moderne (Bartok, Kodàly, Schönberg), zu Mozart, dessen Kompositionen für Fricsay “absolute Musik“ waren, und schließlich auch seine letzten, von schwerer Krankheit geprägten Jahre.
Als Leitmotiv in allen Abschnitten fungiert stets der unverwechselbare Charakter des ungarischen Maestros, dessen Stil von hoher Musikalität, menschlicher Wärme und ethisch-nobler Integrität geprägt war. Der Biograph zeichnet das differenzierte Bild eines akribisch und besessen arbeitenden Künstlers nach, eines “nervösen, tatendurstigen Charakters“, dessen idealistische Kunstauffassung oft mit den maschinenartigen Staatsapparaten und trägen Kulturinstitutionen in Konflikt geriet. So kommt er nicht umhin, einen Zusammenhang zwischen den oft zermürbenden Kämpfen hinter den Kulissen des Musikbetriebs und Fricsays schwerer Krankheit, die seinen frühen Tod verursachte, herzustellen.
Fricsays Dirigenten-Ethos, das auf Psychologie, Phrasierungskunst, Klangsinn, Stilgefühl und Menschenliebe beruht, erscheint demnach als die aus einem magischen Zusammenspiel von Proben und Austausch gewonnenen Symbiose zwischen Dirigent und Orchester, bei welcher der einzelne Orchesterpart ungehindert musizieren könne und zugleich ein vollkommen präpariertes, wie ein Instrument biegsames Element sei.
Umfassende Würdigung

Auch wenn Peter Sührings Monographie keine spektakulären, neuen Erkenntnisse oder Fakten zutage fördert, bietet seine Darstellung eine umfassende und aktuelle, weil neue Quellen ausschöpfende Würdigung des ungarischen Dirigenten, der die Musik der Nachkriegszeit in unvergesslicher Weise mit humanistischem Ethos und ohne despotische Allüren geprägt und gestaltet hat.
Höchste Zeit also, sich die eine oder andere Aufnahme, die unter seine Leitung entstanden, anzuhören; Wie wäre es mit Dvoraks 9. Symphonie (Berliner Philharmoniker), Verdis Requiem (RIAS-Symphonie-Orchester) oder Mozarts “Don Giovanni“ von 1959 mit Dietrich Fischer-Dieskau in der Titelrolle sowie Ernst Haefliger und Irmgard Seefried? ♦
Peter Sühring: Ferenc Fricsay – Der Dirigent als Musiker, edition text und kritik, ISBN 978-3967078152
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