Wolfgang Schreiber: Claudio Abbado – Eine Biographie

Das Geheimnis der Stille

von Christian Busch

Je­der kennt das, wenn der letz­te Ak­kord und sein Nach­hall ver­klun­gen ist, das Or­ches­ter schweigt, der Di­ri­gent, den Blick nach in­nen ge­rich­tet, die Arme sin­ken lässt und ein ma­gi­scher Mo­ment der ge­heim­nis­vol­len, un­fass­ba­ren Stil­le den Saal er­füllt. Spä­tes­tens hier hält es je­der mit Fe­lix Men­dels­sohn Bar­thol­dy, dem die Wor­te so „viel­deu­tig, so un­be­stimmt, so miss­ver­ständ­lich im Ver­gleich zu ei­ner rech­ten Mu­sik, die ei­nem die See­le er­füllt mit tau­send bes­se­ren Din­gen als Wor­ten“, er­schie­nen. Der ita­lie­ni­sche Kom­po­nist Lui­gi Nono sah das We­sent­li­che in der Mu­sik dar­in, ein Höchst­mass an nach aus­sen ge­rich­te­ter In­ner­lich­keit zu er­zeu­gen. Um ex­akt die­sen Mo­ment der Stil­le und um die Fä­hig­keit, die “An­de­ren in der Stil­le [zu] hö­ren”, ging es auch Clau­dio Ab­ba­do ein Le­ben lang.

Primus inter pares

Wolfgang Schreiber - Claudio Abbado - Der stille Revolutionär - Biographie - Glarean MagazinAls der ita­lie­ni­sche Di­ri­gent am 20. Ja­nu­ar 2014 in Bo­lo­gna in Al­ter von 80 Jah­ren ver­starb, war sich die mu­si­ka­li­sche Welt ei­nig dar­über, dass sie mit ihm eine aus­ser­ge­wöhn­li­che, ein­zig­ar­ti­ge Per­sön­lich­keit ver­lor, viel­leicht mehr als je­mas zu­vor bei dem Tod ei­nes gros­sen Di­ri­gen­ten. Denn zwei­fel­los ha­ben vie­le gros­se Di­ri­gen­ten ihr in­ter­na­tio­na­les Pu­bli­kum, ihre Or­ches­ter in al­ler Welt und nicht zu­letzt ihr ge­sam­tes kul­tu­rel­les Um­feld ge­prägt, die Per­sön­lich­keit Clau­dio Ab­ba­dos konn­te und kann je­doch un­ter al­len mal mehr, mal we­ni­ger selbst­ver­lieb­ten, oft ty­ran­nisch und selbst­herr­lich agie­ren­den Di­ri­gen­ten eine Aus­nah­me­stel­lung für sich be­an­spru­chen, war er doch ent­schie­de­ner und kom­pro­miss­lo­ser An­ti­po­de zu sei­nen il­lus­tren Vor­gän­gern in den gros­sen mu­si­ka­li­schen Zen­tren Lon­don, Wien und Berlin.

Fünf Jah­re nach Ab­ba­dos Ab­le­ben er­scheint nun mit Wolf­gang Schrei­bers Bio­gra­phie “Der stil­le Re­vo­lu­tio­när” die ers­te um­fas­sen­de Wür­di­gung des am 26. Juni 1933 in eine Mai­län­der Mu­si­ker­fa­mi­lie hin­ein­ge­bo­re­nen Künst­lers. In 17 sorg­fäl­tig re­cher­chier­ten und auf­schluss­rei­chen Ka­pi­teln zeich­net er nicht ohne Be­wun­de­rung, doch aus re­spekt­vol­ler Di­stanz den Le­bens­weg des fas­zi­nie­ren­den, von sei­nem Pu­bli­kum hoch­ver­ehr­ten Mu­si­kers. Par­al­lel dazu ent­steht ein prä­zi­ses Cha­rak­ter­bild der in­tro­ver­tier­ten, aber gros­se Be­harr­lich­keit und Durch­set­zungs­ver­mö­gen ent­wi­ckeln­den Per­sön­lich­keit Ab­ba­dos, das von ei­nem Über­blick über des­sen um­fang­rei­che Schall­plat­ten­pro­duk­ti­on ab­ge­run­det wird.

Auf Furtwänglers Spuren

Abbado nach der Aufführung von Brahms' Requiem im Wiener Musikverein am 3. April 1997
Ab­ba­do nach der Auf­füh­rung von Brahms’ Re­qui­em im Saal des Wie­ner Mu­sik­ver­eins am 3. April 1997

Trotz der vie­len Fa­cet­ten des in­tel­lek­tu­el­len Kos­mos’ Ab­ba­dos fin­det sich die Lie­be zur Mu­sik, mit der der jun­ge Mai­län­der schon früh als Kind in Be­rüh­rung kam, als ro­ter Leit­fa­den in all sei­nem Den­ken, Füh­len und Han­deln. So wird sich der spä­ter mäch­ti­ge, die kul­tu­rel­len Zen­tren Mai­land, Lon­don, Chi­ca­go, Wien und Ber­lin be­herr­schen­de Ma­es­tro im­mer als Die­ner der Mu­sik ver­ste­hen, auch weil er es stets eben­so ver­steht sich zu­rück­zu­zie­hen, sich die Ruhe und Stil­le künst­le­ri­scher In­spi­ra­ti­on (Sar­di­ni­en, En­ga­din) und da­mit die Neu­gier auf im­mer wie­der Neu­es zu bewahren.

Da­mit ein­her geht die Lie­be zur Welt­li­te­ra­tur, die ihn zeit­le­bens zu ei­nem um­fas­send ge­bil­de­ten und künst­le­risch in­ter­dis­zi­pli­när den­ken­den Men­schen macht, dem es nie­mals um Macht­wil­len, per­sön­li­che Ei­tel­keit oder Gel­tungs­be­wusst­sein geht, son­dern nur um die Mu­sik und die (vor al­lem jun­gen) Men­schen, mit de­nen er sie in ei­nem ge­mein­schaft­li­chen Akt zum Le­ben er­weckt. So kann es nicht ver­wun­dern, dass nicht sein be­rühm­ter Lands­mann Ar­turo Tos­ca­ni­ni, son­dern der gros­se Wil­helm Furtwäng­ler zu Ab­ba­dos Vor­bild er­wuchs. Man er­in­nert sich viel­leicht dar­an, wie Ab­ba­do im Um­feld der Auf­nah­men sei­nes ers­ten Beet­ho­ven-Zy­klus’ in Wien mit den Phil­har­mo­ni­kern strah­lend be­kann­te, dass sie die Auf­nah­men Furtwäng­lers im Mu­sik­ver­eins­saal ge­hört hät­ten, die nun wirk­lich „sehr, sehr schön“ ge­we­sen seien.

Der Gipfel: Berlin (1989 – 2002)

FAZIT: Die Ab­ba­do-Bio­gra­phie “Der stil­le Re­vo­lu­tio­när” von Wolf­gang Schrei­ber ist, auch wenn sie viel­leicht nicht viel Neu­es oder gar Sen­sa­tio­nel­les bie­tet, in höchs­tem Mas­se ver­dienst­voll und un­ent­behr­lich, da­her un­be­dingt le­sens­wert für alle, wel­che die klas­si­sche Mu­sik lie­ben. Wenn Schrei­bers Pro­jekt, den be­ein­dru­cken­den Le­bens­weg des Aus­nah­me­künst­lers und -men­schen zu be­schrei­ben, als rund­um ge­lun­gen zu be­zeich­nen ist, dann nicht zu­letzt auch des­halb, weil es – dar­in ganz dem Vor­bild Ab­ba­dos fol­gend – sich dar­auf be­schränkt, eine An­nä­he­rung an den Kos­mos und die Viel­sei­tig­keit ei­ner gros­sen Per­sön­lich­keit zu leisten.

Mit die­sem Hin­ter­grund ver­folgt Wolf­gang Schrei­ber, von 1978 bis 2002 Mu­sik­re­dak­teur im Feuil­le­ton der Süd­deut­schen Zei­tung, die ver­schie­de­nen Sta­tio­nen Ab­ba­dos von des­sen ita­lie­ni­schen Wur­zeln über die Me­tro­po­len Mai­land, Lon­don und Chi­ca­go über Wien nach Ber­lin. Das Ber­li­ner Ka­pi­tel, das mit der Zeit des Mau­er­falls be­ginnt, ist si­cher­lich das auf­re­gends­te, auch kon­tro­ver­ses­te Ka­pi­tel in Ab­ba­dos Kar­rie­re, weil es ne­ben der span­nen­den po­li­ti­schen Si­tua­ti­on si­cher auch den Schei­tel­punkt dar­stellt, nicht zu­letzt we­gen Ab­ba­dos be­gin­nen­der schwe­rer Er­kran­kung, auf Grund de­rer er es von da an vor­zieht, mit aus­ge­wähl­ten, be­freun­de­ten Mu­si­kern sei­nes Ver­trau­ens und selbst ge­grün­de­ten Or­ches­tern (Lu­zer­ner Fes­ti­val­or­ches­ter, Or­ches­tra Mo­zart) ei­ge­ne Pro­jek­te zu verfolgen.

Wolf­gang Schrei­bers Ab­ba­do-Bio­gra­phie ist, auch wenn sie viel­leicht nicht viel Neu­es oder gar Sen­sa­tio­nel­les bie­tet, in höchs­tem Mas­se ver­dienst­voll und un­ent­behr­lich, da­her un­be­dingt le­sens­wert für alle, wel­che die klas­si­sche Mu­sik lieben.

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Wenn Schrei­bers Pro­jekt, den be­ein­dru­cken­den Le­bens­weg des Aus­nah­me­künst­lers und -men­schen zu be­schrei­ben, als rund­um ge­lun­gen zu be­zeich­nen ist, dann nicht zu­letzt auch des­halb, weil es, dar­in ganz dem Vor­bild Ab­ba­dos fol­gend, sich dar­auf be­schränkt, eine An­nä­he­rung an den Kos­mos und die Viel­sei­tig­keit ei­ner gros­sen Per­sön­lich­keit zu leis­ten; das letz­te Ge­heim­nis bleibt – wie das Ende ei­nes gross­ar­ti­gen Kon­zer­tes – in der dem gros­sen Di­ri­gen­ten an­ge­mes­sen mul­ti­per­spek­ti­vi­schen Of­fen­heit. Denn der Bio­graph schlägt das Ka­pi­tel Ab­ba­do am Ende nicht zu, son­dern auf, als wol­le er das Ende der gol­de­nen Zeit nicht wahrhaben… ♦

Wolf­gang Schrei­ber: Clau­dio Ab­ba­do – Der stil­le Re­vo­lu­tio­när, Eine Bio­gra­phie, C.H. Beck Ver­lag, 320 Sei­ten, ISBN 978-3-406-71311-8

Le­sen Sie im Glarean Ma­ga­zin zum The­ma Mu­si­ker-Bio­gra­phien auch über Mi­cha­el Hof­meis­ter: Alex­an­der Ritter

… so­wie über Joa­chim Cam­pe: Ros­si­ni – Die hel­len und die dunk­len Jahre

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