Musik-Psychologie: Das Mikrotiming im Rhythmus

Was bringt den Jazz wirklich zum Swingen?

von Walter Eigenmann

Dem Phä­no­men des Swing wid­me­ten Duke Elling­ton und Irving Mills bereits 1931 einen spe­zi­el­len Song, des­sen erste Lied­zeile bezeich­nen­der­weise lau­tete: “It Don’t Mean a Thing, If It Ain’t Got That Swing”. Doch bis heute ist die Frage, was genau eine Jazz-Per­for­mance zum Swin­gen bringt, nicht wirk­lich geklärt. Ein Team des Göt­tin­ger Max-Planck-Insti­tu­tes hat nun mit einer empi­ri­schen Stu­die die Rolle des sog. Mikrot­iming im “Swing-Fee­ling” bei 160 Profi- und Ama­teur­mu­si­kern untersucht.

Das Thema Mikrot­iming in Jazz-/Pop-/Rock-Rhyth­men wurde bis­lang unter Musik­wis­sen­schaft­lern kon­tro­vers dis­ku­tiert. Als Mikrot­iming-Abwei­chun­gen wer­den die win­zi­gen Abwei­chun­gen von einem bestimm­ten Rhyth­mus bezeich­net. Zum Ver­ständ­nis: Jazz-, Rock- und Pop­mu­sik kön­nen den Zuhö­rer buch­stäb­lich mit­reis­sen, indem sie ihn dazu brin­gen, unwill­kür­lich mit den Füs­sen zu klop­fen oder den Kopf im Takt des Rhyth­mus zu bewe­gen. Zusätz­lich zu die­sem Phä­no­men, das als “Groove” bekannt ist, ver­wen­den Jazz­mu­si­ker den Begriff Swing seit den 1930er Jah­ren nicht nur als Musik-Stil, son­dern auch als rhyth­mi­sches Phänomen.

Was ist Swing?

Musik-Swing-Rhythmus - Ternäre und Binäre Achtelnoten - Glarean Magazin
Der erste Swing-Ton wird etwas län­ger gehal­ten (Ter­nä­rer Rhythmus)

Bis heute fällt es den Musi­kern jedoch schwer zu ver­ba­li­sie­ren, was Swing eigent­lich ist. Bill Tre­ad­well bei­spiels­weise schrieb in der Ein­lei­tung zu sei­nem “What is Swing?”: “Man kann es füh­len, aber man kann es nicht erklä­ren”. Musi­ker und viele Musik­fans haben also durch­aus ein intui­ti­ves Gespür dafür, was Swing bedeu­tet. Doch bis­her haben Musik­wis­sen­schaft­ler vor allem nur eines sei­ner (ziem­lich offen­sicht­li­chen) Merk­male ein­deu­tig cha­rak­te­ri­siert: Auf­ein­an­der­fol­gende Ach­tel­no­ten wer­den nicht ein­fach gleich lange gespielt, son­dern die erste Note (der sog. “Swing-Ton”) ist etwas län­ger gehal­ten als die zweite. Das “Swing-Ver­hält­nis”, d.h. das Ver­hält­nis der Dauer die­ser bei­den Töne liegt häu­fig nahe bei 2:1, und es hat sich her­aus­ge­stellt, dass es bei höhe­ren Tempi eher kür­zer und bei nied­ri­ge­ren Tempi eher län­ger wird.

Mal genau nach Takt, mal ganz “entspannt”

Musikwissenschaft - Theo Geisel - Referat Rhythmus und Algorithmus - Glarean Magazin
Dr. Theo Gei­sel bei einem musik­wis­sen­schaft­li­chen Refe­rat über Rhyth­mus und Algo­rith­mus in Göttingen

Musi­ker und Musik­wis­sen­schaft­ler dis­ku­tier­ten schon immer auch die rhyth­mi­sche Schwan­kung als eines der beson­de­ren Merk­male des Swing. So spie­len Solis­ten bei­spiels­weise gele­gent­lich für kurze Zeit­räume deut­lich nach dem Takt, oder sie spie­len “ent­spannt”, um den Fach­jar­gon zu ver­wen­den. Aber ist dies für das Swing-Gefühl not­wen­dig, und wel­che Rolle spie­len viel klei­nere Zeit­schwan­kun­gen, die sich der bewuss­ten Auf­merk­sam­keit selbst erfah­re­ner Zuhö­rer entziehen?
Einige Musik­wis­sen­schaft­ler sind seit lan­gem der Mei­nung, dass es nur sol­chen Mikrot­iming-Abwei­chun­gen (zum Bei­spiel zwi­schen ver­schie­de­nen Instru­men­ten) zu ver­dan­ken ist, dass der Jazz “swingt”. For­scher des Max-Planck-Insti­tuts für Dyna­mik und Selbst­or­ga­ni­sa­tion und der Uni­ver­si­tät Göt­tin­gen rund um Theo Gei­sel kamen kürz­lich auf­grund ihrer empi­ri­schen Stu­die zu einem ande­ren Ergeb­nis. Sie ver­mu­ten, dass Jazz­mu­si­ker den Swing etwas mehr spü­ren, wenn das Swing-Ver­hält­nis wäh­rend einer Auf­füh­rung mög­lichst wenig schwankt.

Dem Swing-Geheimnis auf der Spur

Die Unzu­frie­den­heit mit der Tat­sa­che, dass das Wesen des Swing ein Geheim­nis bleibt, war die Moti­va­tion der For­scher unter der Lei­tung von Theo Gei­sel, eme­ri­tier­ter Direk­tor des Max-Planck-Insti­tuts für Dyna­mik und Selbst­or­ga­ni­sa­tion, die Stu­die durch­zu­füh­ren: “Wenn Jazz­mu­si­ker es spü­ren, aber nicht genau erklä­ren kön­nen”, sagt Gei­sel, der sel­ber Jazz-Saxo­pho­nist ist, “dann soll­ten wir die Rolle der Mikro-Timing-Abwei­chun­gen ope­ra­tiv cha­rak­te­ri­sie­ren kön­nen, indem wir erfah­rene Jazz­mu­si­ker Auf­nah­men mit den ori­gi­na­len und sys­te­ma­tisch mani­pu­lier­ten Timings aus­wer­ten lassen”.

Auswertung verschiedener Timing-Manipulationen

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Dem­entspre­chend nahm das Team zwölf Stü­cke auf, die über vor­ge­ne­rierte prä­zise Bass- und Trom­mel­rhyth­men von einem pro­fes­sio­nel­len Jazz-Pia­nis­ten gespielt wur­den, wobei das Timing auf drei ver­schie­dene Arten manu­pu­liert wurde. Zum Bei­spiel eli­mi­nier­ten sie alle Mikro-Timing-Abwei­chun­gen des Pia­nis­ten wäh­rend des gesam­ten Stücks, d.h. sie “quan­ti­sier­ten” seine Dar­bie­tung. Wei­ters wurde die Dauer der Mikrot­iming-Abwei­chun­gen ver­dop­pelt, und bei der drit­ten Mani­pu­la­tion kehr­ten sie diese um.
Wenn der Pia­nist also einen Swing-Ton 3 Mil­li­se­kun­den vor dem durch­schnitt­li­chen Swing-Ton für die­ses Stück in der Ori­gi­nal­ver­sion spielte, ver­scho­ben die For­scher den Ton um den glei­chen Betrag, d.h. 3 Mil­li­se­kun­den hin­ter dem durch­schnitt­li­chen Swing-Ton, in der umge­kehr­ten Version.
Anschlies­send bewer­te­ten 160 Berufs- und Lai­en­mu­si­ker in einer Online-Umfrage, inwie­weit die mani­pu­lier­ten Stü­cke natür­lich oder feh­ler­haft klan­gen, und ins­be­son­dere hat­ten sie den Grad des Swing in den ver­schie­de­nen Ver­sio­nen einzustufen.

Swing-Coolness bei den Profis

Wir waren über­rascht”, sagt Theo Gei­sel über das Ergeb­nis die­ser Unter­su­chung, “denn im Durch­schnitt bewer­te­ten die Teil­neh­mer an der Online-Umfrage die quan­ti­sier­ten Ver­sio­nen, d.h. die­je­ni­gen ohne Mikrot­iming-Abwei­chun­gen, als etwas schwung­vol­ler als die Ori­gi­nale. Mikrot­iming-Abwei­chun­gen sind also kein not­wen­di­ger Bestand­teil des Swin­gings”, so Theo Geisel.

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Stü­cke mit ver­dop­pel­ten Mikrot­iming-Abwei­chun­gen wur­den von den Befra­gungs­teil­neh­mern als am wenigs­ten schwung­voll bewer­tet. “Ent­ge­gen unse­rer ursprüng­li­chen Erwar­tung hatte die Umkeh­rung der zeit­li­chen Mikrot­iming-Abwei­chun­gen nur bei zwei Stü­cken einen nega­ti­ven Ein­fluss auf die Bewer­tun­gen”, sagt York Hag­mayer, Psy­cho­loge an der Uni­ver­si­tät Göt­tin­gen. Die Wir­kungs­stärke des Swin­gens, die jeder Teil­neh­mer den Stü­cken zuschrieb, hing auch von dem indi­vi­du­el­len musi­ka­li­schen Hin­ter­grund der Teil­neh­mer ab. Unab­hän­gig von Stück und Ver­sion gaben pro­fes­sio­nelle Jazz­mu­si­ker im All­ge­mei­nen etwas nied­ri­gere Swing-Bewer­tun­gen ab als die Amateure.

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Am Ende der Stu­die frag­ten die For­scher die Teil­neh­mer nach ihrer Mei­nung dar­über, was ein Musik­stück aus­ser­dem zum Swin­gen bringt. Die Befrag­ten nann­ten wei­tere Fak­to­ren wie dyna­mi­sche Inter­ak­tio­nen zwi­schen den Musi­kern, Akzen­tu­ie­rung und das Zusam­men­spiel von Rhyth­mus und Melo­die. “Es wurde deut­lich, dass zwar der Rhyth­mus eine grosse Rolle spielt, aber auch andere Fak­to­ren, die in der wei­te­ren For­schung unter­sucht wer­den soll­ten, wich­tig sind”, sagt Annika Zier­eis, die zusam­men mit George Datse­ris Autorin der betref­fen­den Publi­ka­tion der Stu­die ist. ♦

Lesen Sie im Glarean Maga­zin zum Thema Jazz-Musik auch über Jean Kleeb: Clas­sic goes Jazz

… sowie zum Thema Rhyth­mus und Bewe­gung: Die audi­tiv-moto­ri­sche Syn­chro­ni­sa­tion – Über die Fähig­keit des Takthaltens

Ein Kommentar

  1. Vor über 30 Jah­ren ver­wen­dete ich ein Com­pu­ter­pro­gramm namens “Nota­tor” von C-Lab, wel­ches auf dem Moni­tor simul­tan Noten mit­schrei­ben konnte, wenn auf einer MIDI-fähi­gen Tas­ta­tur gespielt wurde. Man konnte umge­kehrt auch Noten in den PC ein­ge­ben und sie vom Key­board abspie­len las­sen. Wor­auf ich hin­aus will ist, dass es schon damals eine Funk­tion “Huma­ni­zing” gab, bei der die exakte Takt­ge­bung durch dosier­bare Unge­nau­ig­kei­ten auf­ge­ho­ben wer­den konnte. Das war gewis­ser­mas­sen eine Ver­mensch­li­chung der machi­nel­len Exakt­heit. Natür­lich ergab das noch kei­nen Swing, aber irgend­wie klan­gen “huma­ni­sierte” Stü­cke natürlicher.

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