Lothar Becker: Der grüne Pullunder (Satire)

Der grüne Pullunder
oder
Wie mir meine Hemmungen einmal das Leben retteten

Lo­thar Becker

Bis zu dem Tag, an dem ich her­aus­ge­fun­den habe, dass ich Hem­mun­gen habe, dach­te ich doch tat­säch­lich, ich hät­te kei­ne Hem­mun­gen. So ei­gen­ar­tig es sich auch an­hört, ich habe mein äus­serst selt­sa­mes Ver­hal­ten über Jah­re hin­weg für völ­lig nor­mal ge­hal­ten. Ich wun­der­te mich nur, dass ich, wenn ich als Jun­ge sonn­abends zum Bä­cker ge­schickt wur­de, es nie fer­tig brach­te, der Ver­käu­fe­rin in die Au­gen zu se­hen und die mir auf­ge­tra­ge­ne An­zahl an Bröt­chen zu ver­lan­gen. Ich konn­te mir nicht er­klä­ren, wie­so, aber es war eine Tor­tur. Ich be­trat das Ge­schäft, und wuss­te, dass es mir un­ter gar kei­nen Um­stän­den mög­lich sein wür­de, in Ge­gen­wart die­ser jun­gen Dame so et­was Gro­bes und Ge­fühl­lo­ses wie “Bröt­chen” zu sa­gen. Ich schwitz­te, tor­kel­te durch den La­den und hat­te den Ver­dacht, mein Kopf wür­de je­den Mo­ment plat­zen. So­bald ich an der Rei­he war, starr­te ich wie ein Geis­tes­kran­ker an die Zim­mer­de­cke, und kauf­te ir­gend­et­was an­de­res, Schmalz­krin­gel oder Streu­sel­schne­cken, oder ich ging gleich in den Fahr­rad­la­den ne­ben­an und hol­te eine Luftpumpe.
Dar­über sind mei­ne El­tern tief be­sorgt ge­we­sen und ha­ben im­mer wie­der für mich ex­trem schmerz­haf­te Äus­se­run­gen wie “Mit dem Jun­gen ist doch was!” oder “Von mir hat er das aber nicht” ge­macht. Na­tür­lich habe auch ich ge­ahnt, dass mit mir ir­gend et­was nicht stimm­te, aber mir war nicht klar, dass es Hem­mun­gen wa­ren. Ich dach­te eher an Blöd­heit oder so etwas.
Aber dann schick­ten mich mei­ne El­tern zu ei­nem Psy­cho­lo­gen. Ver­mut­lich, weil ich ih­nen un­heim­lich wur­de, oder weil sie es satt hat­ten, dass ich ih­nen zum Früh­stück eine Luft­pum­pe auf den Tel­ler legte.

Der Psy­cho­lo­ge war ein sehr ein­fühl­sa­mer Mensch. Er sass auf ei­nem Dreh­stuhl, hat­te die Bei­ne über­ein­an­der ge­schla­gen und zupf­te an der Bü­gel­fal­te sei­nes lin­ken Ho­sen­bei­nes herum.
“Und?”, frag­te er, “was fehlt dir denn?”
Ich zuck­te mit den Schultern.
“Na, aber”, der Psy­cho­lo­ge setz­te ruck­ar­tig bei­de Füs­se auf den Fuss­bo­den, da­mit er sei­ne Hän­de auf sei­ne Ober­schen­kel stüt­zen und sei­nen Kopf weit vor­stre­cken konn­te, “mir kannst du es doch sagen!”
Ich schüt­tel­te den Kopf.
“Nun komm schon! Wie soll ich dir denn hel­fen, wenn du nicht mit mir redest?”
Um mei­ne Hilf­lo­sig­keit zu ver­deut­li­chen, zuck­te ich noch ein­mal mit den Schul­tern und ver­dreh­te da­bei die Au­gen. Der Psy­cho­lo­ge kroch noch ein Stück nä­her an mich her­an. So nah, dass er zu schie­len be­gann, wenn er mich ansah.
“Was ist ei­gent­lich dein Problem?”
“Ich weiss nicht. Dass ich so bin wie ich bin.”
Der Psy­cho­lo­ge nick­te verständnisvoll.
“Dass du so bist wie du bist. Soso, aber was stört dich denn an dir?”
Ich ver­such­te sei­nem Ge­sicht auszuweichen.
“Das kann ich Ih­nen nicht sagen.”
Das Ge­sicht des Psy­cho­lo­gen folg­te mir unerbittlich.
“Oh doch, das kannst du!”
“Nein!”
“Aber war­um denn nicht?”
Ich hielt mir die Oh­ren zu, und schrie so laut ich konnte:
“Weil ich mir fast in die Hose ma­che, wenn ich dar­an den­ke, dass ich mit ih­nen dar­über spre­chen soll!”
Dies­mal wich der Psy­cho­lo­ge ein we­nig zurück:
“Na, jetzt kom­men wir der Sa­che schon nä­her! Du möch­test dar­über spre­chen, aber du kannst es nicht, stimmt’s?”
Ich konn­te nicht mehr an mich hal­ten, und schlug mit bei­den Fäus­ten auf die Tischplatte.
“Na, das sage ich doch die gan­ze Zeit!”
Der Psy­cho­lo­ge lehn­te sich zu­rück und be­ob­ach­te­te mich wie eine Laborratte.
“Aber war­um kannst du denn nicht dar­über spre­chen?”, frag­te er, und liess sei­ne Bril­le ein paar Zen­ti­me­ter auf sei­ner Nase her­un­ter rutschen.
“Es geht nicht”, sag­te ich, und sah an ihm vor­bei aus dem Fens­ter. Draus­sen trai­nier­te ein Vo­gel Kamikaze.
“War­um geht es nicht?” Der Psy­cho­lo­ge stand auf und stell­te sich vor das Fens­ter, und ich muss­te den Kopf sehr schief hal­ten, um den Vo­gel noch se­hen zu können.
“Wenn ich das wüss­te! Wis­sen sie was? Ich habe das Ge­fühl, mir platzt der Kopf.”
Der Psy­cho­lo­ge nahm ei­nen Ap­fel aus ei­ner Scha­le und liess ihn von ei­ner Hand in die an­de­re rollen.
“Weisst du, was ich den­ke?”, frag­te er.
“Nein”, ant­wor­te­te ich wahrheitsgemäss.
“Du hast Hem­mun­gen”, sag­te er.
“Hem­mun­gen?”
“Ja”, sag­te er.
Seit die­sem Tag war mir der Name mei­nes Lei­dens bekannt.
Da­durch, dass ich nun wuss­te, was es war, wur­de es aber auch nicht besser.

Mei­ne Hem­mun­gen er­streck­ten sich auf alle er­denk­li­chen Be­rei­che. In der Schu­le hin­der­ten mich mei­ne Hem­mun­gen mas­siv am Wei­ter­kom­men. Weil ich Hem­mun­gen hat­te, die rich­ti­gen Er­geb­nis­se auf­zu­schrei­ben, gab ich bei Klas­sen­ar­bei­ten aus­schliess­lich lee­re Blät­ter ab. Ganz schlimm war der Mu­sik­un­ter­richt. Na­tür­lich war ich viel zu ge­hemmt, um zu sin­gen. Ich war der fes­ten An­sicht, dass, so­bald ich den Mund öff­nen wür­de, das Welt­ge­fü­ge zu­sam­men­brä­che. Ich stand vor der Klas­se, der Bo­den schwank­te un­ter mei­nen Füs­sen, mei­ne Hän­de tas­te­ten in der Luft nach ei­nem Halt, mein Mund öff­ne­te und schloss sich völ­lig ge­räusch­los. Nach drei Mi­nu­ten tau­mel­te ich zu­rück in mei­nen Stuhl.
“Was war denn das?”, frag­te mei­ne Musiklehrerin.
“Ein Lied”, sag­te ich.
“Nein, eine sechs”, sag­te mei­ne Musiklehrerin.
“In­ter­es­sant”, sag­te ich.
Mei­ne durch­wegs auf die­se mich stark be­hin­dern­den Hem­mun­gen zu­rück­zu­füh­ren­den schlech­ten Leis­tun­gen san­ken auf ein der­ar­tig nie­de­res Ni­veau, dass mein Klas­sen­leh­rer, Herr Hart­leibl, be­haup­te­te, ich hät­te sei­nen Vor­rat an schlech­ten Zen­su­ren auf­ge­braucht. Et­was Düm­me­res als mich müss­te man mit der Lupe su­chen. Weil ich zu ge­hemmt war, zu wi­der­spre­chen, gab ich ihm recht.
Ich er­in­ne­re mich vol­ler Ekel an die furcht­ba­ren Zei­ten der Tanz­stun­de. Viel zu ge­hemmt, um ein Mäd­chen an­zu­spre­chen, tanz­te ich aus­schliess­lich mit Jun­gen. So­gar zum Ab­schluss­ball. Im­mer, wenn Hei­ner und ich über das Par­kett rausch­ten, bil­de­te sich ein Spa­lier und oh­ren­be­täu­ben­der Bei­fall bran­de­te auf. Ich kann nicht be­haup­ten, dass mein Ruf da­von auf ir­gend­ei­ne Wei­se pro­fi­tiert hät­te. Man hat es wirk­lich nicht leicht auf die­ser Welt, wenn man Hem­mun­gen hat, wirk­lich nicht.

Ein­mal aber ha­ben mir mei­ne Hem­mun­gen so­gar das Le­ben ge­ret­tet. Man soll­te es nicht glau­ben, doch es ist die Wahr­heit, ohne mei­ne Hem­mun­gen stän­de ich jetzt viel­leicht nicht hier. Es fing ja völ­lig harm­los an. Mit ei­nem Pul­lun­der. Mit ei­nem neu­en, ex­trem grob­ma­schig ge­strick­ten, wi­der­lich häss­li­chen, grü­nen Pul­lun­der. Er lag auf mei­nem Bett und da­ne­ben stand mei­ne Mutter.
“Zie­he ihn an!”, sag­te mei­ne Mutter.
Ich schüt­tel­te den Kopf.
“Nein”, sag­te ich.
“Aber war­um denn?”, frag­te mei­ne Mutter.
“Weil er häss­lich ist”, sag­te ich.
“Über­haupt nicht!”, mei­ne Mut­ter strich mit ih­rem Hand­rü­cken über das grü­ne, Fus­se­li­ge Teil, “Pul­lun­der sind jetzt der letz­te Schrei!”
Ich sah sie voll­kom­men ver­ständ­nis­los an.
“Was? Das ist doch nicht dein Ernst! Mit dem Ding ma­che ich mich to­tal lächerlich!”
“Un­fug!”, sag­te mei­ne Mut­ter, ” na los, pro­bie­re ihn we­nigs­tens mal an!”
Ohne eine Ant­wort ab­zu­war­ten, stülp­te sie mir mit nicht zu über­bie­ten­der Ge­schwin­dig­keit den Pul­lun­der über den Kopf. Dann schubs­te sie mich vor den Spiegel.
“Na, was sagst du nun?”
Ich muss­te mehr­mals schlu­cken, be­vor ich ant­wor­ten konnte.
“Ich sehe aus wie ein Frosch!”
“Na, jetzt über­treibst du aber!”
Mei­ne Mut­ter be­gann, hin­ter mir am Saum des Pul­lun­ders her­um zu zupfen.
“Ich gehe so nicht raus”, sag­te ich.
“Das wer­den wir ja se­hen!”, sag­te mei­ne Mut­ter um ei­ni­ges lau­ter als nö­tig. Ihr Ver­hal­ten blieb nicht ohne Fol­gen. Noch wäh­rend ich sie durch eine Viel­zahl fan­ta­sie­vol­ler Ges­ten zu ei­ner Dämp­fung ih­rer Stim­me ani­mie­ren woll­te, kam plötz­lich mein Va­ter her­ein. Sein Kopf war hoch­rot. Of­fen­sicht­lich schie­nen wir ihn bei ei­ner sei­ner Lieb­lings­be­schäf­ti­gun­gen wie auf dem Sofa lie­gen oder aus dem Fens­ter se­hen ge­stört zu haben.
“Was ist denn hier schon wie­der los?”
Mei­ne Mut­ter er­öff­ne­te ihm, dass ich den neu­en Pul­lun­der nicht tra­gen wollte.
Mei­nem Va­ter war die Ver­ständ­nis­lo­sig­keit ins Ge­sicht geschrieben.
“Was? Den neu­en Pul­lun­der! Das gibt´s doch gar nicht! Ich will dir mal was sa­gen, Jun­ge. Wir ar­bei­ten Tag und Nacht, um dir je­den er­denk­li­chen Lu­xus zu bie­ten. Um dich zu er­näh­ren, um dich zu klei­den, um dir al­les kau­fen zu kön­nen, was du brauchst. Da­mit du ge­nau so chic wie die an­de­ren aus­siehst, und du? Wie dankst du es uns?”
Er sag­te tat­säch­lich “chic”! Du lie­ber Him­mel! Da hät­te er ja gleich “duf­te” sa­gen können.
Mein Va­ter stütz­te sei­ne Hän­de in die Hüf­ten und be­trach­te­te mich verständnislos.
“Was hast du denn an dem Pul­lun­der auszusetzen?”
“Er ent­stellt mich”, sag­te ich.
“Ich fas­se es nicht!”, brüll­te mein Vater.
“Viel­leicht ist es we­gen sei­ner Hem­mun­gen”, sag­te mei­ne Mutter.
“Das ist mir egal!”, die Stim­me mei­nes Va­ters über­schlug sich, “der Pul­lun­der wird nicht wie­der ausgezogen!”
“Aber Gün­ther!”, sag­te mei­ne Mut­ter. Mein Va­ter hiess Günther.
“Nichts da mit Gün­ther!”, mein Va­ter ge­noss es, end­lich wie­der ein­mal au­to­ri­tär sein zu dür­fen, “wir neh­men schon ge­nug Rück­sicht! Aber al­les hat sei­ne Gren­zen! Ir­gend­wann reisst auch mir der Ge­dulds­fa­den! So, und jetzt höre mir mal ge­nau zu: Wenn ich dich in den nächs­ten Ta­gen ohne Pul­lun­der er­wi­sche, setzt es eine Tracht Prü­gel! Da­mit das klar ist! Und nun ab, Bröt­chen holen!”
Ich warf mei­ner Mut­ter ei­nen fle­hent­li­chen Blick zu. Als Ant­wort ver­dreh­te sie ihre Au­gen, was so­viel be­deu­te­te wie: Du weisst doch, wie dein Va­ter ist, wenn er sich aufregt.

Da nahm ich den Ein­kaufs­beu­tel und lief los. Kaum, dass ich das Haus ver­las­sen hat­te, über­fie­len mich die stärks­ten Hem­mun­gen, mei­ne durch den grü­nen Pul­lun­der der Lä­cher­lich­keit preis­ge­ge­be­ne Ge­stalt den Bli­cken an­de­rer Men­schen aus­zu­set­zen. Am liebs­ten wäre ich die Trep­pe rück­wärts wie­der nach oben ge­gan­gen. Aber dar­an war na­tür­lich nicht zu den­ken. Ein­fach wei­ter in Rich­tung Bä­cke­rei zu lau­fen, er­schien mir al­ler­dings ge­nau so un­mög­lich. Was um al­les in der Welt soll­te ich bloss tun? Ich konn­te we­der vor noch zu­rück. Wäh­rend ich auf dem Bord­stein von ei­nem Bein auf das an­de­re trat, be­griff ich, dass ich mich in eine durch und durch aus­weg­lo­se Si­tua­ti­on hin­ein ma­nö­vriert hat­te. Ich war zu ei­nem Ge­fan­ge­nen mei­ner Hem­mun­gen ge­wor­den, zu ei­ner Ma­rio­net­te mei­ner ver­korks­ten Emo­tio­nen. Mein Ge­müt be­gann sich zu ver­dun­keln. ´Ich hal­te das nicht mehr aus`, dach­te ich, ´kein Mensch hält es aus, ein Freak wie ich zu sein, ein Freak in ei­nem grünenPullunder !`

Und dann pas­sier­te es. Ir­gend­et­was in mei­nem Ge­hirn schal­te­te sich um, ich ver­lor je­des In­ter­es­se an mei­ner Per­son und fass­te den Ent­schluss, mei­nem Da­sein mit ei­ner Über­do­sis Schlaf­ta­blet­ten ein ra­sches Ende zu be­rei­ten. Na­tür­lich mit Schlaf­ta­blet­ten. Es mit Schlaf­ta­blet­ten zu tun hielt ich für die ein­zi­ge mir zu­mut­ba­re Me­tho­de, mein Vor­ha­ben in die Tat um­zu­set­zen. Men­schen mit Hem­mun­gen neh­men für so et­was Schlaf­ta­blet­ten, dach­te ich, und rann­te, ohne nach links und rechts zu se­hen, zur nächs­ten Apo­the­ke, riss de­ren Tür auf und ging hin­ein. Das ers­te, was ich nach mei­nem Ein­tre­ten sah, war die Apo­the­ke­rin. Eine Apo­the­ke­rin mit den äus­ser­li­chen At­tri­bu­ten ei­nes Film­stars. Manch­mal schüt­tel­te sie ih­ren Kopf. Dann weh­te ihr Haar in ei­ner Art Zeit­lu­pe. Es war un­glaub­lich. Na­tür­lich be­griff ich so­fort, dass ich in ih­rer Ge­gen­wart kei­nes­falls so et­was An­züg­li­ches, Zwei­deu­ti­ges, Miss­ver­ständ­li­ches wie “Schlaf­ta­blet­ten” sa­gen konn­te. Es ging nicht. Ich schwitz­te, ver­moch­te mich kaum auf den Bei­nen zu hal­ten, mein Kopf fühl­te sich an wie ein auf­ge­bläh­ter Heiss­luft­bal­lon. Als ich an der Rei­he war, starr­te ich wie ein Geis­tes­kran­ker an die De­cke und sagte:
“Schl…”
Wei­ter kam ich nicht.
“Schl..?”, frag­te die Apothekerin.
Ich nickte.
“Was meinst du mit Schl…?”, frag­te sie.
“Na eben Schl….”, sag­te ich, stürm­te zur Tür hin­aus und ging in den Fahr­rad­la­den ne­ben­an, um eine Luft­pum­pe zu kaufen.

Na­tür­lich hat sich die­se An­schaf­fung für mein Vor­ha­ben in kei­ner Wei­se als nütz­lich er­wie­sen. Des­we­gen bin ich ja auch noch am Le­ben. Spä­ter habe ich oft über die­sen denk­wür­di­gen Tag nach­ge­dacht und bin zu der be­mer­kens­wer­ten Er­kennt­nis ge­langt, dass Hem­mun­gen ver­mut­lich die ein­zi­gen Ge­fühls­re­gun­gen sind, die den Ent­schluss, frei­wil­lig aus dem Le­ben zu ge­hen, zu­erst ver­an­las­sen und dann doch wie­der ver­hin­dern. Ist das nicht seltsam?
Mitt­ler­wei­le be­su­che ich eine Selbst­hil­fe­grup­pe, die an­ony­men Ge­hemm­ten. Ich kann nicht be­haup­ten, dass es mir dort über­mäs­sig ge­fal­len wür­de. Wir be­kom­men Lo­cke­rungs­übun­gen ge­zeigt, und ver­su­chen, mit Rol­len­spie­len schwie­ri­ge Si­tua­tio­nen zu be­wäl­ti­gen. Manch­mal wer­den wir auch zu ex­trem pein­li­chen Hand­lun­gen ge­zwun­gen. Wir müs­sen dann Strick­müt­zen tra­gen oder wild­frem­de Per­so­nen nach dem Weg fra­gen, was häu­fig die Gren­zen des Er­träg­li­chen sprengt.
Be­dau­er­li­cher­wei­se ha­ben sich trotz mei­ner re­gel­mäs­si­gen Teil­nah­me bis zum heu­ti­gen Tag noch kei­ne An­zei­chen ei­ner ra­schen Ge­ne­sung ein­ge­stellt. Das mag zu ei­nem nicht zu un­ter­schät­zen­den Teil dar­an lie­gen, dass sämt­li­che der Grup­pe zu­ge­hö­ri­gen Be­trof­fe­nen gros­se Hem­mun­gen ha­ben, über ihre Hem­mun­gen zu spre­chen. Aber ei­ni­ge klei­ne Er­fol­ge zei­gen sich all­mäh­lich doch. So habe ich zum Bei­spiel kei­ne Hem­mun­gen mehr, Geld zu neh­men, und ein­mal ab­ge­se­hen von die­sen sub­ti­len Licht­bli­cken, konn­te ich et­was sehr Wich­ti­ges ler­nen, denn, wie Frau Klein­h­em­pel, un­se­re The­ra­peu­tin ganz rich­tig be­merkt hat, kann es ohne Hem­mun­gen kei­ne funk­tio­nie­ren­de Ge­mein­schaft ge­ben. Aus­ge­leb­te Hem­mungs­lo­sig­keit wür­de un­se­re Ge­sell­schaft in kür­zes­ter Zeit zer­stö­ren. Nur durch Hem­mun­gen kann das Cha­os, die blan­ke An­ar­chie ver­hin­dert wer­den. Da kann man ein­mal se­hen! Ich wür­de ihr zu gern ein­mal sa­gen, dass sie da­mit voll­kom­men recht hat. Aber da­für bin ich be­dau­er­li­cher­wei­se noch viel zu gehemmt. ♦


Lothar Becker - Schriftsteller Publizist - Glarean MagazinLo­thar Becker

Geb 1959, Stu­di­um der So­zi­al­päd­ago­gik,  schreibt haupt­säch­lich Bel­le­tris­tik, letz­te Ro­man-Ver­öf­fent­li­chung “Bubble Gum 69” im Ber­li­ner Eu­len­spie­gel Ver­lag, Tex­te und Ver­to­nung für/von Mu­si­cals, lebt in Lim­bach-Ober­frohna/D

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3 Kommentare

  1. Ich freue mich, dass es dir ver­wehrt war, die Ta­blet­ten zu kau­fen. Sonst hät­test du ja die­se herr­li­che Ge­schich­te nicht schrei­ben kön­nen, die mich an mei­ne ei­ge­ne Hem­mung er­in­nert. Mein Pul­lun­der war ein Blu­men­kohl oder bes­ser zwei. Aber das ist eine an­de­re Geschichte.

    LG Flo­rence

    • Vie­len Dank für das Lob. Aber die Sa­che mit dem Blu­men­kohl in­ter­es­siert mich nun doch. Darf ich er­fah­ren, was da pas­siert ist?

      • Hal­lo an den Mann mit dem grü­nen Pul­lun­der, lie­ber Lothar.
        Da brauchst du zwei, drei Mi­nu­ten Zeit, um das Elend zu erfassen.
        Was bei dir die­ser Pul­lun­der war, war bei mir ein Blu­men­kohl – oder bes­ser meh­re­re Blu­men­kohls oder Köh­le oder was auch im­mer. Die Mehr­zahl kann­te ich da­mals – mit 5 Jah­ren – noch nicht. Es war in der Nach­bar­schaft üb­lich, die greif­ba­ren Kln­der hin­aus ins feind­li­che Le­ben zum Ein­kau­fen zu schi­cken; zum Krä­mer, zum Ge­mü­se­händ­ler, zum Bä­cker. Ja, so­was gab es da­mals – kurz vor dei­nen Ge­burts­jahr – noch. Ich er­hielt also den Auf­trag von mei­ner Oma, 2 Stück die­ser schwie­ri­gen Sor­te Ge­mü­se zu kau­fen. Ich lieb­te die­se Auf­trä­ge, konn­te ich doch schon ohne Zet­tel ein­kau­fen ge­hen. Nicht, dass ich ihn nicht hät­te le­sen kön­nen, das konn­te ich be­reits mit gut 4 Jah­ren, aber alle Er­wach­se­nen wa­ren ein­hel­lig der Mei­nung, ich sei ein be­son­ders schlau­es, pfif­fi­ges Ding und so schweb­te, hüpf­te ich ei­gent­lich im­mer zu die­sen neu­en Be­wei­sen mei­ner Schlau­heit. Ich muss eine ech­te Kotz­pil­le ge­we­sen sein. Ver­wöhnt, maß­los über­schätzt, was ich schließ­lich er­fah­ren muss­te. Im La­den an­ge­kom­men über­fiel mich dann plötz­lich die Pul­lun­der-Läh­mung: Ich be­gann zu stot­tern und mir fiel nur ein, ein­fach ei­nen Blu­men­kohl zu kau­fen. Vie­le Nach­ba­rin­nen stan­den her­um und tratsch­ten, vor al­lem Nach­bar-Omas mit we­ni­ger pfif­fi­gen En­ke­lin­nen. Wel­che Bla­ma­ge – ob­wohl ich das Wort da­mals noch nicht kannte.
        Ich press­te „1 Blu­men­kohl bit­te“ her­aus, schnapp­te ihn und rann­te raus, nach­dem ich noch an die 30 Pfen­nig er­in­nert wer­den muss­te. Alle starr­ten sie mir hin­ter­her – dach­te ich zumindest.
        Ich war­te­te min­des­tens 10 Mi­nu­ten. (Eine Uhr hat­te ich nicht, konn­te sie aber na­tür­lich schon le­sen), weil ich doch noch ei­nen zwei­ten Blu­men­kohl kau­fen woll­te. Aber die Kun­din­nen stan­den und quatsch­ten, so dass ich lang­sam nach Hau­se schlich.
        „Was, hast du ver­ges­sen???“ – mei­ne Oma. „Das gibt es doch nicht!“ – Mama.
        „Lass das Kind in Ruhe“ brumm­te mein Stief­va­ter. „Dann geht sie eben noch mal, ist doch nicht schlimm. Je­der ver­gisst mal was!“
        „Aber doch nicht F…., das hat sie doch schon vor zwei Jah­ren gestemmt“.
        Sie wa­ren fas­sungs­los. Ich biss die Zäh­ne zu­sam­men und ging noch mal los, ei­nen zwei­ten Kopf zu kau­fen. Gott­lob war der La­den leer.
        Ich hät­te auch zur Kon­kur­renz, 5 Mi­nu­ten wei­ter, ge­hen kön­nen, aber dann hät­te ich über eine der vie­len Ei­sen­bahn­brü­cken ge­hen müs­sen. Weißt du, über eine die­ser Brü­cken aus Holz mit brei­ten Lü­cken zwi­schen den Boh­len, so dass man die Schie­nen se­hen konn­te. Ich wuss­te ge­nau, dass ich ir­gend­wann durch eine die­ser Lü­cken rut­schen wür­de, also ließ ich das blei­ben und biss in den sau­ren Ap­fel oder in den wei­ßen Blumenkohl.
        Als ich nach Hau­se kam, wur­de ich ver­stoh­len be­äugt. „Sie sieht rich­tig elend aus…“ – mei­ne Oma. „Wie ein­ge­schrumpft…“ mei­ne Mut­ter. “Quatsch“, – mein Stiefvater.
        Krank, ja, ich war krank, dach­te ich. Viel­leicht war mein Ge­hirn ge­schrumpft. Das bes­te wäre, ich wür­de ster­ben. Dann wür­den mich alle be­dau­ern und gut über mich re­den. Aber wie? Schlaf­ta­blet­ten kann­te ich noch nicht, brauch­te bei uns auch kei­ner; alle schlie­fen eher zu viel. Ich lege mich ein­fach ins Bett, dach­te ich, und wer­de im­mer klei­ner, bis ich weg bin. Und das tat ich auch.
        „Hirn­haut­ent­zün­dung“ be­schloss mei­ne Mut­ter. „Sie hat be­stimmt Hirn­haut­ent­zün­dung, da setzt es zu­erst da oben aus“, mein­te sie und zeig­te auf ih­ren Kopf.
        Dann folg­te das üb­li­che Ri­tu­al. Fie­ber­mes­sen, kal­te Kom­pres­sen, bis mir die Zäh­ne klap­per­ten und als ich klei­ne Bröck­chen her­aus­ge­würgt hat­te, wur­de der Arzt ge­ru­fen. Die Bröck­chen wa­ren ein cle­ve­rer Ein­fall. Brot­kru­men mit Spu­cke zu­sam­men ge­presst und de­ko­ra­tiv aufs Kopf­kis­sen ge­legt, de­mons­trier­ten mei­ne Krank­heit. Der Arzt, Dr. B. wohn­te gleich ne­ben­an im Haus und kann­te uns wie sei­ne zer­knautsch­te, brü­chi­ge brau­ne Tasche.
        „Nanu“, pol­ter­te er und hock­te sich auf die Couch­kan­te. Ich durf­te im Wohn­zim­mer auf dem Sofa re­si­die­ren und ver­such­te, blass und schmäch­tig auszusehen.
        „Nanu, dann kannst du ja am Sonn­abend gar nicht zu Sa­bi­nes Ge­burts­tag kom­men, du kran­kes Hühn­chen. Hast du Fie­ber?“ Er leg­te mir sei­ne Rie­sen­hand auf die Stirn, hin­ter der sich zwar kein rich­ti­ges Ge­hirn mehr be­fand, aber im­mer­hin auch kein Fieber.
        Da fiel mir ein, mei­ne Freun­din Sa­bi­ne, Dr. B.s jüngs­te Toch­ter wur­de in zwei Ta­gen 6. Ich lieb­te sie heiß und in­nig. Sie lieb­te mich näm­lich auch und sie war gar nicht dar­auf aus, schlau­er zu sein als ich. Eine tol­le Freun­din also.
        Ich schaff­te es so­gar, mich wie­der auf­zu­rich­ten und hat­te das Ge­fühl, den Blu­men­kohl we­nigs­tens für kur­ze Zeit ver­ges­sen zu können.
        So kam es auch, aber ganz habe ich die­ses über­schätz­te Ge­mü­se nie aus mei­nem Hirn be­kom­men. Du wür­dest das nicht ge­ra­de als Hem­mung be­zeich­nen, aber ich war seit­dem viel we­ni­ger ent­hemmt. Viel­leicht ganz gut so, aber noch heu­te be­kom­me ich manch­mal Hit­ze­schü­be, wenn ich an bla­ma­ble Mo­men­te in mei­nem Le­ben den­ke. Und im­mer steht der Blu­men­kohl an ers­ter Stel­le der Ver­ur­sa­cher; schließ­lich war er der ers­te rich­ti­ge Stol­per­stein auf mei­nem Weg.

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