Roland Stuckardt: Too clever is dumb (Schach-Essay)

Too clever is dumb

Kleine Philosophie des Schwindelns

von Roland Stuckardt

Ent­ge­gen der land­läu­fi­gen Mei­nung gehört das spe­ku­la­tive Spiel zum Wesens­kern des Schachs. Schliess­lich kommt bereits der Aus­gangs­stel­lung ein spiel­theo­re­ti­scher Wert (also 1–0,½–½ oder 0–1) zu, der sich unwei­ger­lich ein­stel­len würde, wenn beide Sei­ten stets der (glück­li­cher­weise nie­man­dem bekann­ten) Linie per­fek­ten Spiels folg­ten. Sollte etwa die Grund­po­si­tion für eine der Par­teien gewon­nen sein, so bleibt zumin­dest der ande­ren Par­tei gar nichts ande­res übrig, als auf spe­ku­la­ti­ves Spiel zu set­zen… Die fol­gende kleine Phi­lo­so­phie “Too cle­ver is dumb” geht ein paar (computer-)schachlichen und kul­tu­rel­len Impli­ka­tio­nen des Schwin­delns nach.

In einer frü­hen Com­pu­ter­schach­par­tie zwi­schen dem ame­ri­ka­ni­schen Pro­gramm Duch­ess und sei­nem berühm­ten sowjet­rus­si­schen Riva­len Kai­ssa, die auf der Second World Com­pu­ter Chess Cham­pi­on­ship 1977 in Toronto auf­ein­an­der tra­fen, trug sich Uner­war­te­tes zu, das die Pro­gram­mier­teams und das Fach­pu­bli­kum glei­cher­mas­sen elektrisierte:

Bild: Computerschach-Partie Duchess-Caissa (Toronto 1977)
Duch­ess-Caissa – Toronto 1977 – Schwarz am Zug

In die­ser Stel­lung spielte Kai­ssa den Zug 34… Te8 und stellte damit sei­nen Turm en prise, anstelle mit dem nahe lie­gen­den und von jeder­mann anti­zi­pier­ten 34…Kg7 zu ant­wor­ten. Ein Pro­gram­mier­feh­ler? Ein Über­mitt­lungs­feh­ler? Oder doch eine grund­le­gende kon­zep­tio­nelle Schwä­che des noch expe­ri­men­tel­len Schach­al­go­rith­mus? Zunächst konnte sich kei­ner der anwe­sen­den Exper­ten, zu denen immer­hin Michael Bot­win­nik, Edu­ard Las­ker und Hans Ber­li­ner gehör­ten, die­sen ver­meint­li­chen Miss­griff erklä­ren. Mit einem Minus­turm kämpfte Kai­ssa in aus­sichts­lo­ser Lage noch 14 Züge wei­ter, um sich schliess­lich geschla­gen zu geben.

Der vermeintliche Patzer

Erst die Post-Mor­tem-Ana­lyse brachte ans Licht, dass Kai­ssa mit 34…Te8 nicht wirk­lich falsch, ja sogar in for­ma­lem Sinne gold­rich­tig lag. Nach­dem des­sen Ent­wick­ler zunächst noch geraume Zeit nach einer tech­ni­schen Ursa­che des ver­meint­li­chen Pat­zers fahn­de­ten, kam schliess­lich jemand auf die Idee, in der kri­ti­schen Stel­lung ein­fach ein­mal die nahe lie­gende Ent­geg­nung 34…Kg7 zu spie­len und Kai­ssa nach der bes­ten weis­sen Fort­set­zung zu befra­gen. Und siehe da: Nach kur­zem Nach­den­ken brachte das Pro­gramm das herr­li­che Damen­op­fer 35.Df8+!! und kün­digte ein Matt in 5 Zügen an: 35…Kxf8 36. Lh6+ Lg7 37. Tc8+ Dd8 38. Txd8+ Te8 39. Txe8#.
Aus tech­ni­scher Sicht funk­tio­nierte Kai­ssa also bes­tens: Mit dem Turm­op­fer 34…Te8 ver­schaffte es der weis­sen Dame die Kon­trolle über das Feld f8 und wen­dete somit das Matt vor­erst ab. Das Pro­gramm tat genau das, was von ihm zu erwar­ten war – dies sogar so gut, dass es selbst den Schach­ex­per­ten zunächst entging.

Ein Fall für spekulatives Spiel

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Den­noch bleibt ein scha­ler Bei­geschmack, der uns davon Abstand neh­men lässt, den Zug 34…Te8 mit einem Aus­ru­fe­zei­chen zu ver­se­hen. Ver­mut­lich hät­ten es die meis­ten star­ken Schach­spie­ler den­noch mit der unter Anle­gung tech­ni­scher Mass­stäbe inkor­rek­ten Fort­set­zung 34…Kg7!? ver­sucht – dies selbst dann, wenn sie selbst bereits die ver­steckt in der Stel­lung lie­gende Res­source gese­hen haben, denn es besteht die berech­tigte Hoff­nung, dass der Geg­ner das Matt nicht sieht und eine andere Fort­set­zung als 35.Df8+ wählt. Mit ande­ren Wor­ten: Die Stel­lung bie­tet die per­fekte Gele­gen­heit zu einem Erfolg ver­spre­chen­den Schwin­del­ver­such bzw. – etwas gewähl­ter aus­ge­drückt – zu spe­ku­la­ti­vem Spiel. Denn viel ist hier wirk­lich nicht zu ver­lie­ren, da die nach 34…Te8 ent­ste­hende Stel­lung ja eben­falls bereits auf­ga­be­reif ist. Und letzt­end­lich spielt es keine Rolle, ob wir nach 35 oder 48 Zügen kapi­tu­lie­ren müssen.
Dem Com­pu­ter­schach­ex­per­ten Peter Jan­sen (1990) fol­gend, mag man in Bezug auf spe­ku­la­ti­ves Spiel noch fei­ner unter­schei­den zwi­schen Schwin­deln (Kon­fron­ta­tion des Geg­ners mit einer Stel­lung, in der der beste Zug nicht nahe lie­gend ist) und dem Stel­len einer Falle (Kon­fron­ta­tion des Geg­ners mit einer Stel­lung, in der der nahe lie­gende Zug nicht der beste ist). Das kon­sti­tu­tive Merk­mal spe­ku­la­ti­ven Spiels ist es, dass wir im All­ge­mei­nen einen gewis­sen Ein­satz leis­ten, indem wir von der Linie des opti­ma­len Spiels abwei­chen, um eine Stel­lung her­bei­zu­füh­ren, in der wir dar­auf spe­ku­lie­ren, dass der Geg­ner fehl­greift und wir letzt­end­lich doch profitieren.

Wissen ist Macht

Francis Bacon - Wissen ist Macht - Schwindeln im Schach - Glarean Magazin
Fran­cis Bacon: “Wis­sen ist Macht”

Die Moral von der Geschicht’ ist bemer­kens­wert: Im Schach gilt, dass man sich bis­wei­len um Chan­cen bringt, wenn man von sei­nem Mehr­wis­sen unre­flek­tiert Gebrauch macht. Wie das Bei­spiel gezeigt hat, sollte man in bestimm­ten Situa­tio­nen auch den Wahr­neh­mungs­ho­ri­zont der Gegen­seite beach­ten, um seine Erfolgs­aus­sich­ten zu maxi­mie­ren. Die Devise lau­tet: Kenne Dei­nen Geg­ner! Natür­lich sind stets auch die Rah­men­be­din­gun­gen zu beach­ten. Die Erfolgs­aus­sich­ten spe­ku­la­ti­ven Spiels sind umso höher, je schwä­cher die Spiel­stärke des Geg­ners ist, je weni­ger Rest­zeit sich noch auf des­sen Uhr befin­det und – inso­fern wir gegen einen Men­schen spie­len – je län­ger die Par­tie bereits andau­ert. Fer­ner: Ste­hen wir ohne­hin bereits auf Ver­lust? Müs­sen wir unbe­dingt gewin­nen oder wenigs­tens remi­sie­ren? Selbst Schach­mo­to­ren der Spit­zen­klasse sind der­lei Abwä­gun­gen fremd: In der obi­gen Par­tie die schwar­zen Steine füh­rend, sehen sie die Res­source 35.Df8+ in Mil­li­se­kun­den und ver­schwen­den des­halb keine wei­tere Such­zeit an die unter der Mass­gabe bei­der­sei­tig opti­ma­len Spiels unsin­nige Fort­set­zung 34…Kg7.

Maximierung der Gesamtausbeute

Wir befin­den uns also in einer para­do­xen Situa­tion: Der prin­zi­pi­ell segens­rei­che Zustand der rela­ti­ven Erleuch­tung erlegt uns die zusätz­li­che Bürde auf, sorg­fäl­tig abzu­wä­gen, wie wir von unse­rem Wis­sens­vor­sprung situa­ti­ons­ab­hän­gig am bes­ten Gebrauch machen, um den Gesamt­erfolg nicht unnö­tig zu schmä­lern. Nota bene: Inso­fern die­ser Wis­sens­vor­sprung exis­tiert – denn falls unser Geg­ner eben­falls den Durch­blick hat, kön­nen wir uns das Spe­ku­lie­ren natür­lich erspa­ren. Posi­tiv gewen­det: Je genauer wir wis­sen, wer unser Gegen­über ist und wie sich die Gesamt­si­tua­tion dar­stellt, desto höher natür­lich auch unsere Erfolgs­aus­sich­ten, pass­ge­naue Gele­gen­hei­ten zu spe­ku­la­ti­vem Spiel zu fin­den, um so die erwar­tete Gesamt­aus­beute zu maximieren.

Algorithmisches Schwindeln

Was heisst dies nun für das Com­pu­ter­schach? Die ele­men­tare Lek­tion ist die, dass wir mit for­mell opti­ma­lem Spiel, wie es in den Stan­dard­al­go­rith­men des Com­pu­ter­schachs ange­legt ist, womög­lich nicht das opti­male Ergeb­nis erzie­len. Zwar gewinnt man bis­wei­len den Ein­druck, als beherrsch­ten Schach­mo­to­ren bereits die Tech­nik des Schwindelns.

So spielte etwa in der fol­gen­den Stel­lung (aus einer Par­tie der Tur­nier­se­rie CCRL 40/40 – 2015)

Bagatur 1.3a 64bit - Fischerle 0.9.65 64-bit - CCRL/2015 - Schwarz am Zug
Baga­tur 1.3a 64bit – Fischerle 0.9.65 64-bit – CCRL/2015 – Schwarz am Zug

das Pro­gramm Fischerle 57…Txg4 anstelle des näher lie­gen­den 57…Kf6xg6, um nach 58.h5? ver­möge 58…Txg5! 59.fxg5 Kxg5 ½–½ in ein Remis (Rand­bauer und Läu­fer der fal­schen Farbe) abzu­wi­ckeln. Jedoch han­delt es sich bei 57…Txg4 nicht um einen Schwin­del­ver­such im enge­ren Sinne, da Fischerle die­sen Zug nur des­halb spielt, weil er in der Aus­gangs­stel­lung die Gefahr, die von den drei ver­bun­de­nen Frei­bau­ern aus­geht, bereits als zen­tral ein­schätzt. Tat­säch­lich rech­nete das Pro­gramm hier mit dem Läu­fer­rück­zug 58.Lb1, d. h. es setzte nicht gezielt auf den Fehl­griff 58.h5? des Geg­ners, wie es bei ech­tem spe­ku­la­ti­vem Spiel der Fall gewe­sen wäre. Und bei dem anschlies­sen­den 58…Txg5! han­delt es sich schlicht­weg um die Wahr­neh­mung einer ele­men­ta­ren Endspielressource.

Vermutete Schwächen des Gegners bewirtschaften

Per defi­ni­tio­nem ist spe­ku­la­ti­ves Spiel im enge­ren Sinne somit dadurch gekenn­zeich­net, dass man bewusst von der Linie opti­ma­len Spiels abweicht (also einen Ein­satz leis­tet), jedoch dar­auf hofft, dass der Geg­ner die wider­le­gende opti­male Fort­set­zung nicht fin­det und ins­ge­samt drauf­zahlt. Wir unter­neh­men hier­bei den Ver­such, bekannte oder ver­mu­tete Schwä­chen des spe­zi­fi­schen Geg­ners zu bewirt­schaf­ten. Das ent­spre­chende Wis­sen, auf das wir uns stüt­zen, kann gene­ri­scher (die gesamte Geg­ner­klasse betref­fende) oder spe­zi­fi­scher (den ein­zel­nen Oppo­nen­ten betref­fende) Natur sein. Eine Schach­en­gine könnte etwa in Matches gegen Men­schen dyna­mi­sche, aus­ge­prägt tak­ti­sche Stel­lun­gen mit vie­len nicht stil­len Zug­mög­lich­kei­ten anstre­ben; in umge­kehr­ter Rich­tung ent­spricht dem die bekannte Stra­te­gie mensch­li­chen Anti-Com­pu­ter-Schachs, wo geschlos­sene, posi­tio­nelle Sys­teme bevor­zugt wer­den, in denen die Fähig­keit zur län­ger­fris­ti­gen Pla­nung erfolgs­kri­tisch ist.

Spekulatives Spiel gegen Schachmotoren

Auch gegen die Klasse der maschi­nel­len Geg­ner gehört also spe­ku­la­ti­ves Spiel zum klei­nen Ein­mal­eins. Wei­ters kann hier auf oppo­nen­ten­spe­zi­fi­sches Wis­sen zurück­ge­grif­fen wer­den. Zwar basie­ren die heu­ti­gen Spit­zenen­gi­nes auf einer Menge gemein­sa­mer Kern­tech­ni­ken der effi­zi­en­ten Spiel­baum­su­che, die diese in jedem Falle zu tak­ti­schen Rie­sen machen. Ande­rer­seits unter­schei­den sich die Schach­mo­to­ren noch immer hin­sicht­lich der indi­vi­du­el­len Such­ho­ri­zonte, die in spe­zi­fi­schen Posi­tio­nen erreicht wer­den: Wel­che Vari­an­ten wer­den beson­ders tief unter­sucht? Wel­che Vari­an­ten wer­den nur mit ein­ge­schränk­ter Such­tiefe betrach­tet? Tech­nisch aus­ge­drückt: Es kom­men unter­schied­li­che Kom­bi­na­tio­nen von Sucher­wei­te­run­gen und Such­re­duk­tio­nen zum Ein­satz. Mischung und Fein­ab­stim­mung die­ser Tech­ni­ken der varia­blen Such­tiefe bestim­men nun ent­schei­dend den Spiel­stil und somit mit­tel­bar die spe­zi­fi­schen Stär­ken und Schwä­chen eines Programms.
Die Kon­se­quenz hier­aus ist, dass auch in Matches zwi­schen Schach­en­gi­nes prin­zi­pi­ell Chan­cen bestehen, per Rück­griff auf ent­spre­chen­des Detail­wis­sen über das spe­zi­fi­sche geg­ne­ri­sche Pro­gramm in Erfolg ver­spre­chen­der Weise spe­ku­la­ti­ves Spiel zu betrei­ben. Betrach­ten wir hierzu fol­gende Stel­lung (Posi­tion #213, Samm­lung Win at Chess, Fred Rein­feld) mit Weiss am Zug:

Fred Reinfeld - Win at Chess - Position 213
Fred Rein­feld – Win at Chess – Posi­tion 213

Diese Posi­tion ver­kör­pert ein zen­tra­les Bei­spiel aus einer wis­sen­schaft­li­chen Publi­ka­tion zu Deep Thought, dem Vor­gän­ger des Sys­tems Deep Blue. Aus­ge­stat­tet mit einer nach dama­li­gen Mass­stä­ben ein­zig­ar­ti­gen Sucher­wei­te­rungs­tech­nik namens Sin­gu­lar Exten­si­ons gelang es die­sem Sys­tem bereits 1989, das tief in der Stel­lung ver­bor­gene Matt in 18 Zügen1) (begin­nend mit dem Turm­op­fer 1.Txh7!!) in 65 Sekun­den zu fin­den. Inso­fern unser Schach­mo­tor über diese auf­wän­dige und heute nur von weni­gen Pro­gram­men imple­men­tierte Stra­te­gie ver­fü­gen sollte, wird er diese sieg­rei­che Zug­folge in weni­gen Sekun­den finden.

Qualität des Wissens über den Gegner entscheidet

Schach Kasparov vs Deep Throught - Chess Men vs Computer - Glarean Magazin
New York 1989: Human-Welt­meis­ter Garry Kas­pa­rov spielt gegen Com­pu­ter-Welt­meis­ter Deep Thought. Das Pro­gramm spielte mit der Sucher­wei­te­rungs­tech­nik “Sin­gu­lar Extensions”

Stel­len wir uns nun ande­rer­seits vor, dass wir in einer hypo­the­ti­schen Vor­gän­ger­stel­lung mit der schwar­zen Dame auf b3 und einem weis­sem Sprin­ger auf b1 die schwar­zen Steine füh­ren. Die Sin­gu­lar Exten­si­ons ermög­li­chen es uns, recht rasch zu sehen, dass Weiss nach 0…Dxb1 über die genannte Gewinn­kom­bi­na­tion ver­fügt. Aus­ge­stat­tet mit dem Wis­sen, dass unser Geg­ner über keine ver­gleich­bare Tech­nik ver­fügt, könn­ten wir jedoch dar­auf set­zen, dass Weiss das Matt nicht sehen wird, und spe­ku­la­tiv 0…Dxb1 spie­len. (Die­ses Bei­spiel ist zuge­ge­be­ner­mas­sen etwas künst­lich, denn Schwarz stünde hier auch nach dem nicht­spe­ku­la­ti­ven 0…Td7 exzel­lent. Zudem kann sich Weiss in der Dia­gramm­stel­lung begin­nend mit 1.Txh7! auch in ein rela­tiv leicht zu sehen­des Dau­er­schach retten.)
Ent­schei­dend ist nun also die Qua­li­tät unse­res Wis­sens über den jewei­li­gen Geg­ner: Je genauer wir des­sen blinde Fle­cken ken­nen, desto eher wird es uns gelin­gen, ihn pass­ge­nau zu beschwin­deln. Und genau an die­ser Stelle wird es aus tech­ni­scher Sicht inter­es­sant: Es stel­len sich neue Her­aus­for­de­run­gen jen­seits einer wei­te­ren Detail­op­ti­mie­rung der übli­chen, bereits hoch­per­for­man­ten Schachalgorithmen.

Möglichkeiten und Grenzen algorithmischen Schwindelns

Der chinesische Philosoph und General Sunzi (5. Jh. v. Chr.):
Der chi­ne­si­sche Phi­lo­soph und Gene­ral Sunzi (5. Jh. v. Chr.): “Du musst dei­nen Feind ken­nen, um ihn besie­gen zu können”

In der Wis­sen­schaft der Spiel­theo­rie ist das Bewusst­sein für die oben her­aus­ge­ar­bei­te­ten Fein­hei­ten natür­lich längst gege­ben. Bereits seit Jahr­zehn­ten beschäf­ti­gen sich volks­wirt­schaft­li­che For­schung und auch die mit der Bera­tung und Aus­bil­dung hoch­ran­gi­ger poli­ti­scher und mili­tä­ri­scher Ent­schei­dungs­trä­ger betrau­ten Insti­tu­tio­nen mit der­lei Pro­ble­men. Die Quint­essenz war bereits den alten Chi­ne­sen bekannt: “Du musst dei­nen Feind ken­nen, um ihn besie­gen zu kön­nen”, so schrieb bereits um 500 vor Chris­tus der chi­ne­si­sche Gene­ral und Phi­lo­soph Sunzi in sei­nem Klas­si­ker der Mili­tär­stra­te­gie “Die Kunst des Krie­ges”. Jedoch erweist es sich als gar nicht so ein­fach, diese grund­le­gende Erkennt­nis in ein for­ma­les mathe­ma­ti­sches Modell zu gies­sen, das sich Erfolg ver­spre­chend in der Schach­pro­gram­mie­rung ope­ra­tio­na­li­sie­ren lässt. Die meis­ten Schach­pro­gramme begnü­gen sich des­halb mit der klas­si­schen sym­me­tri­schen, also auf bei­der­sei­tig opti­ma­les Spiel aus­ge­rich­te­ten Spielbaumsuche.

Der Schwindel-Modus der Schach-Engines

Einer der berühmtesten "Schwindler" und Bluffer der Schach-Geschichte war der amerikanische Spitzenspieler Frank Marshall, der oft in seinen Partien höchst gewagte Opfer anbrachte, die seine Gegnerschaft verwirrten und dann fehlgreifen liessen...
Einer der berühm­tes­ten “Schwind­ler” und Bluf­fer der Schach-Geschichte war der ame­ri­ka­ni­sche Spit­zen­spie­ler Frank Mar­shall, der oft in sei­nen Par­tien höchst gewagte Opfer anbrachte, die seine Geg­ner­schaft ver­wirr­ten und dann fehl­grei­fen liessen…

Einige Top-Engi­nes kön­nen in einem Schwin­del­mo­dus betrie­ben wer­den. Oft­mals heisst dies jedoch ledig­lich, dass das Pro­gramm auch dann noch auf Sieg bzw. Remis spielt, wenn ein ele­men­ta­res End­spiel vor­liegt, das laut Daten­bank bei bei­der­sei­tig opti­ma­lem Spiel eigent­lich remis bzw. ver­lo­ren ist. Spe­ku­la­tion ist hier etwa dahin­ge­hend mög­lich, dass wir die­je­nige Fort­set­zung wäh­len, unter der der Geg­ner bei per­fek­tem Spiel die meis­ten Züge brau­chen wird, um den Gewinn zu rea­li­sie­ren. Eine andere Mög­lich­keit besteht darin, dass wir sol­che Fort­set­zun­gen wäh­len, in denen der Geg­ner sehr prä­zise spie­len muss – etwa indem wir Stel­lun­gen anstre­ben, in denen dem Geg­ner mög­lichst wenige kor­rekte, den Sieg bzw. das Remis wah­rende Züge zur Ver­fü­gung ste­hen und des­halb die Gefahr eines Fehl­griffs (ver­mut­lich) hoch ist; inso­fern wir hier­bei etwa vom längst­mög­li­chen Weg zum Ver­lust abweich­ten – also einen Ein­satz leis­te­ten –, ergäbe sich spe­ku­la­ti­ves Spiel im enge­ren Sinne.
Gegen eine Schach­ma­schine, die eben­falls über per­fekte Infor­ma­tion ver­fügt, stel­len der­lei Anstren­gun­gen ver­ge­bene Lie­bes­müh’ dar, nicht jedoch gegen einen Men­schen, dem es am Brett womög­lich nicht gelin­gen wird, ein bei bes­tem Spiel in 40 Zügen gewinn­ba­res End­spiel König und Läu­fer­paar gegen König und Sprin­ger inner­halb der 50-Züge-Grenze sieg­reich zu beenden.

Algorithmisches Schwindeln im Mittelspiel

Eine erheb­lich grös­sere Her­aus­for­de­rung stellt es hin­ge­gen dar, die Stra­te­gie des algo­rith­mi­schen Schwin­delns auf Mit­tel­spiel­stel­lun­gen zu ver­all­ge­mei­nern. Peter Jan­sen, der auch Mit­glied des Deep-Thought-Ent­wick­ler­teams war, befasste sich bereits in den frü­hen 90er Jah­ren in sei­ner Dis­ser­ta­tion (Jan­sen 1992) mit dem anspruchs­vol­len Thema des spe­ku­la­ti­ven Spiels bzw. der hier­mit eng ver­bun­de­nen Frage der sog. Oppo­nen­ten-Model­lie­rung in der Spiel­baum­su­che und im Com­pu­ter­schach. Damals sah Jan­sen Chan­cen für erfolg­rei­ches algo­rith­mi­sches spe­ku­la­ti­ves Spiel in ers­ter Linie in Matches gegen mensch­li­che Geg­ner; ande­rer­seits iden­ti­fi­zierte er eine Reihe zen­tra­ler, vor­nehm­lich effi­zi­enz­be­zo­ge­ner Pro­bleme betref­fend die Inte­gra­tion ent­spre­chen­der Tech­ni­ken in die Algo­rith­men der klas­si­schen Spiel­baum­su­che – Her­aus­for­de­run­gen, die ver­mut­lich auch heute noch nicht zufrie­den stel­lend gelöst sind. Letzt­end­lich aber ist dies auch eine gute Nach­richt: für den Men­schen, weil sich damit zeigt, dass Schach­al­go­rith­men zumin­dest in bestimm­ten Aspek­ten noch immer nicht mit der huma­nen Schach­vir­tuo­si­tät mit­hal­ten kön­nen; ande­rer­seits jedoch auch für die Prot­ago­nis­ten schach­li­chen Motor­sports, weil dies impli­ziert, dass sich tech­ni­sche Her­aus­for­de­run­gen selbst heute noch stel­len, da die Top-Engi­nes ver­mut­lich längst die (vir­tu­elle) 3000-Elo-Marke mensch­li­cher Schach­ex­zel­lenz geknackt haben.

Philosophische und literarische Querbezüge

Wie in der Welt, so gilt also auch im doch eigent­lich so ratio­nal-auf­ge­klär­ten Schach bis­wei­len die char­mante Weis­heit: “Too cle­ver is dumb!” (Zitat Ogden Nash) Inso­fern wir von unse­ren tie­fen Ein­sich­ten in unre­flek­tiert-mecha­ni­scher Manier Gebrauch machen, wir­ken wir auf unsere Mit­men­schen bzw. Spiel­part­ner bis­wei­len höl­zern und womög­lich ganz und gar nicht so schlau, wie es unse­rer Selbst­wahr­neh­mung ent­spre­chen mag. Und selbst wenn wir in der Sache prin­zi­pi­ell recht haben: So falsch lie­gen unsere Zeit­ge­nos­sen ja doch nicht, wenn sie den Kopf dar­über schüt­teln, inso­fern wir in der ein­gangs bespro­che­nen Posi­tion das theo­re­tisch opti­male 34…Te8 spie­len soll­ten. Letzt­end­lich eine selbst erfül­lende Pro­phe­zei­ung, denn falls unsere Gegen­spie­ler vor­nehm­lich weni­ger tief schür­fende Zeit­ge­nos­sen sein soll­ten, so wür­den wir auf Dauer tat­säch­lich unse­ren Erfolg schmä­lern, wenn wir auf die Chan­cen spe­ku­la­ti­ven Han­delns leicht­fer­tig verzichteten.

Grenzen der Spekulation im sozialen Kontext

Elias Canetti - Glarean Magazin
Dys­to­pi­sche Welt: Elias Canetti (1905-1994)

Ande­rer­seits gibt es natür­lich Gren­zen, die uns durch den jewei­li­gen sozia­len Kon­text gesetzt wer­den: So würde man ver­mut­lich Spott ern­ten, wenn man in einer Par­tie gegen eine Spit­zen­spie­le­rin dar­auf spe­ku­lierte, per Schwin­del einem ele­men­ta­ren zwei­zü­gi­gen Matt ent­rin­nen zu kön­nen. Dass der­lei psy­cho­lo­gi­sche Kräfte im Hin­ter­grund mensch­li­chen Spiels wal­ten, lässt sich etwa anhand eines Kom­men­tars von Mark Tai­ma­nov zum legen­dä­ren posi­tio­nell-spe­ku­la­ti­ven Sprin­ger­op­fer Spas­skis in der Par­tie Awerbach–Spasski (Lenin­grad 1956) auf­zei­gen: “Ich würde lie­ber auf­ge­ben, als einen sol­chen Zug zu spie­len.” Einem Schach­mo­tor kann dies jedoch ver­mut­lich egal sein – die­ser wird sich auch wei­ter­hin an die Tartakower’sche Devise hal­ten, dass durch Auf­gabe noch keine Par­tie gewon­nen wurde.
Auch in der Büh­nen­li­te­ra­tur wer­den wir fün­dig. In sei­nem Thea­ter­stück “Die Befris­te­ten” skiz­ziert Elias Canetti eine Welt, in der jedem Bewoh­ner von Geburt an und für jeden ersicht­lich der Tag des Able­bens zuge­schrie­ben ist. Die Fol­gen für das Zusam­men­le­ben sind fatal, und die Indi­vi­duen sehen sich vor die beson­dere, kaum zu meis­ternde Her­aus­for­de­rung gestellt, mit die­sem uner­be­te­nen Extra­wis­sen in ver­ant­wor­tungs­vol­ler Manier umzu­ge­hen. Der Zusam­men­hang mit dem ein­gangs am Bei­spiel von Kai­ssa her­aus­ge­ar­bei­te­ten schach­li­chen Para­do­xon erscheint offensichtlich.

Spekulation als Wesenskern des Schachs

Wir soll­ten uns ver­ge­gen­wär­ti­gen, dass spe­ku­la­ti­ves Spiel ohne­hin zum Wesens­kern des Schachs gehört und immer gehö­ren wird. Schliess­lich kommt bereits der Aus­gangs­stel­lung ein spiel­theo­re­ti­scher Wert (also 1–0,½–½ oder 0–1) zu, der sich unwei­ger­lich ein­stel­len würde, wenn beide Sei­ten stets der (glück­li­cher­weise nie­man­dem bekann­ten) Linie per­fek­ten Spiels folg­ten. Sollte etwa die Grund­po­si­tion für eine der Par­teien gewon­nen sein, so bleibt zumin­dest der ande­ren Par­tei gar nichts ande­res übrig, als auf spe­ku­la­ti­ves Spiel zu set­zen. Sich in den Fata­lis­mus eines “Ich gebe auf!” bereits in der Aus­gangs­stel­lung zu flüch­ten, hiesse im Prin­zip nichts ande­res, als den ein­gangs beschrie­be­nen Kaissa’schen Quasi-Fata­lis­mus 34…Te8 auf die Spitze zu trei­ben. Womit sich die Dys­to­pie Canet­tis in der Welt des Schachs mani­fes­tie­ren würde.

Interdisziplinäre Fragestellungen

Auch das Com­pu­ter­schach steht damit im zwei­ten Jahr­zehnt des 21. Jahr­hun­derts wei­ter­hin vor fas­zi­nie­ren­den Her­aus­for­de­run­gen. Und viel­leicht noch span­nen­der stel­len sich die uner­war­te­ten Quer­be­zie­hun­gen dar, die vom spe­ku­la­ti­ven Spiel im Schach zu The­men­fel­dern weit jen­seits der vier­und­sech­zig Fel­der bestehen. Ver­mut­lich haben also die Erkennt­nisse, die sich aus der Erfor­schung ent­spre­chen­der Modelle und Tech­no­lo­gien im (Computer-)Schach erge­ben, Impli­ka­tio­nen auch für diese auf den ers­ten Blick ent­fern­ten Gebiete. In jedem Falle han­delt es sich um dezi­diert inter­dis­zi­pli­näre Fra­ge­stel­lun­gen, die den vir­tuo­sen Schach­spie­ler (als Künst­ler), den Infor­ma­ti­ker, den Spiel­theo­re­ti­ker und den Phi­lo­so­phen glei­cher­mas­sen betreffen. ♦

1) Eine der mög­li­chen Zug­fol­gen zum Matt lau­tet: 1. Txh7+ Kxh7 2. Dh5+ Kg8 3. Txg7+ Kxg7 4. Lh6+ Kh8 5. Lg5+ Kg7 6. Dh6+ Kf7 7. Df6+ Kg8 8. Dg6+ Kh8 9. Lf6+ Txf6 10. exf6 Dxe1+ 11. Kxe1 Sc2+ 12. Kf1 Se3+ 13. fxe3 Td7 14. De8+ Kh7 15. Dxd7+ Se7 16. Dxe7+ Kg6 17. Dg7+ Kh5 18. Dg5#

Literatur

  • Tho­mas Anant­ha­ra­man, Mur­ray S. Camp­bell, and Feng-hsi­ung Hsu (1990). Sin­gu­lar exten­si­ons: Adding Sel­ec­ti­vity to Brute-Force Sear­ching. Arti­fi­cial Intel­li­gence, Vol. 43, No. 1, 99–109
  • Peter Jan­sen (1990). Pro­ble­ma­tic Posi­ti­ons and Spe­cu­la­tive Play In: Mars­land / Schaef­fer (Eds.): Com­pu­ters, Chess, and Cogni­tion, Sprin­ger Ver­lag, 169–181
  • Peter Jan­sen (1992). Using Know­ledge about the Oppo­nent in Game-Tree Search. Ph.D. the­sis, Car­ne­gie Mel­lon University
  • Fred Rein­feld (2001). Win at Chess (New Alge­braic Edi­tion). Dover Publi­ca­ti­ons, New York
  • Sunzi (um 500 v. Chr.). Die Kunst des Krie­ges. (Deutsch von Vol­ker Klöpsch) Insel Ver­lag 2009

Roland Stuckardt-Schach-Programmierung-Glarean-Magazin.pngRoland Stu­ckardt

Geb. 1964, Stu­dium der Infor­ma­tik sowie der Wirt­schafts- und Sozi­al­wis­sen­schaf­ten, 1991 Diplom in Infor­ma­tik, Wis­sen­schaft­li­cher Mit­ar­bei­ter für die GMD-For­schungs­zen­trum Infor­ma­ti­ons­tech­nik Darm­stadt, For­schung in den Berei­chen Com­pu­ter­lin­gu­is­tik und Natu­ral Lan­guage Engi­nee­ring, 2000 Pro­mo­tion mit einer Arbeit zur Algo­rith­mi­schen Text­in­halts­ana­lyse, Tätig­keit als Bera­ter und Lei­ter ein­schlä­gi­ger Soft­ware- und For­schungs­pro­jekte in der Medien- und Inter­net­bran­che, seit 2011 Ent­wick­lung des Schach­mo­tors Fischerle, lebt und arbei­tet in Frankfurt/Main

Lesen Sie im Glarean Maga­zin zum Thema Schach­pro­gram­mie­rung auch das Inter­view mit Ste­fan Meyer-Kah­len: “Wir ste­hen erst am Anfang”
Aus­ser­dem zum Thema von Lars Bre­mer: Die 32-Stei­ner (Schach-Satire)

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