Inhaltsverzeichnis
Eröffnungsbuch gegen den Remis-Tod
von Walter Eigenmann
Die Computerschach-Kenner unter der Leserschaft wissen es längst, und alle anderen Schachfreunde mögen einfach von den rasanten Erfolgen anderer Computer-Sparten aufs Schachberechnen schliessen, dann ahnen sie ebenfalls: Die modernen Schachprogramme spielen inzwischen ein Schach wie vom anderen Stern. Behauptete der Mensch Jahrhunderte lang mit kaum definierbaren Begriffen wie “Planvolles Spiel” oder “Strategie” seine angeblichen “menschlichen Vorzüge”, nur um die hoffnungslose Unterlegenheit seiner Rasse gegenüber der Maschine zu kaschieren, ist heutzutage einfach zu offensichtlich, dass aktuelle Hardware im Verbund mit den raffinierten modernen Algorithmen dem Human Brain null Chancen mehr einräumen. Doch damit ist ein neues altes Problem akut geworden, das schon von Capablanca und von Bobby Fischer in die Diskussion eingeführt wurde: der Remis-Tod. Ein spezielles Engine-Turnier mit einem SALC-Book geht dieser Frage nach.
Hochwertiges Schach der modernen Engines
Wer also extrem qualitätsvolle, nach wirklich allen Regeln der Schachkunst ausgetragene, durchaus mit Opferwendungen gespickte, in vielen Fällen auch überraschend “kreativ” gespielte, vielzügig berechnete, aber eben zugleich (fast) perfekte Schachpartien bewundern will, der kann heutzutage einfach seine Schachmotoren (sog. Engines) in einer der vielen Schachoberflächen (Graphical User Interfaces GUI) aufeinander loslassen. Ein paar Stunden später hat er ggf. hunderte von hochwertigen Chess-Games auf seiner Festplatte.
Die schöpferische Schachleistung des Menschen
Damit man mich nicht falsch versteht: Selbstverständlich macht es mindestens ebenso viel Spass, den ganz grossen Spitzenspielern des aktuellen Weltschachs bei ihren Turnieren zuzuschauen. Denn Schach-Weltmeister Magnus Carlsen & Co. bieten Kampfschach vom Allerfeinsten, ihre schöpferischen Leistungen sind unvergleichlich, und all die vielen psychologischen Aspekte des Königlichen Spiels sind ein hochinteressanter Bestandteil der menschlichen Kulturgeschichte überhaupt. Muss man darüber hinaus gegenüber dem aktiven Schachspieler noch erwähnen, dass nichts über das Spiel on-the-board, also face-to-face geht – ob nun im Verein oder im Internet?
Computer- und Menschen-Schach ergänzen sich
Für heutige Adepten des Königlichen Spiels geht es also nicht um ein Entweder-oder, sondern um das Sowohl-als-auch. Eine regelrechte Symbiose gehen dabei das Computer- und das Menschen-Schach im modernen Fernschach ein – über die grosse Bedeutung der Engines bei Analyse und Zuggenierung in FS-Turnieren lese man auch das Interview mit Fernschach-Grossmeister Arno Nickel. Selbstverständlich hat aber der Computer längst Einzug gehalten auch in die häusliche Vorbereitung aller starken Turnierspieler. Kommerzielle Programme wie z.B. die Schach-Datenbank Chessbase oder die Schach-Oberfläche Fritz gehören seit Jahren zum unverzichtbaren Software-Park der Grossmeister. Daneben kann auch jeder Vereinsamateur inzwischen eine Vielzahl von hervorragenden Freeware-Engines wie Stockfish, Fizbo, Andscacs oder Critter sowie passende Gratis-GUI’s wie Arena oder SCID u.a. downloaden.
Dem Remis-Tod entgegenwirken

Lässt man nun solche Computerschach-Turniere mit den heutigen Programmen ausspielen, stösst man schnell auf ein eher unschönes Phänomen: den sog. Remis-Tod. Ein Begriff, den seinerzeit schon die “Schachmaschine” Jose Capablanca im Munde führte, und den später Weltmeister Bobby Fischer ebenfalls verwendete (und mit seinem Chess960 bzw. Fischer-Random-Chess dann gleich aktiv zu bekämpfen versuchte). Gemeint ist, dass die enorme Spielstärke der Top-10-Engines zwar hochstehende, aber auch viel zu häufig unentschiedene Partien generiert. Da das extreme Niveau der Programme schnelle Überfälle aufgrund von groben Taktik-Fehlern verunmöglicht, geht zwangsläufig ein sehr hoher Prozentsatz der Games remis aus. Korrektes, aber eben langweiliges Geschiebe über ganze Engine-Turniere hinweg ist das öde Resultat.
Wahl des Opening-Books entscheidend
Direkt abhängig und darum beeinflussbar ist dieser Remis-Tod von bzw. mit der Art bzw. Qualität des sog. Eröffnungsbuches, das man den Engines vorsetzt. Lange Zeit galt diesbezüglich ja die Devise, möglichst ausgeglichene, bis weit ins Mittelspiel hinein analysierte Opening-Books zu verwenden. Mit dem Resultat, dass die Programme nicht nur die Eröffnungsphase elegant umschummeln konnten, sondern viel zu häufig gleich im Übergang Mittelspiel-Endspiel landeten, wo dann womöglich auch noch eine ewig lange Seeschlange ihren Anfang nahmen…
Das Problem kann grundsätzlich auf drei Arten angegangen werden: Entweder lässt man die Turniere mit extra eng bemessenen Book-Vorgaben (fünf bis sieben Züge) ausspielen; oder man verwendet spezifische Gambit-Bücher – siehe beispielsweise hier das 1. Engine-Gambit-Turnier 2017 -; oder aber es kommen speziell präparierte Books zum Einsatz, die Asymmetrien der Konstellationen aufweisen, doch trotzdem nicht das Gleichgewicht zu ungunsten der Weiss- oder Schwarz-Seite verschieben.
Das SALC-Book von Stefan Pohl

Ein solches Eröffnungsbuch für Schachprogramme hat der deutsche Computerschach-Anwender Stefan Pohl komponiert. Sein sog. SALC-Book ist folgendermassen definiert (Zitat):
SALC means (S)hort (A)nd (L)ong (C)astling: The SALC books were created out of human games (both players >=2000 Elo, game at least 30 moveslong, castling to opposite sides (if white played 0-0, black played 0-0-0. If white played 0-0-0, black played 0-0)), both queens still on board. No double games. When using SALC, the chance for attacks towards the opponent king is much higher than using normal opening-books. Because of this, computerchess using this book, will bring more action and fun to watch (and a measureable lower number of draws), because the faster the computers get,the higher the quality of computerchess get and the higher the draw-rate in engine-engine-matches get…so the computerchess is in danger to die the “draw-death” in the near future.
Das SALC weist inzwischen mehrere Derivate auf – für mein nachstehend erläutertes Turnier verwendete ich eine 9-moves-Variante, die also 18 Plies (= Halbzüge) und eben nur Eröffnungssysteme mit ungleichseitiger Rochade enthält. Pohl verspricht sich davon mehr Königsangriffe und überhaupt “more action and fun to watch”. Ein interessanter Ansatz also, der es wert ist vermehrt bei Engine-Turnieren berücksichtigt zu werden.
SALC-Turnier mit 10 der besten Engines
Also habe ich mal ein Computerschach-Turnier mit zehn der besten aktuellen Motoren aufgesetzt bei einem 4-rundigen Modus, wobei die folgenden Spezifikationen galten:
- AMD FX-8350 (4 Ghz) – 64bit – 4 Cores
- Fritz 15 – Hash 1Gb (inkl. Nalimov-TBs)
- SALC-Ctg. Book (9moves) – 5 Min. Bedenkzeit/Engine
Ein Blick auf die nachstehende Rangliste zeigt sofort: Ohne Remis-Ergebnisse geht’s natürlich auch mit dem SALC nicht – ganz genau genommen endeten 74 der insgesamt 180 Partien unentschieden. Immerhin: die deutliche Mehrheit der Partien weist ein Sieg-Niederlage-Resultat auf. Wer weitere Detail-Analysen des Turniers anstellen will, kann hier alle Partien downloaden.

Die Rangliste selber weist keine Unregelmässigkeiten auf, sondern spiegelt – trotz relativ wenigen Partien – in etwa die aktuelle Hierarchie wieder: Das Stockfish-Assembler-Derivat AsmFish als eindeutiger Überflieger, die immer noch extrem spielstarken Engines Komodo und Houdini in der zweiten Reihe, als dritte Garnitur dann Deep Shredder 13 & Co. schliesslich Critter mit Gefolge.
Inwiefern die 180 Partien nun tatsächlich “more action and fun” haben, müsste eine eifrige Binnenanalyse des Turniers zeigen. Dass aber dieses SALC-Turnier trotz knapper Bedenkzeit und eingeschränkter Bandbreite der Eröffnungen prächtige Partien zeitigte, beweist die folgende kleine Auslese an Rosinen.
|
|
|
|
|
|
Hier können die obigen sechs Top-Shots dieses SALC-Turnieres als PGN-Datei runtergeladen werden.
Fazit: Ob das SALC-Book tatsächlich signifikant weniger Remis-Partien generiert in Engine-Turnieren, könnten statistisch aussagekräftig natürlich erst deutlich umfangreichere Turniere beweisen.1) Aber gefühlt ist das SALC bestimmt eine Bereicherung des Book-Angebotes, es stellt mit seinen konsequent ungleichseitigen Rochaden eine schachliche Aufwertung dar. ♦
1)Auf seiner Webseite präsentiert Stefan Pohl bereits eine Reihe umfangreicher Experimente mit dem SALC-Book. Sie dokumentieren in der Tat einen deutlichen Rückgang der Remisquote bei Verwendung dieses Eröffnungsbuches.
Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema “Eröffnung” auch den Beitrag über die Opening Encyclopaedia (Chessbase)
… und lesen Sie zum Thema Schach-Software auch: Fritz 16 erschienen
wie “kanalisiert” man denn ?
Ich denke der Hauptbeitrag des Menschen im Fernschach ist es remistraechtige Zuege zu vermeiden und die Partien interessant zu gestalten. Dafuer haben die engines noch keine Bewertung. Nicht dass das die erwartete Performance erhoeht, aber mit lauter Remisen gewinnt man kein Turnier – besser einmal vorne und einmal hinten als zweimal in der Mitte.
Bezüglich Umgang des Fernschach-Spielers mit den Programmen finden sich interessante Gedanken und Tipps im Interview mit FS-Großmeister Arno Nickel
Konkret hier:
https://glarean-magazin.ch/2010/12/14/interview-mit-fernschach-grossmeister-arno-nickel/#FS-Grossmeister-auch-ohne-Software
Gruss: W.E.
Hallo Walter
Guter Artikel, einzig mit “…und ein paar Stunden später hat er ggf. hunderte von hochwertigen Chess-Games auf seiner Festplatte.” bin ich nicht einverstanden. Denn Hunderte von hochwertigen Games gibt es nicht in ein paar Stunden zu haben. Die Allmacht der Engines in diesem Artikel wird überschätzt, was auch noch das Fernschach zeigt, wo es auf höherer Ebene (noch) unmöglich ist zu gewinnen ohne Eingriff von Menschenhand.
Mfg
Kurt
Hi Kurt
a) Wenn du dir diese Computer-Partien anschaust: Mit dieser taktisch enormen Stabilität und diesen Rechentiefen von durchschnittlich 20-25 Halbzügen (!), auf dieser Hardware von 4Cores/4Ghz, dann sind das rein schachlich gesehen sehr viel hochwertigere Games, als sie je ein Großmeister-Turnier hervorbringen könnte. (Ob die Partien auch so kreativ und spannend sind, ist wieder eine andere Frage…) Solche Patzer, wie sie die GM (und wir Menschen alle) produzieren, suchst du in modernen Computerschach-Partien vergeblich. Wenn also heutzutage “hochwertige Games” entstehen, dann gewiss nicht in den Turniersäälen, sondern auf den Festplatten… Ich meine, was diesen Punkt angeht, müssen wir deine “Menschenhand” vergessen und der “Maschine” inzwischen den Primat überlassen – aus Sicht einer humanoiden Pietät schmerzlich, aber unumgänglich…
b) “Hunderte von hochwertigen Games” sind problemlos in ein paar Stunden zu haben: Nimm einfach die aktuell schnellste (im Handel verfügbare) Hardware und lasse Stockfish&Co. ein paar Stunden lang Partien mit 1-Minuten-pro-Engine-Partien austragen, et voila…
c) Bezüglich Fernschach gebe ich dir vollumfänglich recht: Hier sind jene Spieler die erfolgreichen, welche die Vorschläge der Software vielzügig kanalisieren können. Deshalb schrieb ich ja von der “Symbiose” von Mensch und Maschine im FS.
MfG Walter