Walter Eigenmann: Das h6-Syndrom (Schach-Satire)

Das h6-Syndrom

von Walter Eigenmann

Meine sehr ver­ehr­ten Damen und Herren!

Wie lau­tet noch gleich eines der 10 Gebote, das wir unse­ren Schach-ler­nen­den Zög­lin­gen in Schu­len und Ver­ei­nen stets mit grösst­mög­lich erho­be­nem Zei­ge­fin­ger auf den Tur­nier-Lebens­weg mitgeben?
Rich­tig: “Du sollst nicht unnö­tig bewe­gen dei­ner Rochade Bauern!”
Immer und immer wie­der pre­di­gen wir’s ihnen – doch was machen die Kids?! Sie gehen nach Hause, wer­fen ihre Com­pu­ter mit den gros­sen Daten­ban­ken an, scrol­len neu- und wissbe-gie­rig durch die Gross­meis­ter-Par­tien – und wer­den dabei mit einem Mas­sen-Phä­no­men kon­fron­tiert, das alle päd­ago­gi­schen Bemü­hun­gen zunichte zu machen droht. Die­ses Phä­no­men mani­fes­tiert sich bei­spiels­weise in Stel­lun­gen wie der folgenden:

h6-Syndrom Nr.1
Griesmann-Nicot 1953

Das h6-Syndrom Nr. 1: Griesmann-Nicot 1953 - r2q1rk1/ppn3bp/2pp1np1/6B1/2PP2B1/2N4R/PP1Q1P2/2KR4 b - - 0 18
Das h6-Syn­drom Nr. 1: Gries­mann-Nicot 1953 – r2q1rk1/ppn3bp/2pp1np1/6B1/2PP2B1/2N4R/PP1Q1P2/2KR4 b – – 0 18

Wir haben es hier mit einem extrem ver­brei­te­ten, nicht kon­trol­lier-, aber meist vor­aus­seh­ba­ren, reflex­ar­ti­gen Fin­ger­zu­cken zu tun, das jede und jeden, ob Anfän­ger oder Gross­meis­ter, ob dick oder dünn, ob Mensch oder Maschine, ob blöd oder genial befal­len kann. Näm­lich das unwill­kür­li­che, sofort-ruck­ar­tige, kogni­tiv nicht mehr gesteu­erte Auf­zie­hen des schwar­zen h7-Bau­ern um einen Schritt, sobald auf g5 ein weiβer Läu­fer auf­ge­taucht ist. (Wobei die­ser Reflex natür­lich nicht auf die Füh­rer der schwar­zen Steine beschränkt ist, son­dern mit umge­kehr­ten Vor­zei­chen genauso häu­fig die Weis­sen mit ihrem gelieb­ten h2-h3 befällt…) Jeden­falls hat diese h7-h6-Zuckung enor­mes Sucht­po­ten­tial – bei häu­fi­gem Befall führt es unwei­ger­lich in den tota­len Elo-Ruin.
Die Rede ist vom soge­nann­ten h6-Syn­drom.

Was gemeint ist, sieht man sogleich, wenn man in obi­ger Stel­lung (immer­hin gespielt in Frank­reichs Fern­schach-Meis­ter­schaft 1953) so beob­ach­tet, was nun die Her­ren Meis­ter­spie­ler – Vor­bil­der unse­res Nach­wuch­ses! – wei­ter treiben:

18…h6? 19.Lxh6 Sxg4 [19…Tf7 20.Lxg7 Txg7 21.Tg1+-] 20.Lxg7 Kxg7 [20…Txf2 21.Th8+-] 21.Tdh1 Se8 [21…Sf6 22.Dh6 Kf7 23.Se4 Se6 (23…Sxe4 24.Tf3 Ke6 25.Dxg6+-) 24.Tg1+-; 21…Se6 22.Th7 Kg8 (22…Kf6 23.Se4 Kf5 24.f3+-) 23.f3+-] 22.Th7+- und die Droge h7-h6 hat ein neues Opfer gefordert. – –

Die zwei Krankheitsbilder des h6-Syndroms

Das ganze Syn­drom lässt sich psy­cho­lo­gisch in zwei spe­zi­fi­sche Krank­heits­bil­der unter­tei­len. Da wäre als das eine Motiv:

1. Die Ablenkung

Vor­ste­hen­des Dia­gramm illus­trierte deut­lich den entspr. Krank­heits­ver­lauf – hier ein wei­te­res Beispiel:

h6-Syndrom Nr.2
Miles-Fedorowicz 1981

Das h6-Syndrom Nr. 2: Miles-Fedorowicz 1981 - r2qrbk1/1p3p1p/p1bp1np1/n1p3B1/4P3/1PN3PP/P1PQNPBK/3R1R2 b - - 0 16
Das h6-Syn­drom Nr. 2: Miles-Fedo­ro­wicz 1981 – r2qrbk1/1p3p1p/p1bp1np1/n1p3B1/4P3/1PN3PP/P1PQNPBK/3R1R2 b – – 0 16

Eben ist auf g5 der weisse Läu­fer erschie­nen, und sofort ver­fällt der Pati­ent der wahn­haf­ten Vor­stel­lung, er müsse mit­tels h7-h6 den Ein­dring­ling ablen­ken, um so den Punkt f6 zu ent­las­ten, wonach man sich viel­leicht an einem geg­ne­ri­schen Bau­ern schad­los hal­ten könne. Ein fol­gen­schwe­rer Irr­tum, der fast zwangs­läu­fig zum Kol­laps des gesam­ten schwar­zen Bezie­hungs­net­zes führt – ein klei­ner Schritt für den Bau­ern, aber ein gros­ses Pro­blem für den König:

16…h6? 17.Lxh6 Lxh6 [17…Lxe4 18.Lxf8 Lxg2 (18…Kxf8 19.Dh6 Kg8 (19…Ke7 20.De3 +-) 20.Sxe4+-; 19.Kxg2 Kxf8 (19…Txf8 20.Dxd6+-) 20.Dh6 Kg8 21.f4+-] 18.Dxh6 Sxe4 19.Sxe4 Lxe4 20.Sf4+-

Das andere, noch weit häu­fi­gere Sucht-Motiv, wel­ches dem h6-Syn­drom zugrunde liegt, ist

2. Die Vertreibung

Die Ver­trei­bung hat eben­falls eine krank­hafte Vor­spie­ge­lung fal­scher Tat­sa­chen zur Grund­lage, näm­lich den begreif­li­chen Wunsch, dass sich der Geg­ner zurück­zie­hen möge. Was die­ser natür­lich nicht tut – im Gegen­teil: Der Syn­drom-Bauer wird als gefun­de­nes Fres­sen inter­pre­tiert, gewalt­sam aus dem feind­li­chen Bau­ern­kör­per extra­hiert – wodurch unwei­ger­lich die gesamte Rochade-Bau­ern­pha­lanx mit in den Abgrund geris­sen wird.
Hierzu erneut ein paar instruk­tive Fall-Bei­spiele, um zu zei­gen, welch tra­gi­sches Ende die­ses zwang­hafte Fin­ger­zu­cken neh­men kann. Denn die Fol­ge­schä­den sind in den meis­ten Fäl­len irrepa­ra­bel. Dabei bedür­fen die medi­zi­ni­schen Indi­ka­tio­nen der unten­ste­hen­den Pati­en­ten-Schick­sale eigent­lich kei­ner wei­te­ren Kom­men­tie­rung. Man beachte jeweils die Schnel­lig­keit, mit wel­cher das Opfer Zug um Zug der Ago­nie anheim­fällt. Denn die Krank­heit ver­läuft immer in den glei­chen drei Sta­dien: 1.Bauernzug – 2.Läufer-Befall – 3.Exitus.

h6-Syndrom Nr.3
Kotkov-Razinkin 1960

Das h6-Syndrom Nr. 3: Kotkov-Razinkin 1960 - 2r2rk1/1bq1bppp/p4n2/np1P2B1/3p4/5N1P/PP3PP1/RB1QRNK1 b - - 0 17
Das h6-Syn­drom Nr. 3: Kot­kov-Razin­kin 1960 – 2r2rk1/1bq1bppp/p4n2/np1P2B1/3p4/5N1P/PP3PP1/RB1QRNK1 b – – 0 17

17…h6? 18.Lxh6 Sxd5 [18…gxh6 19.Dd2 Tfd8 (19…d3 20.Dxh6 mit Angriff) 20.Dxh6 Txd5 21.Sg3 Lf8 (21…Sc4 22.Sf5 +-; 21…d3 22.Lxd3 Txd3 23.Sf5 Lf8 24.Dg5+-) 22.Dxf6 mit Angriff; 18…Lxd5 19.Lg5 Sc6 (19…Tfe8 20.Sxd4 mit Angriff; 19…Lxf3 20.Dxf3 mit Angriff) 20.Sxd4 mit Angriff] 19.Lxg7 Kxg7 [19…Tfe8 20.Dd3 Sf6 21.Df5+-; 19…Tfd8 20.Sxd4 +-; 19…Sf6 20.Sxd4+-; 19…Lb4 20.Le5+-] 20.Dxd4+-

h6-Syndrom Nr.04
Vasiukov-Vasilchuk 1961

Das h6-Syndrom Nr. 4: Vasiukov-Vasilchuk 1961 - 2r1r1k1/1bq1bppp/p2p1n2/1p2pNB1/1n1PP3/3B1N1P/PP3PP1/R2QR1K1 b - - 0 18
Das h6-Syn­drom Nr. 4: Vasi­ukov-Vasil­chuk 1961 – 2r1r1k1/1bq1bppp/p2p1n2/1p2pNB1/1n1PP3/3B1N1P/PP3PP1/R2QR1K1 b – – 0 18

18…h6? 19.Lxh6 Lf8 [19…Sxd3 20.Dxd3 gxh6 21.Sxh6 Kf8 (21…Kh7 22.Sxf7 Kg7 (22…Kg6 23.S3g5 mit Angriff) 23.S3g5 mit star­kem Angriff) 22.Sf5 mit star­kem Angriff; 19…gxh6 20.Dd2 Sxd3 (20…Lf8 21.Dxb4+-) 21.Dxh6 mit star­kem Angriff] 20.Lg5 Sxd3 [20…Sh7 21.Tc1 Dd7 (21…Db8 22.Lb1+-) 22.Lb1 mit star­kem Angriff] 21.Dxd3 mit star­kem Angriff.

h6-Syndrom Nr.5
Levy-Bonner 1967

Das h6-Syndrom Nr.5: Levy-Bonner 1967 - r3r1k1/p3bppp/2q1pn2/1pn3B1/7Q/2P3N1/PPB2PPP/3R1RK1 b - - 0 18
Das h6-Syn­drom Nr.5: Levy-Bon­ner 1967 – r3r1k1/p3bppp/2q1pn2/1pn3B1/7Q/2P3N1/PPB2PPP/3R1RK1 b – – 0 18

18…h6? 19.Lxh6 Sd5 [19…gxh6 20.Dxh6 Sfe4 21.Sxe4 Sxe4 22.Td4 +-] 20.Dg4 +-

h6-Syndrom Nr.6
Diemer-Markus 1974

Das h6-Syndrom Nr. 6: Diemer-Markus 1974 - r2q1rk1/pp1n1ppp/2pbpn2/6B1/3P3Q/2NB3P/PPP3P1/R4RK1 b - - 0 12
Das h6-Syn­drom Nr. 6: Die­mer-Mar­kus 1974 – r2q1rk1/pp1n1ppp/2pbpn2/6B1/3P3Q/2NB3P/PPP3P1/R4RK1 b – – 0 12

12…h6? 13.Lxh6 gxh6 (Var): 14.Se4 Le7 15.Dxh6 Sxe4 16.Lxe4 f5 17.Dxe6 Kg7 18.Lxf5 (mit star­kem Angriff)

Auch du, Maschine?

Soweit zum h6-Syn­drom im Zusam­men­hang mit mensch­li­chen Opfern, wobei sich hin­ter die­sen weni­gen Bei­spie­len natür­lich eine rie­sige Dun­kel­zif­fer ver­birgt. Der geneigte Leser sei auf die groβen aktu­el­len Schach-Daten­ban­ken ver­wie­sen, in denen aber­tau­sende sol­cher h6-Opfer ihr elen­des Dasein fristen.
Maschi­nen wenigs­tens, so hört man zuwei­len hof­fen, seien doch aber gegen den h6-Virus immun, da sie mit ihrem eher emo­ti­ons­lo­sen Natu­rell für eine kogni­tive Bewäl­ti­gung lebens­be­droh­li­cher Situa­tio­nen bes­ser gerüs­tet seien als Menschen?
Weit gefehlt! Auch Sili­kan­ten reagie­ren wie Huma­no­ide auf Extremstress (bei­spiels­weise Geg­ner-Läu­fer) mit dem tota­len Ver­lust jeg­li­cher Ratio­na­li­tät. Als Beweis in rea­li­ter lege man expe­ri­men­tell die obi­gen Fall-Stu­dien einer klei­nen Runde von Engine-Soft­ware zur “Begut­ach­tung” vor – quasi als Ror­schach-Test. Man wird ver­blüfft sein, wie schnell auch bei Pro­gram­men der fatale h6-Reflex spielt: Ein geg­ne­ri­scher Läu­fer hat die Mit­tel­li­nie über­schrit­ten; die Pawlov’sche Lampe im Pro­gram­mie­rer leuch­tet auf; der h-Bauer fährt blitz­schnell nach vorne – und der Teu­fels­kreis ist perfekt!

Zwei abschlies­sende, instruk­tive Illus­tra­tio­nen des h6-Syn­droms bei Schach­pro­gram­men beleuchte noch­mals die ganze Trag­weite die­ser Volkskrankheit:

h6-Syndrom Nr.7
Amateur 2.82 – Abrok 5 (Internet 2005)

Das h6-Syndrom Nr. 7: Amateur 2.82 - Abrok 5 (Internet 2005) - r2r2k1/p4pbp/n1pp1np1/4p1B1/Pq2P3/1P3B1P/2PQ1PP1/1N1R1RK1 b - - 0 17
Das h6-Syn­drom Nr. 7: Ama­teur 2.82 – Abrok 5 (Inter­net 2005) – r2r2k1/p4pbp/n1pp1np1/4p1B1/Pq2P3/1P3B1P/2PQ1PP1/1N1R1RK1 b – – 0 17

17…h6? 18.Lxh6 Lxh6 19.Dxh6 Sxe4 [ 19…Sc5 20.Tfe1 mit Angriff] (Var.): 20.Tfe1 Sac5 21.Lxe4 Sxe4 22.Dh4 mit Angriff

h6-Syndrom Nr.8
ProDeo 1 – ElChinito 3.4c (Internet 2005)

Das h6-Syndrom Nr. 8: ProDeo 1 - ElChinito 3.4c (Internet 2005) - r2q1rk1/1p1bbppp/p1n1pn2/6B1/P1BP3Q/2N2N2/1P3PPP/R2R2K1 b - - 0 14
Das h6-Syn­drom Nr. 8: Pro­Deo 1 – ElChi­nito 3.4c (Inter­net 2005) – r2q1rk1/1p1bbppp/p1n1pn2/6B1/P1BP3Q/2N2N2/1P3PPP/R2R2K1 b – – 0 14

14…h6? 15.Lxh6 gxh6 [ 15…Sa5 16.Ld3+-] 16.Dxh6 Dc7 [ 16…Te8 17.d5+-; 16…Sb4 17.Sg5+-; 16…Da5 17.Se5+-; 16…Sg4 17.Df4 f5 18.h3+-; 16…Sd5 17.Td3 Lf6 18.Sg5 Lxg5 19.Tg3+-] 17.Ld3 Sb4 [ 17…Tac8 18.Te1+-; 17…Tad8 18.d5 Se5 19.Dg5+ Sg6 20.Lxg6 fxg6 21.Dxg6++-] 18.Se5+-

Wie man sieht, bedarf es noch Jahre des gedul­di­gen Suchens und For­schens, bis man die Pro­gram­mie­rer end­gül­tig hei­len kann. Für nor­male Men­schen hin­ge­gen, befürchte ich, kommt alle Hilfe zu spät.
Denn ein medi­zin­his­to­ri­scher Rück­blick auf 500 Jahre Schach­ge­schichte belehrt jeden Opti­mis­ten eines bes­se­ren: Gegen solch zwang­hafte Ver­füh­run­gen wie h7-h6 (oder h2-h3) erwies sich der Mensch seit je her als nicht-resis­tent. “Kein Geg­ner-Läu­fer auf g5/g4!” scheint Aus­druck eines Ur-Instink­tes zu sein, ja scheint auf ata­vis­ti­sche, der Spe­zies gleich­sam gene­tisch ver­wur­zelte Schich­ten des Daseins zu verweisen.

Kurzum: das h6-Syn­drom ist weder ein schach­li­ches noch ein medi­zi­ni­sches, es ist ein meta­phy­si­sches, ja exis­ten­ti­el­les Pro­blem. Die­ses kön­nen wir nicht lösen. Wir müs­sen mit ihm leben.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!

Prof. Dr.Dr.schach.med.hist. W. Eigenmann

Lesen Sie im Glarean Maga­zin zum Thema „Schach und Humor“ auch die Anek­do­ten aus der Welt des Schachs
… sowie zum Thema Schach-Sati­ren auch von Lars Bre­mer: Die 32-Steiner

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