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Brücke zwischen den Welten
von Christian Busch
Schon der vor 100 Jahren geborene Leonard Bernstein trat für die Verwischung der Grenzen von Unterhaltungs- und Ernster Musik ein. In seinen Werken gingen Jazz und Klassik eine erstaunliche Symbiose ein, die ein breites Publikum für sich einnahm und die tiefen Gräben zwischen beiden scheinbar gegensätzlichen Musikkulturen vergessen liess. Aus “Romeo und Julia” wurde die “Westside-Story”.
Auf seinem neuen, bei Cargo Records erschienen Album “Avalanche” wendet sich Ausnahmepianist Dirk Maassen, mittlerweile mit über einer Million monatlichen Hörern auf Spotify, iTunes und Co. einer der präsentesten deutschen Komponisten und Performers für postmoderne Klangmusik, nicht mehr nur an eine flüchtige Online-Gemeinde, sondern auch an ein dem festen Tonträger wie CD und Vinyl verbundenes Publikum. Dabei kombiniert er – wie Bernstein – gekonnt die unterschiedlichen Bereiche. Mal balladesk, mal impressionistisch, mal liedhaft geschlossen, mal atmosphärisch verdichtet und mit Freude am Experimentieren, wie zum Beispiel in dem fado-artigen Gitarrenstück “Allewind”, gibt Maassen, 1970 bei Aachen geboren und in Ulm lebend, ein vielfältiges und facettenreiches Spektrum seiner Kunst.
Cineastisch untermalender Impressionismus
Seine Titel, etwa “Eclipse”, “Nocturne”, “Falling stars”, “Muse”, “Liberty” wurzeln in romantischen Klang- und Bilderwelten, sind aber eher impressionistisch cineastisch untermalend, jedoch keineswegs unmelodiös gestaltet. Vor allem in “Muse” gelingt die völlig nach innen gekehrte Transponierung des romantischen Interieurs in neuzeitliche Klang- und Vorstellungswelten, bevor er sich in “Spirit” wieder mehr den nach aussen gekehrten unverwüstlichen Jazz-Welten nähert, ohne indes ganz in ihr aufzugehen.
Die Begleitung durch das Deutsche Filmorchester Babelsberg fungiert weitgehend als sphärischer Hintergrund. So assoziiert der Hörer bei manchen, mehr als kontemplativen Sequenzen wohl unfreiwillig schon eine potentielle Filmszene, etwa den Journalisten Sebastian Zöllner, der in Kaminskis Tiefenschichten stöbert – oder natürlich auch etwas ganz anderes. Hier hinterliess die Zusammenarbeit mit Lorenz Dangel, dem Träger des Deutschen Filmpreises (für die beste Filmmusik in “Ich und Kaminski”) unüberhörbar ihre Spuren. Auch die Nähe von “Helios” zur Filmmusik von “Das Piano” (1993) sowie die von “Nocturne” zur berühmten “Love Story” soll erwähnt werden.
Harmonisch geglättete Melodieführung
Die Melodieführung – keineswegs von epischer Länge – ist dabei noch gefälliger, harmonisch geglätteter als etwa bei den berühmten nächtlichen, elegisch-träumerischen Charakterstücken eines Frédéric Chopins oder Gabriel Faurés. So kommt “Gravity” doch deutlich leichtfüssiger daher als etwa das berühmte “Regentropfen”-Prélude Chopins.

Zusammengefasst: Maassens fast neo-romantische Musik in “Avalanche” legt bei modernen Menschen verborgene Sehnsucht, Ängste und den Wunsch nach Freiheit offen. Sicher der Grund für seinen enormen Erfolg! Am Ende kann der Hörer darin sein Glück finden oder aber wieder in die eine oder andere Sphäre zurückkehren, sei es in die lautere, extrovertiertere und dem Leben zugewandte Jazz-Welt oder in die strenge Tiefe von Beethovens “Mondscheinsonate” – oder gar in die existentielle Abgründigkeit einer Schubert-Sonate. Jedenfalls ist die Brücke zwischen U- und E-Musik mal wieder gekonnt geschlagen – auf dass viele sie ergreifen, um “hinüberzugehen und wiederzukehren”. ♦
Dirk Maassen: Avalanche – Musik-CD, 45 min, Cargo Records
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