Wendel Schäfer: Über den Kopf (Groteske)

Über den Kopf

Wen­del Schäfer

Es war schon dun­kel, als To­bi­as die Haus­tür öff­ne­te – und auch schon von ei­nem Mann mit vor­ge­hal­te­ner Pis­to­le zu­rück ins Haus ge­drängt wur­de. Rück­wärts bis in sein Arbeitszimmer.
“Hin­set­zen und schön die Hän­de auf den Tisch!” herrsch­te ihn der Ein­dring­ling an. Fisch­te ei­nen Stuhl aus der Ecke und plat­zier­te sich ge­gen­über. To­bi­as kon­zen­trier­te sei­ne Au­gen ins Ge­sicht des Frem­den, dann run­ter auf den Re­vol­ver und wie­der hoch zum Ge­sicht und wie­der zur Waf­fe. Ein selt­sa­mes Ding. Eine Mi­schung aus Was­ser- und phan­tas­ti­scher Raum­pis­to­le mit Flü­gel­chen an den Sei­ten. Sah aus wie eine kampf­be­rei­te Kra­gen­ech­se. To­bi­as kann­te sich aus. Beim Mi­li­tär hat­te er es mit al­ler­lei Waf­fen zu tun ge­habt. Auch mit der schwe­ren Pis­to­le, die ihm bei je­dem Schuss den Arm hoch warf. Hier war er sich nicht si­cher. Das Rohr je­den­falls war aus Me­tall, und in der halb ge­öff­ne­ten Spie­gel­schrank­tür glänz­te das Mes­sing der Pa­tro­nen­män­tel in der Trommel.
“Hier, lies”, fuhr ihn der Frem­de an, “Sei­te 44”, und schob ihm eine Zeit­schrift hin. “Da, das Ge­dicht. Das mit der Krähe.”
To­bi­as war die Zeit­schrift ver­traut. Hat­te dort hin und wie­der klei­ne­re Tex­te veröffentlicht.
“Das Ge­dicht ken­ne ich, ge­fällt mir.” Und drück­te das Heft zurück.
“Schön die Hän­de zu­sam­men auf der Plat­te las­sen! ‘Ge­fällt mir’. Fein! Ge­fällt mir auch. Na klar, ge­fällt es dir! Mir aber noch mehr. Das ist mein Ge­dicht, ver­stehst du, mein Ge­dicht. Mei­ne Idee.” Zog ein ver­gilb­tes Blatt aus der Zeit­schrift und schubs­te es To­bi­as hin.
“Vor zwei Jah­ren ge­schrie­ben. Und schon ge­klaut. Al­les hat man mir ge­klaut. Mei­ne bes­ten Ideen ha­ben sie mir ge­stoh­len. Ich hab näm­lich ei­nen sehr er­fin­de­ri­schen Kopf. Al­les ma­che ich über mei­nen Kopf. Die ver­rück­tes­ten Din­ge. Wenn es sein muss. Ich war schon nahe dar­an, Fi­sche ohne Grä­ten zu züch­ten. Da hat man mir die Idee ge­stoh­len. Ich sage nur Fisch­stäb­chen. Ka­pierst du, was ich da­mit meine?”
To­bi­as ver­stand und wuss­te, dass sei­ne Lage viel pre­kä­rer war als an­fangs an­ge­nom­men. Auch war ihm klar, dass er den Frem­den re­den las­sen musste.
“Da ha­ben Sie be­stimmt noch an­de­re tol­len Sa­chen aus­ge­dacht”, er­mun­ter­te To­bi­as sein Gegenüber.
“Aber ja doch, das mit den Bäumen.”
“Was ist mit den Bäumen?”
“Es ist we­gen der Über­be­völ­ke­rung. Die Men­schen wer­den sich noch tot­tre­ten auf dem Pla­ne­ten. Wenn nur je­der zwei­te Baum ge­fällt wird, hät­ten alle für ein paar 100 Jah­re Platz ge­nug. Ich hab so­gar schon aus­ge­tüf­telt, wie viel Qua­drat­me­ter an­ge­fal­len wä­ren. Eine ganz schön kniff­li­ge Rechnerei.”
“Ge­ni­al”, wit­zel­te To­bi­as mit tod­erns­ter Miene.
“Und dann ha­ben sie die Re­gen­wäl­der ab­ge­holzt. Am Äqua­tor, wo so­wie­so kei­ner blei­ben will we­gen der un­heim­li­chen Schwü­le. So war mein Plan futsch. Mei­ne Idee geklaut.”
“Wei­ter”, dräng­te To­bi­as und liess das Re­vol­ver­ding nicht aus den Augen.
“In je­der Ecke der Erde ist Zank und Streit und Krieg. So kam ich auf die Idee, ganz spe­zi­el­le Brief­tau­ben zu ziehen.”
“Brief­tau­ben ge­gen den Krieg, ein­fach ge­ni­al”, pflich­te­te To­bi­as eif­rig bei.
“Kei­ne ge­wöhn­li­chen Brief­tau­ben. Frie­dens­tau­ben mit Palm­we­deln als Flü­gel. Ich liess sie mit Frie­dens­ideen in alle Kri­sen­her­de auf­stei­gen. Kei­ne kam zurück.
Ha­ben sie mir alle ein­ge­fan­gen und um­dres­siert. Flie­gen nun als Droh­nen und spio­nie­ren her­um. Und mei­ne Idee ist wie­der ge­stoh­len. Man kriegt die Die­be nie zu fas­sen. Le­ben alle im Ver­bor­ge­nen. Bil­den ge­hei­me Ge­sell­schaf­ten. Jetzt bin ich end­lich am Ziel. Ich hab dich fest­ge­setzt. Nun wird abgerechnet.”
Der Ein­dring­ling wur­de for­scher und ver­schärf­te den Ton. Die Waf­fe fes­ter gegriffen.
“So ein ge­nia­les Ge­dicht las­se ich mir nicht steh­len. Die Krä­he war aus Stein, ver­stehst du. Ge­ni­al. Kann na­tür­lich nicht spre­chen. Und woll­te so viel sa­gen. Krä­hen wis­sen viel. Kom­men weit her­um und wer­den alt. Sie hat auf mich ge­war­tet. Und dann kann sie nicht spre­chen. Die Krä­he war aus Stein. Ge­ni­al, ein­fach genial…”
“Das Ge­dicht ist so alt wie dei­ne Krä­he”, gab To­bi­as trot­zig zu­rück. Ich habe es schon vor 20 Jah­ren ge­schrie­ben. Hier ne­ben mir im Re­gal, das Ly­rik­bänd­chen, Herbstspuren.”
To­bi­as woll­te sich zu den Bü­chern wen­den, als der Frem­de ihn an­fuhr: “Mit ei­ner Hand. Die an­de­re bleibt auf dem Tisch!”
End­lich ge­lang es To­bi­as, das dün­ne Bänd­chen zu greifen.
“Ganz vor­ne das Er­schei­nungs­jahr und hin­ten das letz­te Ge­dicht. Das mit der Krä­he aus Stein. Du wirst stau­nen.” Und schob es ihm hin.
Der schlug es auf, stütz­te den El­len­bo­gen drauf, in der Faust den Re­vol­ver. Mit der an­de­ren blät­ter­te er un­be­hol­fen um. “1984. In der Tat schon et­was län­ger her. Und noch mü­he­vol­ler ge­lang­te er end­lich zum letz­ten Ge­dicht. Da­bei liess er To­bi­as nie aus den Au­gen. Und be­gann zu lesen:
‘Stein­zeit. In ei­ner Feldfurche…eine Krähe…ich frag­te sie…keine Antwort…aus Stein.’
Die letz­ten Wor­te ver­ebb­ten in Ge­mur­mel. Eine ver­lö­schen­de Stim­me ganz am Schluss. Das Ge­sicht hat­te ein Grau an­ge­nom­men. Die Wan­gen blut­leer, die Au­gen dunk­le Höh­len. Der Ober­kör­per fiel in sich zu­sam­men. Die Waf­fe war mit zitt­ri­ger Hand auf die Tisch­plat­te ab­ge­legt. Das Rohr aber nach vor­ne gerichtet.
“Dann muss ich das mit der Krä­he ir­gend­wo auf­ge­schnappt ha­ben. Mir kommt im Le­ben so vie­les über den Kopf. Man könn­te irr da­von wer­den. Ver­ste­hen Sie. Und dann die an­de­ren. Alle wol­len was von mir. Ver­fol­gen mich Tag und Nacht. Be­steh­len mich. Be­stim­men ein­fach über den Kopf. Sie be­nut­zen mich wie ein Spielzeug.”
“Spiel­zeug, wie das ko­mi­sche Schiess­ding hier”, wag­te sich To­bi­as vor.
“Spiel­zeug. Wir alle sind Spiel­zeug. – Ent­schul­di­gen Sie.”
Der Frem­de hielt sich den Re­vol­ver an die Schlä­fe – und drück­te ab. So­fort kipp­te er zur Sei­te und schlug auf dem Bo­den auf.
To­bi­as wähl­te die Num­mer der Po­li­zei. Ein Auto draus­sen und drän­geln­des Klin­geln lös­te die Starre.
Er stand auf, um den Po­li­zis­ten zu öff­nen. Und mach­te ei­nen gros­sen Schritt über den Kopf ei­nes to­ten Dich­ters und ge­nia­len Denkers. ♦


Wendel Schäfer: Über den Kopf (Groteske)

Wen­del Schäfer

Geb. 1940 in Bundenbach/D, Stu­di­um der Grund-, Haupt- und Son­der­schul-Päd­ago­gik in Ko­blenz und Mainz, lang­jäh­ri­ge Un­ter­richts­tä­tig­keit in der Leh­rer­bil­dung, zahl­rei­che Buch- und Zeit­schrif­ten-Pu­bli­ka­tio­nen, um­fang­rei­che Ver­bands- und her­aus­ge­be­ri­sche Ak­ti­vi­tä­ten, lebt als Schrift­stel­ler in Boppard/D

Le­sen Sie im Glarean Ma­ga­zin auch den Kurz­pro­sa-Text von
Nor­bert Stern­mut: Die Auferstehung

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