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Heisse Lust oder heisse Luft?
von Bernd Giehl
Gedichte schreiben ist kein grosses Risiko. Niemand muss wissen, dass man so etwas tut. Man muss sie ja niemandem zeigen. Das Unglück ist nur: Gedichte kommen meist aus dem überquellenden Herzen. Sie werden nicht geschrieben, damit sie in der Schublade vergilben, sondern damit jemand sie liest, der so ähnlich fühlt. Also zeigt man sie den Menschen, die man liebt: der Freundin oder dem Freund, und jenen, von denen man annimmt, dass sie einen verstehen. Die werden schon nicht allzu kritisch mit ihnen umgehen.
Und irgendwann kommt vielleicht auch der Zeitpunkt, wo man beschliesst, die eigenen Produkte seien so gut, dass man sie einer grösseren Öffentlichkeit präsentieren will. Dann kann man nicht mehr unbedingt mit dem Wohlwollen der Leser rechnen; dann wird es womöglich auch Kritik geben.
Dieser Tatsache ist sich der Autor des neuen Lyrik-Bändchens “Dolor de Desiderio” bewusst; Jasha Gnirs schreibt in seinem Vorwort: “Es mag sein, dass dieses künstlerische Werk wenig Beachtung finden und in irgendeiner Schublade landen wird, ohne gelesen und ohne gehört zu werden. So mag es sein, dass dieses Werk der Schreibtischschublade unnötigerweise Platz wegnimmt.”
Kein schöner Gedanke, aber immerhin ist Autor Gnirs der Ironie fähig. Allerdings stellt er dann auch noch den Anspruch, seine Gedichte seien Kunst – und spätestens da wird es ernst.
Gesucht: Originalität
Nun will ich nicht gleich das ganz grosse Geschütz auffahren und behaupten, ein Kunstwerk müsse völlig neu und überraschend sein und etwas ausdrücken, was so noch nie gedacht oder dargestellt worden ist. Gemessen an diesem Anspruch gibt es wohl nicht viel Kunst, denn vermutlich ist alles schon einmal gedacht worden, und die Möglichkeiten neu zu malen oder zu schreiben sind begrenzt. Dennoch: ein bisschen Originalität wird man schon fordern dürfen…
Aber die Gedichte von Jasha Gnirs sind nicht originell. Je mehr von ihnen man liest, desto weniger passen sie in dieses Jahrhundert. Eher hat man das Gefühl, ein nicht besonders erfolgreicher Dichter aus der Romantik des frühen 19. Jahrhunderts habe sich zu uns verirrt und biete nun seine Sachen aus dem Bauchladen dar.
Man erkennt ihn schon an seiner altmodischen Kleidung. Alle Gedichte sind gereimt. Das ist zwar neuerdings wieder möglich, aber dann sollte der Inhalt umso überraschender sein.
Und sie handeln von einem Thema, über das schon unzählige Dichter geschrieben haben. Vielleicht wollte der Autor das ein wenig verschleiern, indem er den auf den ersten Blick etwas rätselhaften Titel “Dolor de Desiderio” (“Schmerz der Sehnsucht”) wählte.
Herzblut ohne Distanz
Sicher: Es geht um die Wunden, die das Leben uns zufügt. Darüber kann man schreiben. Nur braucht es dafür nicht nur viel Herzblut, sondern auch einiges an Distanz, wenn man nicht allzu persönlich werden will. Dafür fehlt Gnirs aber offensichtlich der Mut. Er will geliebt werden. Und so entstehen Gedichte wie das folgende (Zitat):
Das zweite Blühen
Komm, du Leser und begib dich leise
Mit mir auf eine lange Reise
In die weiten Weiten des Himmelreichs.Komm du nur und scheu dich nicht
Siehst du nicht das kleine Licht
Das am Ende dieses Weges weilt?Ich sehe es, ich fühle es.
Mir wird ganz warm um meine Brust!
Auf einmal spür ich heisse Lust!
Ich habe es schon lang gewusst,
Dass dies nicht das Ende ist.Denn endet wo ein langes Leben
Endet wo ein ewig‘ Streben
So beginnt nun hier das neue Fühlen.
Das liebe Lachen, das zweite Blühen.
Und so weiter.
Es mag Menschen geben, die sich nicht an der altertümelnden Sprache und den verbrauchten Bildern (“heisse Lust”, “ewig‘ Streben” etc.) stören. Ich gehöre nicht dazu.
Ich glaube, ich weiss, wo das Büchlein seinen Platz finden wird. ♦
Jasha Gnirs: Dolor de Desiderio – Gedichte, 62 Seiten, Rediroma Verlag, ISBN 978-3-96103-620-2
Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Lyrik auch den Literatur-Essay von Bernd Giehl: Nachdenken über Luxus – Eine Anmerkungen zum Schreiben von Gedichten
… sowie die literarische Meditation von Johann Voss: Warum noch Gedichte? – Die Provokation der modernen Poesie