Ariel Magnus: Die Schachspieler von Buenos Aires (Roman)

Ungeplante Schach-Wege

von Thomas Binder

Romane, die im Schach-Milieu han­deln, gibt es zwar viele – aber die wirk­lich guten Romane in die­sem Umfeld sind so häu­fig nicht. Wenn dann ein eta­blier­ter und aner­kann­ter Schrift­stel­ler als Autor fun­giert, kann man nur von einem abso­lu­ten Glücks­fall spre­chen. Die­ser Glücks­fall ist mit “Die Schach­spie­ler von Bue­nos Aires” des deutsch­stäm­mi­gen Argen­ti­ni­ers Ariel Magnus eingetreten.
Der Roman hat in den Kul­tur­re­dak­tio­nen des öffent­lich-recht­li­chen Rund­funks in Deutsch­land flä­chen­de­ckend Auf­merk­sam­keit gefun­den und wohl­wol­lende bis eupho­ri­sche Kri­ti­ken erhal­ten. Damit haben beru­fene Lite­ra­tur­kri­ti­ker ihr Urteil gefällt, und wir wol­len uns hier auf den Schach­spie­ler bzw. –inter­es­sen­ten als Ziel­gruppe beschränken.

Who is Who des Schachs vor dem 2. Weltkrieg

Ariel Magnus - Die Schachspieler von Buenos Aires - Roman - Rezension Glarean MagazinBei den Stich­wor­ten “Bue­nos Aires” und “Schach” denkt auch der in Sachen Schach­ge­schichte Bewan­derte merk­wür­di­ger­weise nicht an die zeit­lich viel näher­lie­gende Schach­olym­piade von 1978, son­dern sicher an die Ereig­nisse von 1939. Erin­nern wir uns: In der argen­ti­ni­schen Haupt­stadt fand die bis dato grösste Schach­olym­piade statt. Die Teil­neh­mer lesen sich – trotz Abwe­sen­heit der Sowjet­union und der USA – wie ein “Who is Who” jener Zeit: Alje­chin, Capa­blanca, Keres, Naj­dorf, Stahl­berg, Tartakower…
Doch das sport­li­che Gesche­hen geriet in den Hin­ter­grund, als in Europa der zweite Welt­krieg aus­brach. Er hatte unmit­tel­bare Fol­gen für das Gesche­hen in Argen­ti­nien. So reis­ten viele Spie­ler – dar­un­ter die gesamte deut­sche Mann­schaft – nicht in ihre Hei­mat zurück, son­dern bau­ten sich in Süd­ame­rika eine neue Exis­tenz auf. Wäh­rend die Eng­län­der das Tur­nier sofort ver­lies­sen, wurde in eini­gen Wett­kämp­fen ein kampf­lo­ses 2:2 ver­ein­bart, da sich die betei­lig­ten Län­der nun­mehr feind­se­lig gegenüberstanden.

Brisante Begegnung Deutschland vs Palästina

Beson­ders bri­sant war die Situa­tion zwi­schen Deutsch­land und dem Man­dats­ge­biet Paläs­tina, dem Vor­läu­fer des Staa­tes Israel. Paläs­tina ver­wei­gerte aus nach­voll­zieh­ba­ren Grün­den das Spiel, und so ergab sich die Situa­tion, dass Deutsch­land bei einem kampf­lo­sen Sieg durch ein “Geschenk der Juden” hätte Olym­pia­sie­ger wer­den kön­nen. Die Auf­lö­sung die­ses Kon­flikts wird im Roman viel­schich­tig beleuchtet.
Par­al­lel zur Schach­olym­piade fand das Tur­nier um die Welt­meis­ter­schaft der Frauen statt. In Magnus‘ Roman nimmt diese Meis­ter­schaft gros­sen Raum ein, gese­hen aus der Per­spek­tive der Vize­welt­meis­te­rin Sonja Graf. Die Münch­ne­rin trat hier als Staa­ten­lose unter einer Phan­ta­sief­lagge an.

Geflecht aus Realem und Fiktivem

Ariel Magnus - Schriftsteller Argentinien - Glarean Magazin
Ariel Magnus (Geb. 1975)

Das alles sind nüch­terne Fak­ten, doch Ariel Magnus webt ein unver­gleich­li­ches Geflecht aus Rea­lem und Fik­ti­vem. Hand­lungs­ebe­nen ver­knüp­fen sich in meis­ter­haf­ter Weise. Dabei lässt er den Leser immer – manch­mal eine Spur zu deut­lich – erken­nen, ob er gerade an his­to­ri­schen Tat­sa­chen oder erdach­ten Geschich­ten par­ti­zi­piert. Den Ein­stieg lie­fert Magnus‘ rea­ler Gross­va­ter, des­sen Bezüge zu den (rea­len) Tur­nie­ren und ihren Prot­ago­nis­ten – allen voran Sonja Graf – natür­lich fik­tiv sind. Gänz­lich fik­tiv sind auch die Ver­su­che von ver­schie­de­ner Seite, in den Tur­nier­ver­lauf ein­zu­grei­fen, sogar einen Sieg der deut­schen Mann­schaft zu ver­hin­dern. Dann taucht auch noch Mirko Czen­to­vic auf, der (fik­tive) Held aus Ste­fan Zweigs Schach­no­velle. Diese aber ist – soweit der Höhe­punkt des Ver­wirr­spiels – 1939 noch gar nicht erschie­nen, Czen­to­vic kommt also quasi aus der Zukunft.

Die Frauen-WM 1939 im Fokus

Was den rein schach­li­chen Gehalt betrifft, liegt der Schwer­punkt auf dem Frau­en­tur­nier. Hier wer­den sogar die ent­schei­den­den Par­tien (aus­schwei­fend ver­bal) geschil­dert. Neu­gie­rig gewor­den, ent­hüllte sich mir erst beim Nach­spie­len in der Daten­bank, wie nahe Sonja Graf in der Par­tie gegen die schein­bar unschlag­bare Vera Men­chik eigent­lich dem Siege und wohl auch dem WM-Titel war.

Argentinien 1939: Nicht nur bei den Männern, sondern auch einige Teilnehmerinnen der Frauen-WM reisten vor dem Hintergrund des 2. Weltkrieges nicht mehr in ihre Heimatländer zurück. Die zuerst für Deutschland startende, dann staatenlose Sonja Graf wurde Vizeweltmeisterin.
Argen­ti­nien 1939: Nicht nur bei den Män­nern, son­dern auch einige Teil­neh­me­rin­nen der Frauen-WM reis­ten vor dem Hin­ter­grund des 2. Welt­krie­ges nicht mehr in ihre Hei­mat­län­der zurück. Die zuerst für Deutsch­land star­tende, dann staa­ten­lose Sonja Graf wurde Vize­welt­meis­te­rin. (Quelle: Wikipedia)

Die Män­ner-Olym­piade selbst hin­ge­gen wird mehr durch Milieu-Schil­de­run­gen und Por­trät­stu­dien ein­zel­ner Spie­ler leben­dig – und vor allem durch die Vor­gänge um das Spiel zwi­schen Deutsch­land und Paläs­tina. Im weit­aus über­wie­gen­den Teil des Tex­tes erle­ben wir also Schach aus der Sicht des Aus­sen­ste­hen­den, der mehr zufäl­lig mit den Tur­nie­ren und den Spie­lern bzw. Spie­le­rin­nen in Berüh­rung kommt – eben Gross­va­ter Magnus.

Meisterhafte Nebenstränge der Handlung

Neben den bekann­te­ren Akteu­ren wer­den dabei einige Teil­neh­mer zumin­dest zeit­weise in den Blick­punkt der Hand­lung geholt, die auch dem schach­ge­schicht­lich Inter­es­sier­ten nur wenig sagen, etwa die Ame­ri­ka­ne­rin Mona Karff (Fünfte der WM) oder Olym­piade-Spie­ler wie der Este Ilmar Raud und der für Paläs­tina spie­lende Vic­tor Winz.

FAZIT: “Die Schach­spie­ler von Bue­nos Aires” ist kein Schach­buch, son­dern ein Roman im Umfeld der Schach­olym­piade und der Frauen-WM 1939 in Bue­nos Aires. Vor dem Hin­ter­grund des aus­bre­chen­den Zwei­ten Welt­kriegs neh­men Lebens­wege eine unge­plante Wen­dung. Autor Ariel Magnus ver­webt in ein­zig­ar­ti­ger Weise reale und fik­tive Per­so­nen und Ereig­nisse zu einem lesens­wer­ten Gesamtkunstwerk.

Schliess­lich gibt es – wir haben einen veri­ta­blen Roman vor uns, kein Schach­buch – Neben­stränge der Hand­lung, die meis­ter­haft ange­legt und aus­mo­del­liert sind. Als Bei­spiel und Appe­tit­hap­pen seien nur die Dis­kus­sio­nen und Intri­gen in einer Zei­tungs­re­dak­tion genannt. Hier geht es u.a. um die exis­ten­zi­elle Frage, ob denn Schach nun Sport, Wis­sen­schaft oder Kunst (oder was sonst) sei.
Diese Frage stellt sich für den gan­zen Roman natür­lich nicht. Er ist ein Kunst­werk, er ist geho­bene Lite­ra­tur. Damit for­dert er den Leser auf jeder Seite. Man muss sich zwi­schen den ver­schie­de­nen Hand­lungs­li­nien, dem Rea­len und Fik­ti­ven zurecht­fin­den. Hand­lungs­text wech­selt mit Tage­buch-Zita­ten und Pres­se­aus­schnit­ten. Selbst an Fuss­no­ten wird nicht gespart. Schach­li­ches Wis­sen – ins­be­son­dere um die Hin­ter­gründe der Olym­piade von 1939 – ist dabei durch­aus hilf­reich. Den­noch sei gewarnt, wer sei­nen geis­ti­gen Kon­sum sonst nur aus tri­via­le­rer Lite­ra­tur befrie­digt. Das Lesen eines Romans von über 300 Sei­ten kann auch anstren­gende Arbeit sein. Wenn man aber die Neu­gier auf das behan­delte Sujet mit­bringt, ist diese Arbeit höchst vergnüglich. ♦

Ariel Magnus: Die Schach­spie­ler von Bue­nos Aires – Roman, aus dem argen­ti­ni­schen Spa­nisch von Silke Klee­mann, 336 Sei­ten, Kie­pen­heuer & Witsch Ver­lag, ISBN 978-3462050059

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