Ausstellungs-Katalog “Schach und Religion” (Ebersberg)

Geistesgeschichtlicher Blick auf das Schachspiel

von Thomas Binder

An we­ni­gen Ta­gen im Au­gust 2019 fand im Rat­haus des ober­bay­ri­schen Ebers­berg eine Aus­stel­lung un­ter dem Ti­tel “Schach und Re­li­gi­on” statt. Trotz Er­wäh­nung auf ge­mein­hin ein­fluss­rei­chen Home­pages hat sie in der klas­si­schen Schach-Öf­fent­lich­keit nur we­nig Wi­der­hall ge­fun­den. Nun hat die aus­rich­ten­de Schach- und Kul­tur­stif­tung ein Be­gleit­buch zu die­ser Schau her­aus­ge­bracht, das weit über ei­nen Aus­stel­lungs­ka­ta­log hin­aus geht.
Ka­ta­log­cha­rak­ter im her­kömm­li­chen Sin­ne ha­ben nur die letz­ten knapp 40 Sei­ten, auf de­nen die aus­ge­stell­ten Ex­po­na­te (vor­wie­gend Ge­mäl­de und Fi­gu­ren­sät­ze) ab­ge­bil­det wer­den. Für die­je­ni­gen Wer­ke, die im Text­teil des Bu­ches nicht nä­her be­spro­chen wer­den, sind die In­for­ma­tio­nen in die­sem Ab­schnitt lei­der et­was knapp.

Schach und Religion - Kulturstiftung GHS - Ausstellungs-Katalog - Cover - Glarean MagazinKom­men wir also zum gut 100 Sei­ten lan­gen Text­teil. Hier wer­den wir nicht etwa auf theo­lo­gi­sche Ab­hand­lun­gen stos­sen, son­dern er­fah­ren un­ter dem Ober­ti­tel “Schach und Re­li­gi­on” viel In­ter­es­san­tes aus der Ge­schich­te un­se­res Spiels. Der re­li­giö­se Aspekt dient da­bei mal mehr, mal we­ni­ger als Leit­fa­den, wird aber oft ge­nug ver­las­sen, und der Blick reicht deut­lich weiter.
Wer sich fragt, was denn wohl Schach und Re­li­gi­on mit­ein­an­der zu tun ha­ben, dem sei aus der Ein­lei­tung zu ei­nem Bei­trag des frü­he­ren DSB-Prä­si­den­ten Her­bert Bas­ti­an zi­tiert: Er be­zeich­net Schach und Re­li­gi­on als “… zwei Kul­tur­fak­to­ren mit welt­um­span­nen­der Be­deu­tung […] Bei­de ge­ben ih­ren An­hän­gern Halt und et­was Familiäres.”

Leseprobe

Schach und Religion - Kulturstiftung GHS - Ausstellungs-Katalog - Leseprobe - Glarean Magazin
“Schach und Re­li­gi­on” der Kul­tur­stif­tung GHS: Le­se­pro­be aus dem gleich­na­mi­gen Aus­stel­lungs-Ka­ta­log (Ebers­berg 2019)

Autoren mit wissenschaftlichem Anspruch

Den Le­ser er­war­ten ins­ge­samt acht Ar­ti­kel von un­ter­schied­li­chem Um­fang, de­nen frei­lich ge­mein ist, dass sie von sach­kun­di­gen Au­toren mit durch­aus wis­sen­schaft­li­chem An­spruch ge­schrie­ben wur­den. Das mag es dem Le­ser, der in die Ma­te­rie ge­ra­de erst ein­tau­chen will, hier und da et­was schwer ma­chen. An­ge­sichts der the­ma­ti­schen Viel­falt wird aber wohl je­der his­to­risch in­ter­es­sier­te Schach­freund Er­kennt­nis­se und Denk­an­stös­se mitnehmen.

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Der Salz­bur­ger Kul­tur­his­to­ri­ker Rai­ner Bu­land hat mit “Schach – Spiel – Re­li­gi­on” den Leit­ar­ti­kel (oder neu­deutsch: die Key­note) ge­schrie­ben. Er glie­dert sei­ne Ar­beit in fünf Ebe­nen. Zu­nächst wid­met er sich der Fi­gur des Läu­fers, der ja in man­chen Spra­chen ei­gent­lich ein Bi­schof ist. Dann ver­weist er dar­auf, dass vie­le Theo­lo­gen dem Schach­spiel zu­ge­tan wa­ren, es da­bei aber im grös­se­ren Zu­sam­men­hang als Al­le­go­rie ver­stan­den und in ihre Leh­re ein­ban­den. Dann geht Bu­land dar­auf ein, dass das Spiel durch­aus zeit­wei­se als Las­ter an­ge­se­hen und ge­gen sol­che Vor­wür­fe ver­tei­digt wer­den muss­te. Ei­nen gros­sen Um­fang neh­men die sehr in­ter­es­san­ten Un­ter­su­chun­gen zu der Ra­die­rung “Die Schach­spie­ler” von Mo­ritz Retzsch (1779 – 1857) ein. Schliess­lich stellt sich der Au­tor noch der Fra­ge, ob man das Schach­spiel selbst als Re­li­gi­on ver­ste­hen kann.

Profunde Artikel für Laien und Experten

Herbert Bastian - Schach-Funktionär Buchautor - Glarean Magazin
Ver­bands­funk­tio­när, In­ter­na­tio­na­ler Meis­ter, Schach­his­to­ri­ker: Her­bert Bastian

Im zwei­ten um­fang­rei­chen Bei­trag be­leuch­tet Her­bert Bas­ti­an das Ver­hält­nis von Schach und Re­li­gi­on an Bei­spie­len von den ers­ten Er­wäh­nun­gen an bis zur Ge­gen­wart. Bas­ti­an ist als pro­fun­der Ken­ner der Kul­tur­ge­schich­te des Schach­spiels nicht zu­letzt durch eine um­fang­rei­che Ar­ti­kel­se­rie in der Zeit­schrift “Ro­cha­de Eu­ro­pa” aus­ge­wie­sen. Da­her an eine brei­te Le­ser­schaft ge­wohnt, ist sein Text für den in­ter­es­sier­ten Lai­en so­gar et­was ein­fa­cher nach­zu­voll­zie­hen, als die doch sehr wis­sen­schaft­li­chen Aus­füh­run­gen bei Rai­ner Bu­land – gut, dass wir in die­sem Ka­ta­log bei­de Her­an­ge­hens­wei­sen finden.
Den drit­ten, sehr um­fang­rei­chen Ar­ti­kel ver­fass­te der Alt­phi­lo­lo­ge Wil­fried Stroh. Er bie­tet eine Neu­über­set­zung (aus dem La­tei­ni­schen) so­wie eine aus­führ­li­che In­ter­pre­ta­ti­on der “Schacho­de” des Je­sui­ten und Dich­ters Ja­cob Bal­de (1604 – 1668). Wenn im Vor­wort von ei­nem “be­rühm­ten Ge­dicht” ge­spro­chen wird, ver­deut­licht dies die an­ge­spro­che­ne Ziel­grup­pe. Als sehr wohl schach­his­to­risch be­le­se­ner In­ter­es­sent, wa­ren mir die­se Ode und ihr Au­tor – Asche auf mein Haupt – bis­lang völ­lig un­be­kannt und selbst der Wi­ki­pe­dia-Ein­trag über Bal­de er­wähnt die Schacho­de mit kei­nem Wort. Spä­tes­tens jetzt ahnt man also, dass die Neu­über­set­zung und In­ter­pre­ta­ti­on dem kri­ti­schen Blick der Fach­wis­sen­schaft Stand hal­ten wird, ja wohl rich­tungs­wei­sen­den Cha­rak­ter ei­ner Neu­be­wer­tung hat. Dem­entspre­chend an­spruchs­voll ist für li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­li­che Lai­en al­ler­dings auch die Lek­tü­re des 20 Sei­ten um­fas­sen­den Artikels.

Schachmatt - Geistliche Würdenträger beim Schachspielen - Holzstich von Thure Cederström 1880 - Glarean Magazin
“Schach­matt” nach ei­nem Holz­stich von Thu­re Ce­der­ström 1880: Geist­li­che Wür­den­trä­ger beim Schachspielen

Luther und Augustinus beim Schachspielen

Ein­ge­bet­tet in die­se drei “gros­sen Bro­cken” fin­den wir fünf kür­ze­re und in all ih­rer Un­ter­schied­lich­keit an­re­gen­de Texte.
Lo­kal­ko­lo­rit zum Ort der Aus­stel­lung steu­ert Ge­org Schwei­ger (Vor­stand der aus­rich­ten­den Stif­tung) mit dem Ar­ti­kel über die Schach­fi­gu­ren der Fal­ken­stei­ner Gra­fen bei. Bis ins 12. Jahr­hun­dert lässt sich nach­wei­sen, wel­che Be­deu­tung das Spiel in die­ser Herr­scher­fa­mi­lie und dar­über hin­aus für Adel und – als Be­zug zum Ti­tel der Aus­stel­lung – für den Kle­rus hat­te. In sei­nem zwei­ten Bei­trag er­läu­tert Schwei­ger, war­um die Hei­li­ge Te­re­sa von Avila (1515 – 1582) die Pa­tro­nin der Schach­spie­ler ist. Auch hier ist Ihr Re­zen­sent pein­lich be­rührt von ei­ner bis­he­ri­gen Wis­sens­lü­cke, hat­te ich doch bis­her nur Cais­sa gekannt.

Glarean Magazin - Muster-Inserat - Banner 250x176Mit zwei kur­zen Bei­trä­gen ist der His­to­ri­ker so­wie en­ga­gier­te Schach­spie­ler und -or­ga­ni­sa­tor Kon­rad Reiss ver­tre­ten. Reiss dürf­te ei­ner grös­se­ren Öf­fent­lich­keit vor al­lem als Lei­ter des Schach­mu­se­ums in Löbe­ritz be­kannt sein. Die bei­den Ar­ti­kel ver­bin­den Schach und Re­li­gi­on in kon­ge­nia­ler Wei­se mit Reiss‘ mit­tel­deut­scher Hei­mat. Er stellt uns die Schach­al­le­go­rie im Dom zu Naum­burg vor: Zwei schach­spie­len­de Af­fen an ei­nem Pfei­ler­sims la­den zu je­der Art von In­ter­pre­ta­ti­on ein. Sei­nen zwei­ten Bei­trag wid­met Reiss der Le­gen­de über eine Schach­par­tie Mar­tin Lu­thers ge­gen eine Grup­pe von als Berg­leu­te ver­klei­de­ten Studenten.
Noch wei­ter zu­rück führt uns die Ku­ra­to­rin der Aus­stel­lung Na­ta­scha Nie­mey­er-Was­se­r­er mit ih­rem kur­zen Ex­kurs über ein Ge­mäl­de von Ni­co­lo di Pie­tro vom An­fang des fünf­zehn­ten Jahr­hun­derts, das den Hei­li­gen Au­gus­ti­nus beim Schach­spiel zeigt.

Vielfältiger Blick auf die Schachgeschichte

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Ich hof­fe, die­se kur­ze In­halts­über­sicht konn­te die Neu­gier der Le­ser we­cken, sich nä­her mit den Bei­trä­gen die­ses Be­gleit­buchs zur Aus­stel­lung “Schach und Re­li­gi­on” zu be­schäf­ti­gen. Den nicht ganz ge­rin­gen Preis recht­fer­ti­gen ne­ben dem In­halt der Ar­bei­ten auch die zahl­rei­chen Ab­bil­dun­gen und die ins­ge­samt hoch­wer­tig an­mu­ten­de Gestaltung.
Fa­zit: Weit über ei­nen Aus­stel­lungs­ka­ta­log hin­aus ge­hend, bie­tet das Buch viel­fäl­ti­ge Bli­cke auf die eu­ro­päi­sche Schach-Früh­ge­schich­te. Die Be­zü­ge zur Re­li­gi­on sind da­bei Richt­schnur, schrän­ken aber die Viel­falt der Be­trach­tun­gen nicht ein. Auch wer sich schon in­ten­si­ver mit der His­to­rie des kö­nig­li­chen Spiels be­schäf­tigt hat, wird vie­le neue Er­kennt­nis­se ge­win­nen, muss sich frei­lich an ei­ni­gen Stel­len auf das sprach­li­che Ni­veau ei­ner wis­sen­schaft­li­chen Ar­beit einstellen. ♦

Schach und Re­li­gi­on – Ka­ta­log zur Aus­stel­lung in Ebers­berg, Schach- und Kul­tur­stif­tung G.H.S., 144 Sei­ten, ISBN 978-3-00-063173-3

Le­sen Sie im Glarean Ma­ga­zin zum The­ma Schach­ge­schich­te auch über Ger­hard Jos­ten: Auf der Sei­den­Stras­se zur Quel­le des Schachs

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