Ernst Halter: Mermaid (Roman)

Liebe wuchert nicht für die Zukunft, sie verschwendet sich jetzt

oder

Ein­ver­lei­bung gleich Kom­mu­ni­on gleich Zeit als Ewig­keit gleich See­le gleich das Gute

von Karin Afshar

Ein Ge­dan­ke fällt mir zu, wäh­rend ich das ge­ra­de ein­ge­trof­fe­ne Buch zur Hand neh­me und mir sei­nen Ein­band an­schaue – Amor und Psy­che in­ein­an­der ver­sin­kend: Man muss mer­ken, wann man am Ende der Hoff­nung an­ge­kom­men ist. Über die­se Gren­ze hin­aus ver­liert man Le­bens­zeit. – Da­mit be­gin­ne ich zu le­sen. [K.A.]

In “Mer­maid” von Ernst Hal­ter geht es um Lie­be und Be­ses­sen­heit, auch um Ero­tik und Lei­den­schaft. Ein (nicht ganz glück­lich) ver­hei­ra­te­ter Mann lässt sich auf ein Aben­teu­er ein… Das ist mi­se­ra­bel ba­nal aus­ge­drückt! Zwei­ter Ver­such: Ein Mann und eine Frau ver­fal­len ein­an­der und kön­nen nicht wie­der von­ein­an­der las­sen. No­ma­den sind bei­de, Su­chen­de (nach sich selbst), und wer­den an­ein­an­der zu Grenz­gän­gern und auch -ver­let­zern. Es geht um das Ent­gren­zen in der ge­gen­sei­ti­gen Hin­ga­be; am Ende – so­viel sei ver­ra­ten – um die Ent­fes­se­lung des Zer­stö­re­ri­schen. En­gels­sturz – aus dem Jen­seits ins Dies­seits. Un­ter­gang – das Dies­seits mit Kra­ter­zu­gän­gen zur Unterwelt.

Stella alias Persephone von Rosetti

Ernst Halter - Mermaid - Roman - Cover - Glarean MagazinStel­la, die häu­fig in Deutsch­land zu tun hat und aus Zü­rich stammt, lebt in Mai­land und ist Kunst­his­to­ri­ke­rin. Sie ar­bei­tet als Ju­ro­rin und Aus­stel­lungs­ku­ra­to­rin für Mu­se­en und Ga­le­rien, ist er­folg­reich und auf dem öf­fent­li­chen Par­kett ge­wandt. Eine schö­ne Frau, die sich zu klei­den weiss und ihre Aus­strah­lung auch ein­setzt. Pri­vat – ist sie kom­pli­ziert, mal Kind­frau, mal do­mi­nie­rend, mal un­ter­wür­fig, zwei­felnd, un­si­cher, ko­ket­tie­rend. Prä­raf­fae­li­tisch – ich er­in­ne­re mich, das Wort an ei­ner Stel­le ge­le­sen zu ha­ben. Das trifft es. Die Per­se­pho­ne von Ro­set­ti – in Blond al­ler­dings, ich glau­be, Stel­la ist blond.
Eli­as, Sohn ei­ner dä­ni­schen Mut­ter, ist Lek­tor, schreibt Bü­cher, über­setzt, ver­öf­fent­licht Ge­dich­te – ein Li­te­rat, ein Mann der Wor­te. Er ist mit El­len, ei­ner Eng­län­de­rin, die eine trau­ma­ti­sie­ren­de Kind­heit hin­ter sich hat und an De­pres­sio­nen lei­det, ver­hei­ra­tet und be­wohnt mit ihr ein Haus (wo, ist mir nicht er­in­ner­lich). Von Eli­as habe ich kein Ge­sicht, auch kein Al­ter, kei­ne Kör­per­spra­che. Er bleibt un­phy­sisch und ein Schemen.

Erschreckend wie ein dunkler Zauber

Dante Gabriel Rossetti: Proserpine (Persephone)
Dan­te Ga­bri­el Ros­set­ti: Pro­ser­pi­ne (Per­se­pho­ne)

Stel­la und Eli­as ler­nen sich in Frank­furt ken­nen (ei­nem Ort, in dem bei­de fremd sind) und tref­fen sich von nun an in Ho­tels, ab­ge­le­ge­nen Pen­sio­nen, in Bur­gen und Schlös­sern, in Wäl­dern, ent­lang von Bahn­li­ni­en, auf Ber­gen, in Tä­lern, in der Schweiz, in Deutsch­land, das Eli­as mehr ent­spricht, wäh­rend sie mit dem schrof­fen Land ihre Schwie­rig­kei­ten hat. Im Lau­fe der Ge­schich­te wird sie sa­gen: „Ecco la Cim­me­ria te­des­co, orsi, mam­muti…. Cer­co di con­vin­cer­mi del­la tua re­al­tá. Die­ses Ger­ma­ni­en – ich weiss kein bes­se­res Wort – ist so un­wi­der­steh­lich und er­schre­ckend wie ein dunk­ler Zauber…“
Ver­zau­be­rung. Ver­wün­schung. Gibt es die eine Lie­be? Oder ver­schie­de­ne? Eine für die eine Frau und eine für die an­de­re? Und Frau­en? Lie­ben sie im­mer gleich? Ernst Hal­ter – in die­sem April 80 ge­wor­den – lässt sei­nen Hel­den und sei­ne Hel­din dies er­kun­den. Er schickt sie aus, die Ant­wort den Tie­fen des ewi­gen, zeit­lo­sen Mee­res zu ent­reis­sen und an den Strand der Ge­gen­wart zu wer­fen. Da ist sie – die Meer­jung­frau aus dem Rei­che Nep­tuns, die, um in der Ge­gen­wart sein zu kön­nen, sich mit ei­nem Sterb­li­chen ver­bin­den muss. Na­tür­lich nicht zu­fäl­lig legt der Au­tor Eli­as als Na­men für Stel­la Mer­maid in den Mund. Aber sie ist auch Tu­li­pan, Es­tel­le, Re­gi­na Ma­con­do, Ma­don­na dell’adulterio, Stel­la blu, … der blau­en Au­gen we­gen. (Blau sind auch die Au­gen von Dä­mo­nen.) Und dann tau­chen noch an­de­re Na­men auf: Ve­nus und Ishtar. Ich klä­re wei­ter un­ten auf, wo­her hier der Wind weht.

Im Heimlichen unheimlich nahe

Ernst Halter (*1938 in Zofingen/Schweiz)
Ernst Hal­ter (geb.1938 in Zofingen/Schweiz)

Auf ei­nem Meer, des­sen Ober­flä­che sie trägt, des­sen Ober­flä­che ab­wech­selnd Stel­la und Eli­as selbst sind (er schreibt „auf ihr“ sei­ne Ge­dich­te), treibt die Be­zie­hung, die Stel­la und be­son­ders Eli­as zu­kunfts­tra­gend zu ge­stal­ten sich nicht trau­en. Un­ter der Ober­flä­che die­ses Mee­res des Noch-nicht-Ge­wor­de­nen und des Schon-wie­der-Ent­wor­de­nen ist die Zeit noch un­ge­teilt. Halt – un­ge­teil­te Zeit ist nicht Zeit; denn Ei­gen­schaf­ten von Zeit sind Ge­gen­wart und Ver­gan­gen­heit. Wir be­we­gen uns in die­sem Oze­an im Un­ge­teil­ten und im Ewi­gen – mit uns die bei­den Lie­ben­den, die sich in ih­rer ewi­gen und dann wie­der ab­grund­tie­fen Um­ar­mung im stän­di­gen Um­her­zie­hen im Heim­li­chen un­heim­lich nahe kom­men und ei­nem Schiff­bruch entgegensteuern.

Das We­sen der Lie­be ver­webt Ernst Hal­ter also mit Zeit: mit der An­we­sen­heit des Ver­gäng­li­chen und der Ab­we­sen­heit des Ewi­gen, oder um­ge­kehrt. Das Ewi­ge exis­tiert al­ler­dings nicht, denn es west aus­ser­halb der Zeit. Der eng­li­sche Gruss: Sein un­er­schaf­fe­nes Licht leuch­tet aus­ser je­der Zeit, es ist mit­leid­los und er­lischt nach ei­nem ein­zi­gen Nu.

Als Leser durch das Tor des Wenn geschoben

Die Gren­ze oder Zä­sur, die wir in “Mer­maid” fin­den wer­den, wird for­mell durch den Brief­wech­sel mit ei­nem längst to­ten Schrift­stel­ler ge­zeich­net. Die­ser weist un­se­ren Au­tor auf sei­ne Denk­feh­ler hin, wirft ihm Schein­lo­gik vor, und dass er den Le­ser um sei­ne Frei­heit brin­ge. Ein ganz und gar wirk­sa­mer Kniff ist das, den der Au­tor Ernst Hal­ter hier an­wen­det. In­dem er als „Er­zäh­ler-Schrei­ber“ die­ser aus­sen­ste­hen­den Per­son (die ihn als „sich als Gott auf­füh­ren­den Er­zäh­ler“ be­zeich­net) ant­wor­tet, ver­tei­digt er sei­nen Plot, für den er die schwie­rigs­te, näm­lich die „nor­ma­le Va­ri­an­te des Lie­bes­the­mas“ ge­wählt hat.
Wir als Le­ser (jetzt in den Fort­gang der Ge­schich­te ein­be­zo­gen), die längst her­auf­ge­zo­ge­ne Pe­ri­pe­tie und Ka­ta­stro­phe und die Prot­ago­nis­ten wer­den durch das Tor des Wenn ge­scho­ben. Die­ses Tor steht für die Schwel­le zum Nie-Rea­li­sier­ten. Doch wir wä­ren nicht Men­schen, wenn wir für Stel­la und Eli­as nicht doch noch auf die Wen­dung zum Gu­ten hoff­ten – ir­gend­wie. Schrift­stel­ler wis­sen der­glei­chen, und so hält es auch Ernst Hal­ter und schreibt uns auf die an­ge­deu­te­ten vier bö­sen Wör­ter hin.
Eine nep­tu­nisch-schil­lern­de Ge­schich­te mit Un­tie­fen – ich schaue sie aus der struk­tu­rel­len Rich­tung an. “Mer­maid” spricht in vie­len Stim­men, de­ren Ge­gen­sätz­lich­kei­ten und Dua­li­tä­ten der Au­tor-Er­zäh­ler dem Le­ser zur Zu­sam­men­set­zung überlässt.

Neun Stimmen, neun Handlungslinien

Neun Stim­men, neun Li­ni­en mei­ne ich ge­fun­den zu ha­ben. Sie tre­ten in Form von un­ter­schied­li­chen „Text­sor­ten“ oder Hand­lungs­se­quen­zen mit ver­schie­de­nen in­ein­an­der­flies­sen­den Er­zähl­tem­pi auf.
Da ist die Stim­me von Stel­la, die in ei­nem Be­wusst­seins­strom über die Be­zie­hung und die Ge­scheh­nis­se spricht. Da­ne­ben gibt es Aus­zü­ge aus Brie­fen und elek­tro­ni­scher Post von Stel­la an Eli­as, von ihm an sie. Es gibt eine aukt­oria­le Li­nie, die hin­ein­schlüpft in das Sub­jek­ti­ve von Eli­as oder Stel­la (Bil­der des In­nen-wie Aus­sen­seins, Bei-sich-Seins und Aus­ser-Sich-Seins wech­seln sich ab). Auch El­len, Eli­as‘ skiz­zen­haft in Er­schei­nung tre­ten­de Ehe­frau, er­hält eine Stimm-Li­nie. Traum­se­quen­zen sind eine nächs­te Li­nie. Hier und da stösst aus dem Un­sicht­ba­ren eine Rah­men-Hand­lungs­li­nie nach oben an die Ober­flä­che: Eli­as aus dem OFF, aus dem post mor­tem und in neu­em Leben.
Eine of­fe­ne Text­struk­tur, in der die ein­zel­nen Ka­pi­tel au­to­nom für sich ste­hen könn­ten. Könn­ten, denn sie be­stehen durch­aus nicht – ähn­lich den Ver­bin­dun­gen in ei­nem Rhi­zom – aus iso­lier­ten Ein­hei­ten. Wie kom­me ich denn bloss auf Rhi­zom? In der Bio­lo­gie be­zeich­net ein Rhi­zom ei­nen Wur­zel­typ, der mor­pho­lo­gisch als Ne­ben­ein­an­der-/In­ein­an­der­wach­sen von Spros­sen oder Stän­geln oder Trie­ben be­schrie­ben wird. Ein Rhi­zom kann so­wohl über- als auch un­ter­ir­disch in alle Rich­tun­gen wach­sen. Es wu­chert. – Die Li­ni­en die­ses „Ge­bil­des“ ohne Hier­ar­chie und Ord­nung bil­den ein Ge­flecht, in dem al­les mit al­lem ver­bun­den ist. An ver­schie­de­nen Stel­len wächst et­was nach oben und durch­bricht die gren­zen­de Krus­te. Die auf der Ober­flä­che sicht­ba­ren Trie­be ha­ben nur schein­bar nichts mit­ein­an­der zu tun. Au­to­no­mie – eine Illusion.

Offenes, nicht polarisierendes Schreiben

"Nomadentum und Schizophrenie" des multiplen Schreibens: Cover von "Mille Plateaux - Capitalisme et schizophrénie" (Deleuze & Guattari 1980)
“No­ma­den­tum und Schi­zo­phre­nie” des mul­ti­plen Schrei­bens: Co­ver von “Mil­le Pla­teaux – Ca­pi­ta­lis­me et schi­zo­phré­nie” (De­leu­ze & Guat­ta­ri 1980)

De­leu­zes & Guat­ta­ris „écri­tu­re no­ma­de et rhi­zo­ma­tique”1) ist eine „écri­tu­re mi­gran­te” – ein of­fe­nes, nicht ab­gren­zen­des und nicht po­la­ri­sie­ren­des Schrei­ben. Das No­ma­di­sche und die Nicht-Zu­ge­hö­rig­keit sind ein star­kes Mo­tiv in ei­ner sol­chen Li­te­ra­tur. No­ma­di­sches, rhi­zo­ma­ti­sches Schrei­ben setzt die Viel­heit, das Mul­ti­ple, über­win­det die Dua­li­tät und „lebt“ die Auf­he­bung der Suk­zes­si­vi­tät und Li­nea­ri­tät ei­nes Tex­tes. No­ma­den­tum und Schi­zo­phre­nie. Ein Schi­zo2) ist der, der mit vie­len Stim­men spricht, der mit den Mas­kie­run­gen spielt und im­mer un­ter­wegs ist. Er ver­fehlt sein Ziel, weil er kei­nes mehr hat. Das Ver­feh­len selbst ist zum Ziel geworden.
Oze­an ei­ner­seits und Rhi­zom an­de­rer­seits. Das Un­end­li­che und das Ge­we­be mit den vie­len Ein­gän­gen. Und in die­ser Un­struk­tur Hal­ters Land­schafts und Orts­be­schrei­bun­gen. Sie sind de­tail­liert, Weg­be­schrei­bun­gen ähn­lich, so dass ich mich fra­ge, war­um er die Ört­lich­kei­ten der­mas­sen red­un­dant be­schreibt und be­nennt. Die Ant­wort: Sie sind Me­ta­phern für un­se­re bei­den Su­chen­den – die Land­schaf­ten, die Orte sind die bei­den Su­chen­den. Ihre Stim­mun­gen kor­re­spon­die­ren und sind in Re­so­nanz mit den auf­ge­such­ten Or­ten. Schrift­stel­le­ri­sche Zau­be­rei. Sie sei­en dem Le­ser ans Herz gelegt.

Virtuoser Rückblick und Abschied

Auch auf die An­spie­lun­gen auf Er­eig­nis­se der Ge­schich­te an Or­ten, an de­nen Eli­as und Stel­la sich auf­hal­ten und über die sie spre­chen, sei be­geis­tert ver­wie­sen. Al­le­samt Puz­zle­tei­le für das Ge­samt­bild. Kein Wort ist hier zu­fäl­lig ge­setzt. Mir will dar­über hin­aus schei­nen, Ernst Hal­ter be­zieht sich auf ei­ge­ne äl­te­re Wer­ke – ist nur ein Ver­dacht, dem ich noch nach­ge­hen wer­de. Lässt mich so­fort an Jean Si­be­l­i­us den­ken, der in sei­ner Sieb­ten, sei­ner letz­ten Sin­fo­nie, sei­ne vor­he­ri­gen in Zi­ta­ten noch ein­mal hat Re­vue pas­sie­ren las­sen. Ab­schied, gros­se Vir­tuo­si­tät, und die Ein­sicht: Al­les ist mit­ein­an­der ver­bun­den, wir le­ben auf “1000 Plateaus”.
Blei­ben wir wei­ter im Struk­tu­rel­len: Vier Spra­chen be­geg­nen dem Le­ser. Deutsch als Er­zähl­spra­che ist die Spra­che der Aus­ge­spro­chen­heit, Deut­lich­keit, sie kann nicht an­ders. Gleich­zei­tig ver­wen­det Hal­ter sie in ly­rischs­ter Wei­se als Eli­as‘ Trä­ger­sub­strat, die sei­ne und Stel­las Un­aus­weich­lich­keit an­deu­tet und beschwört.

Flie­hen durch Som­mer und Schnee,
der Tod be­la­gert die Strassen
zwi­schen Um­ar­mung und Abschied,
Vö­gel lö­chern die Dämmerung,
die ru­he­lo­se Nacht
wim­mert und graut ohne Mond.
Ver­schwin­den un­ter vier Augen,
trin­ken ein­an­der auf ei­nen Zug,
die Lust
sie­geln mit Schwei­gen.3)

Ausgeprägter Zeigecharakter von Sprache

Ita­lie­nisch ist Stel­las Ge­fühls­spra­che, ihr Lie­bes­ge­flüs­ter, aber auch ihre dunk­len Mo­men­te, Ah­nun­gen und ihre Dro­hun­gen. Es sind „hin­ge­wor­fe­ne Bröck­chen“, meist kur­ze Aus­ru­fe, Im­pe­ra­ti­ve, Be­wer­tun­gen. So­fern der Le­ser nicht Ita­lie­nisch spricht, fin­det er im An­hang des Bu­ches ein al­pha­be­ti­sches Wör­ter­ver­zeich­nis (dar­in auch die an­de­ren Spra­chen). Der so un­ter­schied­li­che Klang von Deutsch und Ita­lie­nisch, und die Wech­sel von der ei­nen Stim­mung in die an­de­re, si­gna­li­sie­ren ei­ner­seits die Spal­tung, die sich durch die Prot­ago­nis­ten, ihre Wün­sche und ihre Sucht zieht, an­de­rer­seits den brü­cken­den Zei­ge­cha­rak­ter von Spra­che in sei­ner schöns­ten Ausprägung.
Hier und da wird auch auf Fran­zö­sisch (Spra­che der Bil­dung und Con­ten­an­ce) und Eng­lisch (El­lens Mut­ter­spra­che, stiff up­per lip; und ih­rer Rol­le ent­spre­chend – hier für das De­pres­si­ve, das Ver­quäl­te ver­wen­det) ge­spro­chen. De­zen­te Stil­mit­tel, An­zei­ge der Ver­wo­ben­heit, der Vielfalt.
Die „Far­be“ der Spra­che der Lie­ben­den, ihr Ver­hält­nis zu­ein­an­der und die Viel­zahl der Stim­men lässt das Ho­he­lied Sa­lo­mos, jene Lie­bes­lie­der, die in nicht all­täg­li­chen Bil­dern, aber mit wie­der­keh­ren­den Mo­ti­ven Ver­ei­ni­gung und Tren­nung, Be­geh­ren und Er­fül­lung, eben Lie­bes­ge­flüs­ter be­sin­gen, an­klin­gen. Doch ich fra­ge mich beim Le­sen im­mer drin­gen­der, ob Mer­maid ein Lied auf die Lie­be ist. Ha­ben wir es über­haupt mit ei­nem Lie­bes­ro­man zu tun?
“Mer­maid” ist al­les an­de­re als eine klas­si­sche Drei­ecks­ge­schich­te mit den „üb­li­chen“ Schuld­ge­füh­len, dem Di­lem­ma des Man­nes zwi­schen Ge­lieb­ter und Ehe­frau, der Angst vor dem Ent­deckt­wer­den oder vor even­tu­el­len For­de­run­gen der Ge­lieb­ten – das ist al­len­falls das vor­der­grün­di­ge The­ma, das in vie­len Ro­ma­nen mal mehr, mal we­ni­ger tief­ge­hend psy­cho­lo­gisch auf­ge­ar­bei­tet wird.

Quadratur einer tiefgründigen Vierecksgeschichte

Schatten der literarischen Protagonisten: Die schön-zerstörerische Göttin Lilith
Schat­ten der li­te­ra­ri­schen Prot­ago­nis­ten: Die schön-zer­stö­re­ri­sche Schwar­ze Ve­nus Lilith

Mer­maid” ist eine tief­grün­di­ge Vier­ecks­ge­schich­te. Schau­en wir bei Carl Gus­tav Jung nach: In ei­ner Lie­bes­be­zie­hung ge­hen Mann und Frau so­wie die Ani­ma ei­nes Man­nes (sein Frau­en­bild bzw. sei­ne weib­li­chen An­tei­le in sich) und der Ani­mus der Frau (ihr Män­ner­bild bzw. ihr männ­li­cher An­teil) ein über­kreu­zen­des Qua­ter­nio4) ein. Die­ses Mo­tiv liegt im Fal­le von Stel­la und Eli­as an­ders vor. Es sind nicht Ani­ma und Ani­mus, son­dern ihre Schat­ten, ihre Dä­mo­nen, die eine Ver­bin­dung ein­ge­hen.5) Ve­nus und Ishtar, zwei Göt­tin­nen aus un­ter­schied­li­chen My­tho­lo­gien, tref­fen in Stel­la auf­ein­an­der. Ve­nus-Ma­ria-Eva: die gu­ten Mut­ter­fi­gu­ren; in Li­lith al­ler­dings fin­det sich mit der Göt­tin Ishtar/Inanna das Dunk­le, Dä­mo­ni­sche, das kör­per­li­che Be­geh­ren und das Zer­stö­re­ri­sche. Sie ist die Schwar­ze Ve­nus.6)
Wenn nun in die­ser „Qua­dra­tur“ das Schat­ten­paar über die Zeit be­stimmt, wenn das Un­be­wuss­te und Ver­dräng­te über das be­wuss­te Paar-Ich in sei­ner Ver­zweif­lung die Vor­herr­schaft über­nimmt, wer­den die bei­den Lie­ben­den an­ein­an­der böse.
Ge­sche­hen wird das, wenn sie in vor­an­schrei­ten­der Ent­frem­dung kei­ne Be­zie­hung mehr auf­neh­men kön­nen. „Böse“ ist das Un­ge­leb­te, das ver­dräng­te Gute; das Böse lockt. Die Ni­xen und die Un­di­nen aus dem Was­ser ver­spre­chen die ver­dräng­te Er­fül­lung und wol­len da­für das Le­ben, und nicht we­ni­ger, des An­de­ren. Wird es ih­nen ver­sagt, tritt Po­sei­don als Rä­cher auf den Plan.

Modern, aktuell, anspruchsvoll

Wann fängt die Ob­ses­si­on an, wo hört die Ent­frem­dung auf? Ko­mi­sches Wort: Ent­frem­dung. Be­deu­tet doch ei­gent­lich, dass man sich be­kann­ter wird, weil man sich vom Fremd­sein ent­fernt! Nach dem Mo­ment ih­rer Ent-De­ckung bricht sich aus bei­den dä­mo­nisch Bö­ses sei­nen Weg in die Ge­gen­wart. Das Un­ge­teil­te zer­fällt bei­na­he fei­xend, springt in die Zeit! Jetzt sind sie in der Pro­fa­ni­tät ei­ner ganz nor­ma­len, die End­lich­keit in sich tra­gen­den Af­fä­re an­ge­kom­men, in der das of­fe­ne Rin­gen mit den ei­ge­nen Schat­ten be­stim­mend wird. Wie sich dies in der Ge­schich­te aus­ge­stal­tet, ver­ra­te ich na­tür­lich nicht.

FAZIT: “Mer­maid” von Ernst Hal­ter ist ein Ro­man, der mehr­fach in die Hand ge­nom­men wer­den will, so vie­le Ebe­nen und Ver­bin­dun­gen, Ver­wei­se auf die Not­wen­dig­keit der Läu­te­rung ent­hält er. Ein mo­der­nes, ak­tu­el­les, an­spruchs­vol­les Buch – und für so man­che Le­ser wohl nicht ungefährlich…

Je­der ein­zel­ne Le­ser wird mit ei­ner an­de­ren Ant­wort als sein Nach­barle­ser aus der Ge­schich­te her­aus­kom­men, wenn er die letz­te Zei­le von “Mer­maid” ge­le­sen hat. Habe ei­ner Be­kann­ten von mei­ner Lek­tü­re er­zählt. Sie mein­te, sie wol­le das Buch lie­ber nicht le­sen – ver­mut­lich wür­de es bei ihr Mi­nen, die sie sehr tief ver­senkt hat, zün­den. So sehe ich es auch: Für ei­ni­ge Le­ser kann es ein ge­fähr­li­ches Buch sein, denn es könn­te sie mit all dem, was sie im Le­ben aus­ge­las­sen ha­ben und das sie ru­hen las­sen möch­ten, kon­fron­tie­ren. Meer­jung­frau­en sind nicht ungefährlich.

Über den Schwei­zer Schrift­stel­ler Ernst Hal­ter habe ich ab­sicht­lich nichts ge­schrie­ben, aus­ser, dass er 2018 sei­nen 80. Ge­burts­tag fei­er­te. Es heisst, er lebe sehr zu­rück­ge­zo­gen und sei ein „sträf­lich un­ter­schätz­ter Au­tor“. “Mer­maid” ist sein bis­lang letz­tes Buch, und mit ihm dürf­te die Un­ter­schät­zung ein für alle Mal der Ver­gan­gen­heit an­ge­hö­ren. The­ma und Um­set­zung sind mehr als mo­dern und ak­tu­ell, sehr an­spruchs­voll. Ein Buch, das mehr­fach in die Hand ge­nom­men wer­den will, so vie­le Ebe­nen und Ver­bin­dun­gen, Ver­wei­se auf die Not­wen­dig­keit der Läu­te­rung ent­hält es.
Ich wün­sche al­len Le­sern ei­nen span­nen­den Gang durch die schö­nen Land­schaf­ten und die lehr­rei­chen Ab­grün­de… Mö­gen Sie ge­wan­delt herauskommen! ♦

1) De­leu­ze, Gil­les & Guat­ta­ri, Fé­lix : Mil­le Pla­teaux, 1980
2) De­leu­ze, Gil­les & Guat­ta­ri, Fé­lix: Kaf­ka. Für eine klei­ne Li­te­ra­tur, Ber­lin 1976
3) S. 149
4) C. G. Jung, Psy­cho­lo­gie der Über­tra­gung, in: Hur­witz, Li­lith – die ers­te Eva, S. 163
5) Ge­le­sen bei Sieg­mund Hur­witz, Li­lith – die ers­te Eva, Dai­mon Ver­lag, 1980, 2011: In der ara­bi­schen Li­te­ra­tur sind der Ka­rin und die Ka­ri­na als die Schat­ten­ge­fähr­ten be­kannt, S. 161 ff.
6) Über Li­lith und die viel­fäl­ti­ge Li­te­ra­tur über sie sei auf S. Hur­witz verwiesen

Ernst Hal­ter: Mer­maid, Ro­man, 346 Sei­ten, Klöp­fer & Mey­er Ver­lag Tü­bin­gen, ISBN 978-3-86351-463-1

Le­sen Sie im Glarean Ma­ga­zin zum The­ma Lie­be auch über Mar­ga­ret Mil­lar: “Lie­be Mut­ter…” (aus der Rei­he “Ver­ges­se­ne Bücher”)

… so­wie zum The­ma Schwei­zer Ro­ma­ne über Mar­ti­na Cla­va­det­scher: Die Er­fin­dung des Ungehorsams

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