Simone Stölzel: Der Tod in Potenzen (Roman)

Krimi mit philosophischem Tiefgang

von Karin Afshar

Wenn ein Buch, das zu bespre­chen ich gebe­ten wurde, mich nach 40 Sei­ten nicht ange­spro­chen hat … bespre­che ich es nicht.”
Die­sen Satz hatte ich mir vor bei­nahe mehr als 10 Jah­ren hin­ter die Ohren geschrie­ben. Min­des­tens 30 Bücher mar­schier­ten in die­ser Zeit vor mir auf, um von mir gele­sen und anschlies­send wohl­wol­lend bespro­chen zu wer­den. Unter ihnen unge­fähr fünf “Ver­risse”. Ich habe mich eben doch nicht immer an mei­nen Leit­satz gehalten…
An drei Ver­risse kann ich mich ziem­lich genau des­halb erin­nern, weil es mir extrem unan­ge­nehm ist, einem Buch, dem Schreib­stil oder der Behand­lung eines The­mas die Emp­feh­lung an ein wei­te­res Lese­pu­bli­kum nicht aus­zu­stel­len. Doch sehe ich es als meine ver­dammte Pflicht, Eti­ket­ten­schwin­del, grosse Ankün­di­gun­gen und schwa­che Umset­zun­gen auf­zu­de­cken. Zum aktu­el­len Buch: Auch der als “phi­lo­so­phi­scher Roman” ange­kün­digte Titel “Der Tod in Poten­zen” von Simone Stöl­zel ist bei mir durchgefallen.

Viel gewollt, wenig gekonnt

Simone Stölzel - Der Tod in Potenzen - Philosophischer Roman - Herder Verlag - Rezension Glarean MagazinIch ent­sinne mich des Buches einer Ira­ne­rin, die in Deutsch­land mit ihrer Lebens- und Lei­dens­ge­schichte gepuscht wurde [siehe die Rezen­sion im Glarean Maga­zin über Ameneh Bah­r­ami: Auge um Auge]. Abge­se­hen davon, dass der Text ver­mut­lich von einem Ghost­wri­ter (gar nicht mal von ihr selbst) ver­fasst war, wim­melte es nur so von emo­tio­na­len Kla­ge­reien – sowohl schlecht aus dem Per­si­schen über­setzt, als auch mit inter­kul­tu­rel­len Irr­tü­mern behaf­tet. Anstatt zu einem sol­chen Buch rate ich dann doch lie­ber gleich zu einer Hed­wig Courths-Mahler-Schmon­zette. Wer sich auf dem Lite­ra­tur-Markt aus­kennt, weiss, wie das Geschäft mit der moder­nen Betrof­fen­heits­li­te­ra­tur läuft. Dass hier unter dem Deck­man­tel der Auf­klä­rung über soge­nannte wahre Bege­ben­hei­ten Kli­schees bedient wer­den, ist nicht ungefährlich.
Eine zweite Nega­tiv-Bespre­chung erhielt das Werk einer Fran­zö­sin (viel­leicht liegt es ja an miss­lun­ge­nen Über­set­zun­gen, dass ich kei­nen Zugang zum Thema oder zum Prot­ago­nis­ten finde) – in die­sem Fall war es die ein­deu­tige Ver­hack­stü­ckung der Spra­che, die mir gegen den Strich ging [siehe die Rezen­sion im Glarean Maga­zin über Hélène Cixous: Man­hat­tan]. Vor­wer­fen kann ich der Autorin ihren Dekon­struk­ti­vis­mus nicht, aber ich per­sön­lich mag es nicht, wenn ich als Lese­rin für eine Mis­sion ein­ge­spannt werde. (Das mögen natür­lich andere Leser anders sehen, aber nun gut – auch Buch­be­spre­cher sind Menschen.)
Ein drit­tes Buch – Gedichte! Also, Lyrik muss man im Blut haben. Lyrik heisst nicht zwangs­läu­fig, dass es sich rei­men muss – aabb oder abab oder abba (die noch raf­fi­nier­te­ren ande­ren Reim­for­men lasse ich bei­seite). Lyrik bedeu­tet viel­mehr Rhyth­mus und Melo­die. Und selbst wenn die “Auf­lö­sung” der­sel­ben gedich­tet wird, ist “Dich­ten” eine hohe Kunst, die ich erst ein­mal beherrscht haben muss, um sie hin­ter mir zu las­sen. Aber wenn da kein Gespür für das Wort ist, … ich masse mir an, der­glei­chen zu erken­nen. In jenem Gedichte­band sah ich sowohl mein Sprach­emp­fin­den als auch die Rhyth­mik der deut­schen Spra­che beleidigt.
Nahezu jedes Buch indes gewinnt mein Herz, wenn ich einen “Genius” darin ent­de­cke. Jenen Fun­ken Wirk­lich­keit, den man nicht wol­len kann, der aus­ser­halb unse­rer Absicht west. Und der steckt bereits in den ers­ten Sei­ten und strahlt! Glau­ben Sie mir.

Ein philosophischer Moloch

Der als “phi­lo­so­phi­scher Roman” ange­kün­digte Titel “Der Tod in Poten­zen” von Simone Stöl­zel ist bei mir durch­ge­fal­len. Bereits nach spä­tes­tens 40 Sei­ten. Ein phi­lo­so­phi­scher Moloch … viel gewollt, wenig gekonnt.
Doch zunächst: eine Inhalts­an­gabe. Um mir nicht die Fin­ger wund­zu­tip­pen, kopiere ich ein­fach aus der Verlags-Ankündigungsseite:

In “Der Tod in Poten­zen” sucht Pri­vat­de­tek­tiv Wal­ter Hertz nach dem Homöo­pa­then Dr. Simon Gei­ger, der seit Wochen spur­los ver­schwun­den ist, und stösst auf vie­ler­lei Selt­sam­kei­ten. Gei­ger begeg­net ihm wie­der­holt in sei­nen Träu­men, merk­wür­dige Gegen­stände und Sym­bole tau­chen auf, von einem Tag auf den ande­ren erhält er anonyme Droh­an­rufe. Hertz muss sich mit ver­spon­ne­nen Homöo­pa­then und aggres­si­ven Schul­me­di­zi­nern, ent­täusch­ten Frauen und immer wie­der mit der Frage aus­ein­an­der­set­zen, was für abgrün­dige For­schun­gen Gei­ger eigent­lich betrie­ben hat. Dabei scheint alles um zwei The­men zu krei­sen: Was ist eigent­lich die Zeit? Und: Was geschieht mit uns, wenn wir auf ver­nünf­tige Fra­gen keine plau­si­blen Ant­wor­ten erhal­ten? Hier geht es um ein hin­ter­sin­ni­ges Spiel mit ver­schie­de­nen Refle­xi­ons- und Bedeu­tungs­ebe­nen, um schwarz­ro­man­ti­sche Motive wie um phi­lo­so­phi­sche Ideen, die mehr Fra­gen als Ant­wor­ten auf­wer­fen. Und dabei dür­fen die Leser dem Detek­tiv beim Den­ken stets über die Schul­ter schauen.

Homöopathisch in die Länge gezogen

Ich begann inter­es­siert zu lesen, immer­hin war der Hin­weis auf die Homöo­pa­thie der Anlass gewe­sen, mich des Titels über­haupt anzu­neh­men. Ich war gespannt dar­auf, wie Simone Stöl­zel den Spa­gat hin­be­käme. Sagt Ihnen “Arse­ni­cum album” etwas? Abge­se­hen davon, dass die­ses Mit­tel eines der bekann­tes­ten Kon­sti­tu­ti­ons­mit­tel in Samuel Hah­ne­manns heil­kund­li­chem Sys­tem dar­stellt, ist es das Thema im ers­ten Kapi­tel. (Ein Blick ins Inhalts­ver­zeich­nis zeigt, dass jedes Kapi­tel den Namen eines Mit­tels trägt, und die­ses im Text sehr deut­lich und auf­dring­lich als Mit­tel­bild dar­ge­stellt wird. Nach­le­sen kann der Leser die Mit­tel­bil­der zusam­men­ge­fasst am Ende des Buches.)

Die deut­li­che Beschrei­bung, ja, die über­ge­nau gezeich­nete Arse­ni­cum-album-Per­sön­lich­keit mag für einen Homöo­pa­thie-Ele­ven fas­zi­nie­rend sein, für die Expo­si­tion eines Kri­mis ist sie töd­lich. Die Arse­ni­cum-Album-Per­sön­lich­keit in ihrer uner­lös­ten Form ist eher jemand, der Türen schliesst, statt sie zu öff­nen. Das erste Kapi­tel zieht sich in die Länge.
Die Autorin schreibt wort­ver­liebt und steckt ambi­tio­niert auch in ihre wei­te­ren Hand­lungs­be­schrei­bun­gen viele Details hin­ein. Der Prot­ago­nist beginnt seine Ermitt­lung, etwas zwi­schen einem “stream of con­scious­ness” und kör­per­sprach­li­chen Details ist das Ergeb­nis. Der Leser – in die­sem Fall ich – ver­mag kaum mehr Luft zu bekom­men, so dicht und voll ist der Raum zwi­schen den Zeilen.

Ein noch nicht spannender Krimi

Im zwei­ten Kapi­tel wird der Detek­tiv in die Woh­nung des Ver­schwun­de­nen geschickt; wie­der­rum wird detail­reich jede Bewe­gung sei­ner­seits geschil­dert. Nun wird es eine Mischung aus Schnit­zel­jagd, Erkennt­nis­weg und (noch nicht span­nen­dem) Krimi.

FAZIT: Es hätte der Homöo­pa­thie gut getan, wenn Simone Stöl­zel in ihrem “Tod in Poten­zen” zu den aus­ge­wähl­ten homöo­pa­thi­schen Mit­teln Kurz­ge­schich­ten ver­fasst hätte. Es hätte dem Kri­mi­nal­fall gut getan, wenn die Autorin viel­leicht allen­falls dem Prot­ago­nis­ten und dem Homöo­pa­then ein Mit­tel zuge­wie­sen und diese als “Gegen­spie­ler” oder Anti­dote gezeich­net hätte, sub­ti­ler aber bitte, nicht so der­art augen­fäl­lig. Es hätte der Phi­lo­so­phie gut getan, wenn man sie ganz raus­ge­las­sen hätte, zumin­dest aus der Ankün­di­gung und auf dem Bucheinband…

Was ist hier los? Drei­er­lei – schätze ich:
• Es haben sehr viele Leute mit­ge­wirkt, gegen­ge­le­sen, lek­to­riert (liest man in der “Dank­sa­gung”!) – und das ist ver­mut­lich auch das Ver­der­ben. Kei­ner hat aber gemerkt, dass man kür­zen, straf­fen müsste… Vor allen Din­gen hätte es ein Fokus getan: Ent­we­der über die Zeit phi­lo­so­phie­ren, oder über die Homöo­pa­thie schwätzen.
• Auch ich kenne den Wunsch, ein altes, wie­der­ge­fun­de­nes Manu­skript wie­der zu bele­ben. Mensch, man war doch damals mit Herz­blut dabei! Das Neu­schrei­ben ist ein schwie­ri­ges Unter­fan­gen und ver­langt kon­zen­trierte Selbst­kennt­nis. Es ist sehr schwer, von unrei­fe­ren Schreib­ge­wohn­hei­ten her­un­ter­zu­kom­men. In die­sem Fall ist es nicht gelun­gen. Die Autorin ist von ihrem frü­he­ren Stil (den ich nur erahne – z.B. hat sie schul­auf­satz­mäs­sig zu viele Adjek­tive dort ein­ge­setzt, wo diese eher stö­ren als wei­ter­brin­gen) nicht zu einer neuen, gewach­se­nen, erwach­se­nen Form gelangt. Ent­stan­den ist eine fleis­sig gesam­melte und “rich­tig” recher­chierte Arbeit – aber sie liest sich lang­wei­lig. Es fehlt der Geistesfunke.
• Ich weiss, wovon ich spre­che – denn soooo habe ich auch mal geschrie­ben, vor 20 Jah­ren. Im Rausch der eige­nen, sub­jek­ti­ven Begeis­te­rung, einer Welt­erkennt­nis und dem Wis­sen über ein inter­es­san­tes, fas­zi­nie­ren­des Rand­ge­biet auf der Spur zu sein, habe ich viel zu viel gewollt, doziert und damit die Erzäh­lung ermordet.

Bitte subtiler!

Kurz zusam­men­ge­fasst: Es hätte der Homöo­pa­thie gut getan, wenn Simone Stöl­zel in ihrem “Tod in Poten­zen” zu den aus­ge­wähl­ten homöo­pa­thi­schen Mit­teln Kurz­ge­schich­ten ver­fasst hätte. Es hätte dem Kri­mi­nal­fall gut getan, wenn die Autorin viel­leicht allen­falls dem Prot­ago­nis­ten und dem Homöo­pa­then ein Mit­tel zuge­wie­sen und diese als “Gegen­spie­ler” oder Anti­dote gezeich­net hätte, sub­ti­ler aber bitte, nicht so der­art augen­fäl­lig. Es hätte der Phi­lo­so­phie gut getan, wenn man sie ganz raus­ge­las­sen hätte, zumin­dest aus der Ankün­di­gung und auf dem Buch­ein­band. Die Leser kom­men schon von selbst dar­auf. Si tacuis­ses, phi­lo­so­phus mansisses. ♦

Simone Stöl­zel: Der Tod in Poten­zen – Phi­lo­so­phi­scher Roman, 320 Sei­ten, Her­der Ver­lag, ISBN 978-3-495-48977-2


Karin Afshar

Karin Afshar - Glarean MagazinGeb. 1958 in der Eifel/D, Stu­dium der Sprach­wis­sen­schaft, Finn-Ugris­tik und Psy­cho­lo­gie, Pro­mo­tion, zahl­rei­che bel­le­tris­ti­sche und fach­wis­sen­schaft­li­che Publi­ka­tio­nen, lebt in Bornheim/D

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