Vergessene Bücher (1): “Liebe Mutter…” (M. Millar)

Der kalte Blick auf die Welt

von Bernd Giehl

Sieh mal, Edith, unser Kopf ist doch wie ein Dschun­gel, ein dunk­ler, dich­ter Dschun­gel mit Mil­lio­nen klei­nen Pfa­den, zu denen das Licht nie dringt. Man ahnt nichts von die­sen Pfa­den, bis auf einem von ihnen plötz­lich etwas auf­taucht. Und dann, Edith, ver­sucht man, die­ses Etwas zurück­zu­ver­fol­gen, man ver­folgt die Spu­ren und Fähr­ten, man geht weit, sehr weit, und stellt am Ende doch wie­der fest, dass der Pfad zu ver­schlun­gen ist, zu licht­los, laut­los, zeit­los…” (Mar­ga­ret Mil­lar in “Das eiserne Tor”, 1983, S. 67f.)

Margaret Millar - Liebe Mutter es geht mir gut - Roman Diogenes - Cover Glarean MagazinStel­len Sie sich den Autor die­ses Bei­trags ruhig als alten Mann vor. Mit Bas­ken­mütze auf dem Kopf und in abge­wetz­ter Cord­hose, die schon vor zehn Jah­ren unmo­dern war. Dazu viel­leicht ein Jackett in Hah­nen­tritt­mus­ter. Und einer Kra­watte natür­lich, Kra­watte muss sein. Und jetzt stel­len Sie sich die­sen Autor vor, wie er durch eines die­ser moder­nen Buch­kauf­häu­ser geht und an dem Tisch ste­hen­bleibt, auf dem die Rat­ge­ber­li­te­ra­tur inklu­sive der Koch­bü­cher lie­gen und sich vor­stellt, wor­über er sein nächs­tes Buch schrei­ben wird (“Durch indi­sches Kochen zum bes­se­ren Selbst”), wie er dann am Tisch mit den Best­sel­ler­au­toren vor­bei­geht, schliess­lich am Bel­le­tris­tik-Regal ste­hen­bleibt und nach dem einen oder ande­ren Buch Aus­schau hält, das lei­der noch nicht in sei­nem Bücher­re­gal steht. Nach den Wer­ken von Mar­ga­ret Mil­lar zum Bei­spiel. Kein Buch von ihr zu fin­den. Er tritt an die “Infor­ma­tion” und fragt nach ihr. Die Buch­händ­le­rin sieht im Netz nach und bedau­ert: kein Buch die­ser Autorin lie­fer­bar. “Viel­leicht ver­su­chen Sie es mal im Moder­nen Anti­qua­riat”, sagt sie zum Abschied. Dort kauft er dann ein Dio­ge­nes Bänd­chen die­ser Autorin für 2 Euro. Ziem­lich ver­gilbt, etwas zer­fled­dert, aber es erfüllt sei­nen Zweck.

Sinnlosigkeit bis in die Form hinein

Ob sich in 20 Jah­ren wohl noch irgend jemand an Mar­ga­ret Mil­lar erin­nern kann? Das war doch… Ja, ganz rich­tig. 14 Romane und zwei Bände mit Erzäh­lun­gen die­ser Autorin ste­hen auf einer Liste im Anhang des Ban­des “Ein Frem­der liegt in mei­nem Grab” (Dio­ge­nes Ver­lag 1997). Selbst bei “Ama­zon” sind der­zeit nur noch zwei Exem­plare die­ses Buches gebraucht zu bekommen.
Nun ist Mar­ga­ret Mil­lar bei­leibe nicht die Ein­zige, der die­ses Schick­sal wider­fährt. Weil die Buch­pro­duk­tion heute so rasend schnell ist, und weil jedes Jahr Hun­dert­tau­sende neuer Bücher her­aus­kom­men (genaue Zah­len siehe beim Bör­sen­ver­ein des deut­schen Buch­han­dels), wer­den die Bücher älte­rer Autoren auch schnell zu Alt­pa­pier ver­wan­delt. Wer es nicht bis in den Olymp der Klas­si­ker geschafft hat (und wer schafft das schon?), der ist bald nicht mehr dabei. Der wird aus­sor­tiert, gestri­chen, ver­ramscht. Selbst Autoren, die ein­mal sehr bekannt waren, trifft die­ses Schick­sal. Oder kennt jemand noch Hanns Henny Jahnns Rie­sen­ro­man “Fluss ohne Ufer”? Oder gar sei­nen “Per­rudja”?

Margaret Millar (1915-1994) - Liebe Mutter es geht mir gut - Roman Diogenes - Cover Glarean Magazin
Mar­ga­ret Mil­lar (1915-1994)

Nun ist es sicher sehr viel schwie­ri­ger zu erklä­ren, warum Hanns Henny Jahnn es nicht bis auf den Olymp geschafft hat. Für Mar­ga­ret Mil­lar ist die Erklä­rung ein­fa­cher. Mil­lars Romane erzäh­len von einer tief ver­stö­ren­den Welt, aber das hat sich nicht bis in die Form ihrer Bücher durch­ge­fres­sen. Und genau das wer­den die Snobs des deut­schen Lite­ra­tur­be­triebs ihr vor­wer­fen. Falls sie sich über­haupt so viel Mühe machen und nicht viel­mehr sich mit der Erklä­rung begnü­gen, Kri­mi­au­to­ren schrie­ben nun ein­mal Bücher, die man nicht ernst neh­men müsse. Tho­mas Pyn­chon springt in “Gegen den Tag” von einer Geschichte zur nächs­ten, und wer nicht ein aus­ser­ge­wöhn­lich gutes Gedächt­nis hat, der wird sich irgend­wann ver­zwei­felt fra­gen, wer Merle Rideout oder Lew Bas­night doch noch war, oder wie all diese Geschich­ten eigent­lich zusam­men­ge­hö­ren. Roberto Bol­a­nos Roman “2666” erzählt eben­falls Geschich­ten, von denen man sich irgend­wann ver­zwei­felt fragt, was sie eigent­lich zusam­men­hält. Im Mit­tel­punkt steht eine Mord­se­rie an Hun­der­ten von Pro­sti­tu­ier­ten (und der Autor schil­dert sie Fall für Fall ab, als wäre er Mit­glied der Son­der­kom­mis­sion zur Auf­klä­rung die­ser Morde). Stumpf, den Leser ermü­dend und ohne jede innere Betei­li­gung. Mit den fast immer glei­chen Wor­ten. Ver­mut­lich wollte er mit “2666” bewei­sen, dass die Welt sinn­los ist. Diese Sinn­lo­sig­keit ist bis in die Form hin­ein zu spüren.

Keine stilistischen Experimente

Das ist bei Mil­lar deut­lich anders. Nicht etwa, dass ihre Kri­mi­nal­ro­mane nicht auch so etwas wie einen expe­ri­men­tel­len Cha­rak­ter hät­ten, aber der steht nicht so im Vor­der­grund wie bei den genann­ten Autoren der Post­mo­derne. Man muss ihre Romane nicht ein­mal selbst zusam­men­bauen wie bei Italo Cal­vi­nos “Wenn ein Rei­sen­der in einer Winternacht…”
Erstaun­li­cher­weise haben die hoch­ex­pe­ri­men­tel­len Romane von Pyn­chon oder Bol­ano gerade Kon­junk­tur. Womög­lich möchte sich der intel­lek­tu­elle Bohe­mien von den genann­ten Autoren ja bestä­ti­gen las­sen, dass die Welt, so wie wir sie gerade erle­ben, sinn­los ist. Und wer nach dem Lesen von Bol­a­nos “2666” immer noch nicht genug hat, wer also immer noch einen Fun­ken Hoff­nung oder gar Lebens­freude in sich spürt, der kann ja noch David Fos­ter Wal­lace “Infi­nite Jest” lesen, zu Juli Zehs “Spiel­trieb” grei­fen oder zu Helene Hege­mann, die­sem alt­klu­gen Kind, das mit 16 glaubt, schon mehr erlebt zu haben als andere mit 50 Jahren.

Originaltitel von Millars
Ori­gi­nal­ti­tel von Mil­lars “Beast in View” in der TV-Serie “The Alfred Hitch­cock Hour”

Die Romane von Mar­ga­ret Mil­lar funk­tio­nie­ren anders. Sie sind zwar tief ver­stö­rend, aber am Ende kann sich zumin­dest ein Gefühl von “Sinn” ein­stel­len. So para­noid das eine oder andere ihrer Bücher auch sein mag, so gibt die Autorin doch zumin­dest eine Erklä­rung für das, was gesche­hen ist. Sie ver­wei­gert sich nicht wie Pyn­chon und sie lässt den Leser auch nicht mit sei­nen Fra­gen allein wie Bol­ano. Wer mag, kann das alt­mo­disch fin­den und mei­nen, es passe nicht mehr in die Zeit. Den­noch ziehe ich per­sön­lich ihre Romane der oben­ge­nann­ten Lite­ra­tur vor. Viel­leicht hat das ja auch damit zu tun, dass ich mir nicht die aller­letzte Hoff­nung rau­ben las­sen möchte.

Kaum Verfilmungen von Millar-Romanen

Par­al­le­len? Ich denke, einige Romane von Patri­cia High­s­mith oder Paul Aus­ter haben eine ähn­li­che The­ma­tik und arbei­ten mit ähn­li­chen Mit­teln. Alle drei expe­ri­men­tie­ren mit dem Unbe­wuss­ten, dem Zufall und dem Schre­cken, der aus all dem ent­ste­hen kann. Nur dass Mar­ga­ret Mil­lar (1915-1994) lange nicht so bekannt ist wie Patri­cia High­s­mith, die im glei­chen Zeit­raum lebte (1921-1995), und obwohl beide doch ganz ähn­li­che The­men behan­deln, auch ihr Stil Ähn­lich­kei­ten auf­weist. Ganz zu schwei­gen von Alfred Hitch­cock, der zwar keine Bücher schrieb, dafür aber Filme drehte, die mit fil­mi­schen Mit­teln eine ganz ähn­li­che Welt zei­gen. Übri­gens hat Hitch­cock auch Romane der High­s­mith ver­filmt (z.B. “Zwei Fremde im Zug”), Mar­ga­ret Mil­lar dage­gen ist die­ses Glück nur aus­nahms­weise zuteil gewor­den. Wer weiss, ob sie andern­falls nicht viel prä­sen­ter im kul­tu­rel­len Gedächt­nis wäre.

Mar­ga­ret Mil­lar war ver­hei­ra­tet mit Ken­neth Mil­lar, bes­ser bekannt unter dem Pseud­onym Ross Mac­do­nald, dem Ver­fas­ser eini­ger “hart­ge­sot­te­ner Kri­mi­nal­ro­mane” mit dem Pri­vat­de­tek­tiv Lew Archer. Übri­gens legte sich ihr Ehe­mann sei­ner­zeit den Künst­ler­na­men zu, weil seine Frau damals sehr viel erfolg­rei­cher war als er selbst. Nicht immer wol­len Män­ner im Schat­ten ihrer Frau ste­hen. Heute dage­gen steht Mar­ga­ret Mil­lar in sei­nem Schat­ten.  Manch­mal ist das Leben ungerecht.
Aber natür­lich hat unsere Autorin das gewusst. Womög­lich hätte sie sich sogar dar­über amü­siert. Sie kannte die Men­schen. Wahr­schein­lich bes­ser, als die meis­ten sich selbst ken­nen. Mar­ga­ret Mil­lar hatte den kal­ten Blick auf die Welt, den nicht gar so viele Autoren besit­zen. Ich glaube nicht, dass sie die Men­schen liebte. Dafür sind ihre Romane zu bos­haft geschrie­ben. Es wäre reiz­voll, eine Bio­gra­phie über sie zu lesen, aber wenn es eine gibt, dann kenne ich sie nicht.

Patricia Highsmith - Autorin - Glarean Magazin
Pro­mi­nente Kon­kur­ren­tin und Mil­lar-Zeit­ge­nos­sin: Patri­cia Highsmith

Auf jeden Fall wäre es reiz­voll zu wis­sen, wel­chen Unter­schied es gibt zwi­schen ihrem Leben und ihren lite­ra­ri­schen Ideen.
Denn die haben es in sich. Gleich mit den ers­ten Sät­zen erzeugt sie eine Span­nung, die bis zur letz­ten Seite anhält. “Die Stimme war sanft, bei­nahe lächelnd: ‚Ist dort Miss Clarvoe?‘
‚Ja.‘
‚Wis­sen Sie, wer da spricht?‘
‚Nein.‘
‚Eine Freundin.‘
‚Ich habe unzäh­lige Freun­din­nen‘, log Miss Clarvoe…
‚Wir haben uns schon lange nicht mehr gese­hen‘, sagte die Stimme. ‚Trotz­dem habe ich Sie immer irgend­wie im Auge behal­ten. Ich habe näm­lich eine Kristallkugel.‘”
Mit die­sen Wor­ten beginnt der Roman “Liebe Mut­ter, es geht mir gut…
Helen Clar­voe kennt die Anru­fe­rin nicht, und gerade das beun­ru­higt sie. Aller­dings kann man bei ihrer Aus­sage, sie kenne Eve­lyn Mer­rick nicht, zwei­feln, denn gleich auf der ers­ten Seite cha­rak­te­ri­siert die (all­wis­sende) Erzäh­le­rin Miss Clar­voe als pro­fes­sio­nelle Lügnerin.

Alte Jungfer von 30 Jahren als Roman-Heldin…

Eine alte Jung­fer von 30 Jah­ren als Hel­din eines Romans, noch dazu eine, die schon ganz am Anfang als kalt, ver­schlos­sen und vom Leben ent­täuscht geschil­dert wird; wem könnte das sonst noch ein­fal­len? Unsym­pa­thi­scher als Helen Clar­voe kann man eigent­lich nicht mehr sein. Mit weni­gen Sät­zen kann Mil­lar ihre “Hel­din” cha­rak­te­ri­sie­ren. Nicht ein­mal Patri­cia High­s­mith hat so eine Per­son in den Mit­tel­punkt ihrer Romane gestellt. (Aber die hatte natür­lich auch ihre Gründe.) Nach­dem sie sich bei der Tele­fo­nis­tin, die die Anrufe im Apart­ment­haus, in dem sie wohnt, nach der Anru­fe­rin erkun­digt hat, wird Miss C. mit fol­gen­den Wor­ten beschrie­ben: “Miss Clar­voe hängte ab. Sie wusste, wie man mit June und ihres­glei­chen umzu­ge­hen hatte. Man hängte ab. Man unter­brach die Ver­bin­dung. Was Miss Clar­voe sich nicht klar­machte, war, dass sie in ihrem Leben bereits zu viele Ver­bin­dun­gen unter­bro­chen hatte. Sie hatte zu oft, zu schnell und schon bei zu vie­len Men­schen abge­hängt. Jetzt, mit Dreis­sig, war sie allein.” (S. 10) Nicht nur Eve­lyn Mer­rick besitzt eine Kris­tall­ku­gel, in der sie die Clar­voe beobachtet.
Wer aber nun glaubt, dass Helen Clar­voe die ein­zige ist, die von ihrer Schöp­fe­rin mit jenem eis­kal­tem Blick beob­ach­tet wird, der täuscht sich. June, die Tele­fo­nis­tin, ist beschwipst, als sie zu Miss Clar­voe geht, weil die sie darum gebe­ten hat. Und den Sherry, den ihre Gast­ge­be­rin ihr anbie­tet, schlägt sie natür­lich auch nicht aus. Womög­lich ist das Leben nur noch betrun­ken zu ertra­gen, selbst wenn man keine Droh­an­rufe von einer angeb­li­chen Freun­din erhält. Mr. Blackshear, ihr Ver­mö­gens­ver­wal­ter, den die Clar­voe um Hilfe angeht, ist 50 Jahre alt, und für ihn hat “der Win­ter der Leere ein­ge­setzt, und dort, wo ein­mal etwas in sei­nem Inne­ren zer­bro­chen war, hatte sich Frost gebil­det.” (S. 20) Eigent­lich, so denkt man, kann nichts mehr pas­sie­ren, was diese Herr­schaf­ten aus ihrer Erstar­rung her­aus­ho­len könnte.  Dass es aber den­noch pas­siert ist, nicht die geringste aller Künste, die Mar­ga­ret Mil­lar beherrscht.

Klaustrophobischer Handlungs-Raum

Im Gegensatz zur Ehefrau weltberühmt geworden: Krimi-Autor Kenneth Millar alias Ross MacDonald
Im Gegen­satz zur Ehe­frau welt­be­rühmt gewor­den: Krimi-Autor Ken­neth Mil­lar alias Ross MacDonald

Doch dazu bedarf es nun eines Raums, den die Autorin schafft. Und die­ser Raum, man kann es nicht anders sagen, ist klaus­tro­pho­bisch. Man bekommt Luft­not, wenn man sich zu lang in ihm auf­hält. Ver­mut­lich kann man die­sen Raum nicht unbe­dingt “rea­lis­tisch” nen­nen, aber Autoren – Autorin­nen sind selbst­ver­ständ­lich immer mit gemeint – schaf­fen nun ein­mal ihr eige­nes Uni­ver­sum. Selbst wenn man sich ver­bar­ri­ka­diert, wie Helen Clar­voe es spä­tes­tens nach dem Anruf von Eve­lyn Mer­rick tut, gibt es immer noch das Tele­fon, das einen mit der Aus­sen­welt ver­bin­det. Oder die inne­ren Stim­men, die einen nicht in Ruhe lassen.
Aber selbst wenn auch die schwei­gen, gibt es da ja noch Eve­lyn Mer­rick, die mit ihren Anru­fen und Andeu­tun­gen, die lei­der oft genug auf Wahr­heit beru­hen, einen Men­schen jagen und schliess­lich sogar in den Tod trei­ben kann. Es ist nicht nur Helen Clar­voe, auf die sie es abge­se­hen hat. Ihr Hass reicht tie­fer. Sie macht ein paar gehäs­sige Bemer­kun­gen über Dou­glas, Helens jün­ge­ren Bru­der, gegen­über Mrs. Clar­voe; ent­hüllt dabei der Mut­ter Dou­glas‘ Homo­se­xua­li­tät, die er bis dahin erfolg­reich ver­ber­gen konnte, und treibt den jun­gen Mann damit in den Tod. Was im Jahr 2011, wo zumin­dest in Deutsch­land viele sich offen zu ihrer Homo­se­xua­li­tät beken­nen, ziem­lich unwahr­schein­lich klingt, ist im prü­den Ame­rika der fünf­zi­ger oder sech­zi­ger Jahre durch­aus vor­stell­bar. Nur ein ein­zi­ges Mal greift Miss Mer­rick selbst zur Waffe; in den ande­ren Fäl­len treibt sie ihre Opfer allein durch ihre Worte in den Tod. Und am Ende pas­siert das, was pas­sie­ren muss: Eve­lyn Mer­rick und Helen Clar­voe ver­schmel­zen zu einer ein­zi­gen Per­son, und das ist dann auch das Ende.

Es ist eine abge­schlos­sene Welt, in der alles sei­nen gna­den­lo­sen Gang geht. Und die Haupt­fi­gu­ren sind ent­we­der hys­te­risch wie Helen Clar­voe oder para­noid. Das ist übri­gens auch ein Kenn­zei­chen der ande­ren Romane von Mar­ga­ret Mil­lar, jeden­falls, soweit ich sie kenne. Es sind nicht die nor­ma­len Men­schen, an denen die Mil­lar inter­es­siert war. Eher schon die, die aus der Norm her­aus­fal­len. Men­schen, die sich ver­folgt füh­len oder die die Rea­li­tät ver­drän­gen und sich in eine Schein­welt flüch­ten. Men­schen also, die eher schwach sind.
Inter­es­sant ist schliess­lich auch, dass ihre Haupt­fi­gu­ren alle weib­lich sind. Jeden­falls trifft das für die Romane zu, die ich gele­sen habe, also “Liebe Mut­ter, es geht mir gut”, “Ein Frem­der liegt in mei­nem Grab”, “Von hier an wird’s gefähr­lich”, “Die Fein­din” und “Das eiserne Tor”. Die Män­ner, denen man in ihren Roma­nen begeg­net, sind dage­gen eher sym­pa­thisch gezeich­net. Sie sind hilfs­be­reit wie Mr. Blackshear, der Freund von Miss Clar­voe oder wie Ralph MacPher­son, der Anwalt, der Mrs. Oak­ley, eine der Haupt­fi­gu­ren aus “Die Fein­din” immer wie­der in die Rea­li­tät zurück­holt. Sie mögen schwach sein, wie Char­lie Gowen, (eben­falls eine wich­tige Figur in der “Fein­din”), aber selbst ihre Welt­fremd­heit hat etwas selt­sam Sym­pa­thi­sches.  Ob Mar­ga­ret Mil­lar eine Wei­ber­has­se­rin war? Aus ihren Roma­nen könnte man es zumin­dest herauslesen.

Angesiedelt in der amerikanischen 60er-Mittelschicht

Original-Cover der amerikanischen Bantam-Ausgabe von Millars
Ori­gi­nal-Cover der ame­ri­ka­ni­schen Ban­tam-Aus­gabe von Mil­lars “Beast in View” (1955/56)

Den­noch ist der Kos­mos, den sie mit ihren Wor­ten erschafft, anders als jene von bei­spiels­weise Kafka, immer noch die Welt, die wir ken­nen. Er ist ange­sie­delt in der ame­ri­ka­ni­schen Mit­tel­schicht der fünf­zi­ger und sech­zi­ger Jahre, und die Details sind lie­be­voll beschrie­ben und damit wie­der­erkenn­bar. Hin und wie­der ent­steht gerade aus der Schwä­che der Haupt­fi­gu­ren die Bedro­hung. Es sind nicht die Star­ken, die die Welt bedroh­lich machen, son­dern die Schwa­chen. Das gilt viel­leicht weni­ger für Helen Clar­voe, die nur noch flieht, wohl aber für Mrs. Oak­ley, die Hys­te­ri­ke­rin aus “Die Fein­din”, und ebenso auch für Char­lie Gower, der eben­falls eine wich­tige Rolle in der “Fein­din” spielt.
Wer sehen möchte, mit welch unter­schied­li­chen Mit­teln Mar­ga­ret Mil­lar eine Welt der Angst auf­bauen kann, der lese nach­ein­an­der “Liebe Mut­ter, mir geht es gut” und “Die Fein­din”. In “Liebe Mut­ter” gibt es nur Helen Clar­voe als Fokus, und der Auf­bau der Bedro­hung pas­siert schnell. In der “Fein­din” wech­selt der Fokus immer wie­der von Kate Oak­ley, die sich vor ihrem (getrennt von ihr leben­den) Mann fürch­tet und deren Angst gera­dezu hys­te­risch ist, zu Jes­sie Brant und Mary Mar­tha Oak­ley, zwei neun­jäh­ri­gen Kin­dern, die befreun­det sind, zu Char­lie Gower, der eine Schwä­che für Kin­der hat, dann zu Vir­gi­nia und Howard Arling­ton, einem Ehe­paar im begin­nen­den Kriegs­zu­stand, der wie­derum durch Vir­gi­nias Liebe zu Jes­sie aus­ge­löst wird. Die Span­nung ist sub­ti­ler, und lange fragt der Leser sich, wel­che der Per­so­nen denn nun die Kata­stro­phe aus­lö­sen wird, die bei Mar­ga­ret Mil­lar unwei­ger­lich am Ende ste­hen wird. Und natür­lich ist es wie­der anders, als man es sich gedacht hat. Aber das kennt man ja aus fast jedem Krimi.
Eine sol­che Welt, bedroh­lich, tückisch und doch zumin­dest halb­wegs rea­lis­tisch, kenne ich eigent­lich nur noch aus eini­gen Roma­nen der High­s­mith, aus den Kri­mis von Bar­bara Vine oder aus Paul Aus­ters “Levia­than”.

Subtile Beschreibungen von Ängsten und Schmerzen

Kürz­lich las ich in der “Zeit” eine Repor­tage über eine Reise zu den Fol­ter­ge­fäng­nis­sen der Roten Khmer, die von 1975-1979 Kam­bo­dscha regier­ten und zugrunde rich­te­ten. Der Arti­kel ist aus Anlass des ers­ten Pro­zes­ses eines inter­na­tio­na­len Gerichts­hofs über ein Mit­glied der Roten Khmer geschrie­ben. Auch wer sich nicht mehr an diese Zeit erin­nert, viel­leicht weil er zu jung ist, wird aus dem Arti­kel von Susanne Mayer “Spu­ren des Schmer­zes” (“Die Zeit”, Nr. 29 vom 15. Juli 2010, S. 46/47) das Grauen ler­nen kön­nen. Auf einer Tafel in einem Fol­ter­ge­fäng­nis, das Susanne Mayer besucht hat, steht der Satz: “Wäh­rend der Elek­tro­schocks ist es ver­bo­ten zu schreien.”
Mag sein, dass es irgend­wann einen Roman über die Herr­schaft der Khmer Rouge in Kam­bo­dscha geben wird. Womög­lich wird er ja ins Deut­sche über­setzt. Zwar hat Adorno sei­ner­zeit behaup­tet, nach Ausch­witz Gedichte zu schrei­ben sei unmög­lich, aber es gab nicht nur Gedichte nach Ausch­witz; es gab sogar wel­che über das Unsag­bare. Paul Celan hat sie geschrie­ben. Und Primo Levi hat einen Roman über die Ver­nich­tungs­la­ger geschrie­ben; Elie Wie­sel oder Wies­law Kielar haben aus ihrer eige­nen Erfah­rung über die Ver­nich­tungs­la­ger geschrie­ben. Womög­lich gibt es kein Grauen, das nicht irgend­wann ein­mal lite­ra­risch ver­ar­bei­tet wird. Ein­zig die Zeit, die ver­ge­hen muss, bis ein sol­ches Gesche­hen sei­nen Weg in die Welt des Romans fin­det, spielt eine gewisse Rolle. Es dau­ert eben, bis man die nötige Distanz hat, das Ent­set­zen in Worte zu fas­sen. Aber falls je ein Roman über die Herr­schaft der Khmer Rouge erschei­nen wird, glaube ich nicht, dass ich ihn lesen werde. Es gibt ein Leid, das ich mir gern erspa­ren möchte. Obwohl ich ande­rer­seits auch ver­stehe, wenn ein Betrof­fe­ner die­ses Leid durch das Schrei­ben eines Romans “ver­ar­bei­ten” will.

... ist eine Essay-Reihe, in der das Glarean Magazin wöchentlich Werke vorstellt, die vom kultur-medialen Mainstream links liegengelassen oder überhaupt von der
… ist eine Essay-Reihe, in der das Glarean Maga­zin wöchent­lich Werke vor­stellt, die vom kul­tur-media­len Main­stream links lie­gen­ge­las­sen oder über­haupt von der “offi­zi­el­len” Lite­ra­tur­ge­schichte igno­riert wer­den, aber nichts­des­to­we­ni­ger von lite­ra­ri­scher Bedeu­tung sind über alle modi­sche Aktua­li­tät hin­aus. Die Autoren der Reihe pfle­gen einen betont sub­jek­ti­ven Zugang zu ihrem jewei­li­gen Gegen­stand und wol­len weni­ger beleh­ren als viel­mehr erin­nern und interessieren.

Den­noch sind mir offen­sicht­lich fik­tive Werke wie die Romane von Mar­ga­ret Mil­lar lie­ber. Sie spie­len mit mei­nen Ängs­ten, aber sie über­schrei­ten die Grenze nicht. Sie respek­tie­ren den Schutz­raum, den das Indi­vi­duum braucht, um zu überleben.
Näher möchte ich eigent­lich nicht mehr heran. Das ist der Unter­schied zwi­schen Mar­ga­ret Mil­lar und – pars pro toto – Roberto Bol­ano. Womög­lich kann man mit eben­sol­chem Recht sagen: Die Welt ist nun ein­mal grau­sam, und wir sind so abge­stumpft, dass nur noch neue For­men uns aus unse­rer Lethar­gie reis­sen kön­nen. Aus­ser­dem ent­spricht das Abbild, das Bol­ano, Pyn­chon und tutti quanti von der Welt lie­fern, viel eher der moder­nen Erfah­rung des Aus­ge­lie­fert-Seins an anonyme Mächte, die wir kaum noch erken­nen, geschweige denn beschrei­ben kön­nen, als die Romane von Mar­ga­ret Mil­lar, wo die Bedro­hung von einem Indi­vi­duum aus­geht, des­sen Namen man kennt, und des­sen Motive nach und nach sicht­bar wer­den. Und selbst wenn es die Bewoh­ner der Klein­stadt sind, die einen wie Char­lie Gowen aus der “Fein­din” immer mehr ein­krei­sen, so “kennt” man doch als Leser die Namen und Gesichter.
Man kann also sagen: die Romane von Bol­ano, Pyn­chon, Zeh oder der ande­ren Shoo­ting Stars der Post­mo­derne ent­spre­chen viel eher der heu­ti­gen Lebens­er­fah­rung. Sie bil­den die Wirk­lich­keit von heute viel bes­ser ab als eine Mar­ga­ret Mil­lar. Ich würde die­ser These nicht ein­mal wider­spre­chen wol­len. Den­noch ziehe ich Mar­ga­ret Mil­lar vor und ver­weise auf den Anfang die­ses Essays:. Ein biss­chen Distanz halte ich für ange­bracht. Selbst wenn das alt­mo­disch klin­gen sollte.

Unfreiwille Stilblüten aufgrund mangelhafter Übersetzung

Noch ein Wort zur Über­set­zung: “Liebe Mut­ter, es geht mir gut” ist 1955 in New York auf Eng­lisch erschie­nen und 1967 von Eliza­beth Gil­bert über­setzt wor­den. Die Spra­che erscheint oft gestelzt. “Miss Hud­sons Büro war kunst­voll der Wer­bung neuer Schü­le­rin­nen ange­passt.” (S. 47) Eine Tele­fo­nis­tin gibt kei­nen Anruf durch; sie stellt ihn durch. Ich wüsste auch nie­man­den, der “abhängt”, wenn er ein Tele­fo­nat been­det; die meis­ten legen auf. Letz­te­res lie­fert einen Hin­weis auf die Mut­ter­spra­che der Über­set­ze­rin, falls das der Vor­name nicht schon getan hat. “She hung up” heisst es im Eng­li­schen, wenn eine Frau das Tele­fon auf­legt. Eliza­beth Gil­berts Mut­ter­spra­che ist ver­mut­lich Eng­lisch, aber zumin­dest hätte ein Lek­tor oder eine Lek­to­rin noch ein­mal über den Text schauen kön­nen. Auch in ande­ren Roma­nen von Mar­ga­ret Mil­lar, die sie über­setzt hat, habe ich unge­wöhn­li­che Rede­wen­dun­gen und Stil­blü­ten gefun­den. Falls also Mar­ga­ret Mil­lars Romane noch ein­mal auf­ge­legt wer­den, was ich sehr hoffe, dann soll­ten sie mög­lichst auch gleich neu über­setzt werden. ●


Bernd Giehl - Glarean MagazinBernd Giehl

Geb. 1953 in Marienberg/D, Stu­dium der Theo­lo­gie in Mar­burg, zahl­rei­che schrift­stel­le­ri­sche und theo­lo­gi­sche Publi­ka­tio­nen, lebt als evang. Pfar­rer in Nauheim

Lesen Sie im Glarean Maga­zin aus der Reihe “Ver­ges­sene Bücher” auch von Mari­anne Figl: Die Offi­zie­rin (Nadeshda Durowa)

2 Kommentare

  1. Eine schöne Idee, an der ich mich bei Gele­gen­heit gern betei­lige. Ueb­ri­gens: In mei­ner Biblio­thek, Abtei­lung Kri­mi­nal­ro­mane, ste­hen die Gesam­mel­ten Werke Mar­ga­ret Mil­lars. In Tuch­füh­lung mit denen von Ross McDonald.

    Mit freund­li­chen Grüssen

    Wolf­ram Malte Fues
    Prof. Dr. phil.

  2. Danke, da mache ich gerne mit! Eine wun­der­bare, längst fäl­lige Idee.
    Für mich aber etwas später……Zur Zeit bin ich über­wie­gend mit gesund­heit­li­chen Pro­ble­men beschäftigt.
    Schöne Pfingsten!

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