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Der Mensch, die traurige Maschine
von Alexandra Lavizzari
Der Schweizer Schriftstellerin und Dramatikerin Martina Clavadetscher ist mit “Die Erfindung des Ungehorsams” eine literarisch beeindruckende Dystopie gelungen, deren formale Struktur auf wunderbare Weise den Inhalt widerspiegelt und ihm Akzente setzt. Wie schon bei ihrem Erstling “Knochenlieder” lohnt es sich, den Roman gleich zweimal hintereinander zu lesen, oder, in diesem Fall zumindest, nochmals den ersten mit “I.” überzeichneten Teil, der sich erst im Zusammenhang mit dem letzten Teil in seiner ganzen Schauderhaftigkeit erschließen wird.
Die Autorin Martina Clavadetscher macht dem Leser den Einstieg in ihre düstere Zukunftswelt nicht leicht, und man mag zu Beginn vielleicht vor lauter Rätsel über die virtuose Sprache hinweglesen, weil man sich allzu schnell im Text orientieren möchte.
Wer ist Iris, die mit Eric in einem Appartement in Manhattan lebt und den beiden geladenen Frauen Godwin und Wollestone ihre Geschichte heute unbedingt bis zum Kern erzählen will? Wer ist Ada, von der sie erzählt? Und wer sind ihre Schwestern, “all die Frauen da draußen, die wie Zeitbomben ihr Leben leben”?
Die Namen der Gäste liefern immerhin einen ersten Hinweis – Mary Shelleys Vater hieß Godwin und ihre Mutter Wollestonecraft. Mary Shelley, die im Sommer 1816 am Genfer See “Frankenstein” zu schreiben begann, liefert denn auch eines der beiden Mottos von Clavadetschers Roman: “Ich habe es gefunden. Was mich entsetzt hat, wird andere entsetzen.“
Es, der künstliche Mensch und die mit dessen Erschaffung aufkommenden ethischen Fragen bilden, wie sich bald herausstellt, den Kern dieses komplexen Textes, um den Plot und Sprache in einer sich gegenseitig beleuchtenden Wechselseitigkeit kreisen.
Körperwelten
Auf Iris in Manhattan folgt im zweiten Teil die Geschichte von Ling in der chinesischen Metropole Shenzhen, einer jungen, leicht autistischen Halbschwester von Iris, die in einer Sexpuppenfabrik arbeitet. Nach Arbeitsschluss trifft sie sich mit ihrer Adoptivgrossmutter Zea zum Ritual in der Pagode und isst Abend für Abend in derselben Imbissbude, bevor sie sich zu Hause den Film “Paradise Express” zu Gemüte führt. Ihre Arbeit in der Fabrik besteht in der Messung und Prüfung der frisch gegossenen Silikonkörper; “ungewollte Überbleibsel der Gussgeburt” werden weggebrannt und versiegelt, bis makellose Leiber daliegen und ihnen die Köpfe angeschraubt werden können. Spätestens bei diesen minutiösen Beschreibungen hat uns die Autorin in ihren Bann gezogen und tastet man sich mit zunehmender Faszination – aber auch Beunruhigung – durch das subtile Vexierspiel mit lebenden und leblosen Körpern.
Zeitreise ins viktorianische England

Zur Entwirrung der verschiedenen Erzählstränge trägt im dritten Teil eine Zeitreise ins viktorianische England bei. Clavadetscher lässt eine Sexpuppe, die Ling aus der Fabrik entwendet hat und als Gefährtin sozusagen adoptiert, die Biografie von Ada Lovelace erzählen, der legitimen Tochter Lord Byrons und Pionierin der modernen Informatik. Mit dieser interessanten Forscherin hat sich Clavadetscher schon in ihrem 2019 in Leipzig uraufgeführten Stück “Frau Ada denkt Unerhörtes” befasst. Ada Lovelace ist ihr offenbar ein Anliegen.
Prosastück im Roman
Bei der Lektüre dieses dritten Romanteils kann man sich des Eindrucks denn nicht ganz erwehren, dass es sich um ein ursprünglich eigenständiges Prosastück handelt, das die Autorin dann mit neuen, in der Gegenwart spielenden Kapiteln zu einem Roman erweitert hat. Ada Lovelaces Biografie steht nämlich abgerundet und in sich geschlossen da. Wir erfahren alle wesentlichen Fakten und Etappen ihres Lebens von den Mädchenträumen bis zum frühen Krebstod, wo die Beschränkung auf Forschung und kühnen Zukunftsvisionen dem Bruchstückhaften der andern Frauenleben in den Rahmenkapiteln vielleicht besser entsprochen und so dem Roman eine überzeugendere Einheit verliehen hätte.
Ada Lovelace

Seit Kindheit von Maschinen jeglicher Art fasziniert, wollte die mathematisch hochbegabte Ada mit zwölf Jahren eine Flugmaschine erfinden, doch erst fünf Jahre später erlaubte ihr die Begegnung und Freundschaft mit dem Mathematiker Charles Babbage, ihr Zahlenwissen mit der Zukunftsvision vom Potenzial einer “analytischen Maschine” zu verbinden und darüber zu schreiben. Babbage arbeitete gerade an einer “Differenzmaschine” und bat Ada, einen französischen Artikel darüber ins Englische zu übersetzen. Eigenständiges wissenschaftliches Arbeiten war Frauen damals verwehrt, aber Ada ließ sich nicht abschrecken, sondern ergriff die Gelegenheit, ihre eigenen Gedanken zum Übersetzten beizusteuern.
Es entstanden acht “Notizen”, dreifach so lang wie der Artikel selbst, aus denen ersichtlich wird, dass Ada weit über die blossen numerischen Möglichkeiten der Maschine hinaussah. Die Maschine könnte Musiknoten produzieren, argumentierte sie, auch Buchstaben und Bilder, warum nicht? Und weiter: Die Maschine könnte sprechen! Der Schritt zur selbstständig denkenden und handelnden Maschine, also zu Frankensteins Kreatur, wie sie sich Mary Shelley ausgedacht hat, ist theoretisch denn nur noch ein winziger.
Kernfrage Herkunft
Womit wir wieder bei der erzählenden Sexpuppe sind und schließlich im letzten Kapitel zurück bei Iris in Manhattan landen, die… Doch nein, es werde hier nicht verraten, welche Bewandtnis es mit ihr hat. Bloß sei hingewiesen, dass der Text als Ganzes wie eine Zwiebel angelegt ist – “Hülle über Hülle über Hülle über Kern”, und dass diese Struktur auch Clavadetschers Kernthema illustriert: die Frage der Einmaligkeit des lebenden Körpers im Gegensatz zum identisch wiederholbaren des künstlichen.
Nicht nur die Sexpuppen in der chinesischen Fabrik können ad infinitum aus derselben Gussform kreiiert werden, wird uns gezeigt, sondern auch der Mensch hat seine eigene Gussform, eine biologische Herkunft, die er als Urbild mit sich herumträgt und weitergibt. Jeder Mensch ist ein neues eigenständiges Wesen, eine neue Hülle sozusagen, aber zugleich auch nur das provisorische Endglied in der Kette des sich ständig wiederholenden unzähmbaren Lebens.
Spiegelungen über Raum und Zeit

Diese Wiederholbarkeit wird im Roman geschickt durch Bild- und Situationsspiegelungen über Raum und Zeit dargelegt und steuert letztlich auf den verstörenden Zweifel zu, ob es überhaupt einen Unterschied zwischen künstlichen und menschlichen Wesen gibt. Und dieser Zweifel führt seinerseits zur Frage, was das für eine Welt wäre – oder ist -, in der identische Wesen kein Gefühl der eigenen Identität entwickeln können, weil sie in der Gegenwart des Andern doch nur ins eigene Gesicht blicken.
Ja, was wäre – oder ist – das für eine Welt? Wer eine Antwort sucht, der lasse sich von Martina Clavadetschers Sprachgewalt mitreissen und gehörig überraschen. ♦
Martina Clavadetscher: Die Erfindung des Ungehorsams, Roman, 288 Seiten, Unionsverlag, ISBN 978-3-293-00565-5
Alexandra Lavizzari
Geb. 1953 in Basel, Studium der Ethnologie und Islamwissenschaft, Verschiedene belletristische, kunstgeschichtliche, übersetzerische und literaturkritische Publikationen in Büchern und Zeitungen, lebt als Autorin und Malerin in Somerset/GB
… sowie zum Thema Schweizer Autorinnen über Isabelle Stamm: Schonzeit (Roman)