Gisela Elsner: Zerreissproben (Erzählungen)

Nichts für zarte Gemüter

von Karin Afshar

Bestimmt haben Sie als Lese­rin oder Leser mehr als ein­mal dar­über nach­ge­dacht, zu wel­cher Gruppe Leser Sie wohl gehö­ren wür­den, wenn es in Buch­hand­lun­gen nicht die übli­chen Spar­ten­ein­tei­lun­gen in Sach­bü­cher, Romane, Fan­tasy, Frau­en­ro­mane etc. gäbe, son­dern Ein­tei­lun­gen wie z.B. in Kun­den­spar­ten: “Inter­es­siert sich für die poli­ti­sche Rich­tung eines Autors”, oder “Meint, kein Autor schreibe anders als auto­bio­gra­fisch”, oder “Inter­es­siert sich für in Wider­sprü­che ver­strickte Autoren”, zu deren Regale Sie der­ge­stalt ori­en­tiert Ihre Schritte len­ken könn­ten, um sicher­zu­stel­len, dass Sie auch genau die Bücher, die Sie inter­es­sie­ren, in die Hände bekä­men und nicht unnö­ti­ger­weise – das Leben hält genug schlechte Über­ra­schun­gen bereit – sol­che, die sie ent­täu­schen wür­den. Die Spar­ten in Kom­bi­na­tion wür­den Ihnen jenes Buch aus­wer­fen, um das es in den nächs­ten Absät­zen gehen wird.

Von der Künstlichkeit einer bürgerlichen Welt

Gisela Eisner - Zerreissproben - Erzählungen - Verbrecher VerlagWenn Sie den Ein­gangs­satz durch­drun­gen haben, ste­hen Sie bereits mit­ten in einem Laby­rinth; so ist es zumin­dest bei Gisela Els­ner. Besag­ter Satz ist nur ein fader Abklatsch des­sen, was sie zu Papier bringt. Die kaf­ka­eske Art ist ihr Stil, ihr Mar­ken­zei­chen: sie kon­stru­iert Sätze, die erstau­nen, zum Lachen brin­gen, unge­dul­dig, atem­los, ja, wütend machen. Sie wie­der­holt, insis­tiert, ist akri­bisch, sie zählt auf, spitzt zu, zer­pflückt, zer­teilt… Die­ser Erzähl­stil unter­streicht natür­lich Inhalte, und die sind nicht lus­tig. Ihre Texte han­deln von der Künst­lich­keit einer bür­ger­li­chen Welt, die einer­seits die Schrau­ben immer fes­ter anzieht, ande­rer­seits ver­schro­ben daher kommt.

Elf Erzäh­lun­gen Els­ners hat die Her­aus­ge­be­rin Chris­tine Kün­zel neu cho­reo­gra­phiert, und die Abfolge ist gelun­gen. Chris­tine Kün­zel betreut seit 2002 die Werk­schau Gisela Els­ners im Ver­bre­cher Ver­lag Ber­lin: “Die Zäh­mung”, Roman (2002), “Das Berüh­rungs­ver­bot”, Roman (2006), “Hei­lig Blut”, Roman (2007), “Otto der Gross­ak­tio­när”, Roman (2008) und “Flie­ger­alarm”, Roman (2009) sind bereits erschie­nen. Gisela Els­ner erhielt etli­che inter­na­tio­nale Aus­zeich­nun­gen, dar­un­ter den Prix For­men­tor für ihren ers­ten Roman “Die Rie­sen­zwerge” (1964), an des­sen Erfolg sie nicht wie­der anknüp­fen konnte. Sie ver­öf­fent­lichte Romane, Erzäh­lun­gen, Auf­sätze, Hör­spiele und das Opern­li­bretto “Frie­dens­sai­son”.

Demaskierung des scheinheiligen Kollektivs

Els­ner beschreibt in den vor­lie­gen­den Erzäh­lun­gen vor allem Men­schen, die sie aus dem Kol­lek­tiv her­aus­ar­bei­tet, wie man einen 3D-Abdruck aus einem Nagel­bild her­aus­ar­bei­tet: hin­ten wird gedrückt und vorne ent­steht das Bild. Sie beschreibt das Kol­lek­tiv, die Welt der Ober­flä­che, die sie sodann demas­kiert, damit das Dar­un­ter – das Schein­hei­lige – zum Vor­schein kommt. Die Geschich­ten ver­lan­gen starke Ner­ven, denn Els­ner zer­legt und kari­kiert so gründ­lich, dass sie sich selbst und dem Leser den Boden unter den Füs­sen weg­zu­zie­hen vermag.

Gisela Elsner (1937-1992)
Gisela Els­ner (1937-1992)

In “Die Zer­reiss­probe” (der ers­ten Erzäh­lung im Band 2) geht es um eine Frau, die sich – als Ter­ro­ris­tin ver­däch­tigt – im Faden­kreuz des Ver­fas­sungs­schut­zes glaubt. Ihre Woh­nung wird beob­ach­tet. Wenn sie nicht zuhause ist, kom­men “sie”, schal­ten Tisch­lam­pen aus, ver­rü­cken Möbel und schnei­den von Klei­dungs­stü­cken Stoff­fet­zen ab. Von einem Nach­barn, dem Vor­mie­ter die­ser Woh­nung, in der sie nun lebt, erfährt sie, dass in der Woh­nung in erst kürz­lich zurück­lie­gen­der Vor-Nach-Stamm­hei­mer Zeit Ter­ro­ris­ten unter­ge­schlüpft sein sol­len. Der Ver­dacht – so ver­mu­tet die Erzäh­le­rin, die auch in der Erzäh­lung Schrift­stel­le­rin ist – fällt jetzt auf sie, aber sie geht der Sache auf den Grund.
In “Der Maha­ra­dscha-Palast” mokiert sie sich über eine Rei­se­ge­sell­schaft, die am Ort ihrer Unter­kunft mit eini­gen Über­ra­schun­gen kon­fron­tiert ist: kei­ner der Betrof­fe­nen wird sich – zurück in Deutsch­land ­– die Blösse geben und zuge­ben, sich ange­sichts des Vor­ge­fun­de­nen ent­larvt zu haben.

Spitz gezeichnete Abbilder der 1970er und 80er

Der Selbst­ver­wirk­li­chungs­wahn” ver­höhnt nicht nur die Selbst­fin­dungs­welle der frü­hen 80er Jahre, son­dern nimmt die Aus­wüchse der “Grün­li­chen” aufs Korn, und dabei nicht weni­ges vor­weg. Wie über­haupt die spitz gezeich­ne­ten Bil­der sowohl alle­samt Abbil­der der 70er und 80er sind, als  auch eine Vor­weg­nahme, die wir jetzt – 2013 – im Nach­hin­ein in vol­ler Trag­weite bestä­ti­gen kön­nen. Els­ners Geschich­ten sind mei­ner Mei­nung nach mehr als Satire. Unsere Zeit hat die Satire längst ein­ge­holt, und bei man­chen Erzäh­lun­gen ereilt mich der Ver­dacht, Els­ner habe geahnt, wor­auf es hin­aus­läuft, und ist Opfer ihres per­sön­li­chen Minen­fel­des gewor­den. Damit musste sie eine Her­aus­ge­fal­lene werden!
In “Der Ster­bens­künst­ler” geht es um die Frie­dens­be­we­gung und ihre Abstru­si­tä­ten, in “Der Ant­wort­brief Her­mann Kaf­kas auf Franz Kaf­kas Brief an sei­nen Vater” bricht sie mit ihrem “Gott” Franz, an dem sich ori­en­tie­ren zu kön­nen sie in jun­gen Jah­ren glaubte: “Du schreibst, Du wärest mir als das Ergeb­nis mei­ner Erzie­hung pein­lich. […] Viel pein­li­cher indes als das Ergeb­nis mei­ner Erzie­hung ist für mich die Tat­sa­che, dass ich es durch Dich mehr und mehr ver­lerne, nicht allein die Welt zu begrei­fen, son­dern auch mich. […]” Kafka, ohne dies ergie­big zu ver­tie­fen, lebte vor den Toren zur Gegen­wart und trat nicht über die Schwelle ins Jetzt. Seine Haupt­the­men waren durch­weg vol­ler Anklage an jene, von denen er glaubte, sie ver­hin­der­ten ihn. Das wie­derum übte eine gewisse Fas­zi­na­tion – nicht nur auf Els­ner – aus.

Mal laute, mal leise Wortgewalt

In ihrem zweiten Erzählband "Zerreissproben" legt Gisela Elsner ein Zeugnis ihrer selbst ab, und das so fundamental und radikal, dass es einem die Luft abdrehen kann. Wir blicken in Abgründe...
In ihrem zwei­ten Erzähl­band “Zer­reiss­pro­ben” legt Gisela Els­ner ein Zeug­nis ihrer selbst ab, und das so fun­da­men­tal und radi­kal, dass es einem die Luft abdre­hen kann. Wir bli­cken in Abgründe…

Die Zwil­linge” und “Vom Tick-Tack zum Tick”  kom­men im Ver­gleich zu “Die ver­wüs­tete Glück­se­lig­keit” harm­los daher, zeu­gen aber gerade des­halb von Els­ners – es Talent zu schrei­ben zu nen­nen, wäre eine Belei­di­gung – mal lau­ter, mal lei­ser Demon­tie­rungs­wut und Wort­ge­walt. Els­ner geht auch mit sich selbst hart ins Gericht, demon­tiert sich selbst und erwar­tet anschei­nend doch unend­lich viel – oder gar nichts mehr? Was weiss man von die­ser Frau? Muss man etwas über sie wis­sen? Ich finde ja: man muss! Sie ist gegen die Frie­dens­be­we­gung, sie lehnt die Errun­gen­schaf­ten von 68 radi­kal ab, sie bekennt sich zum Kom­mu­nis­mus, ist aber doch wan­kel­mü­tig (Ein­tre­ten, dann Aus­tre­ten, dann Wie­der­ein­tre­ten in die DKP), sie will nicht Dich­te­rin genannt wer­den, … Sie insze­niert sich selbst und spä­ter – als das nicht mehr reicht – ihre Selbst­zer­stö­rung. Sie hadert mit sich, ist unzu­frie­den, gehört nir­gendwo dazu, und braucht das viel­leicht doch sehr drin­gend? “Irgend­wie” besteht die “reine Mög­lich­keit”, dass das Ende der gan­zen Kette von Miss­stän­den, dem Abstru­sen, dem ver­hass­ten Kapi­ta­lis­mus, der Klein­bür­ger­lich­keit … ein ande­res Leben bedeu­ten könnte – bis es jedoch soweit ist, fehlt ihr eine wirk­lich posi­tive Per­spek­tive. Gisela Els­ner wird 1937 in Nürn­berg gebo­ren, und nimmt sich 1992 das Leben.

Im Buch ent­hal­ten sind Erklä­run­gen zu Els­ners erzäh­le­ri­schem Werk, edi­to­ri­sche Noti­zen zur His­to­rie der ein­zel­nen Erzäh­lun­gen sowie deren Ver­or­tung im Gesamt­werk. Nie­mand schreibt anders als auto­bio­gra­fisch  – zu die­ser Ansicht bin ich im Laufe mei­nes Lebens gelangt. Das Her­aus­ste­chendste an Els­ners hier vor­ge­leg­ten Erzäh­lun­gen ist: sie legt ein Zeug­nis ihrer selbst ab, und das so fun­da­men­tal und radi­kal, dass es einem die Luft abdre­hen kann. Wir bli­cken in Abgründe. Nicht viel Spass wün­sche ich nun beim Lesen, son­dern viele Erkenntnisse! ●

Gisela Els­ner: Zer­reiss­pro­ben – Erzäh­lun­gen (Band 2), 224 Sei­ten, Ver­bre­cher Ver­lag, ISBN 9783943167054

Lesen Sie im Glarean Maga­zin auch über die Erzäh­lun­gen von Bern­hard Stro­bel: Nichts, nichts
… sowie zum Thema Roman-Rezen­sio­nen über Abra­ham Ver­ghese: Rück­kehr nach Missing

Ein Kommentar

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