Heute vor … Jahren: “Die letzten Tage der Menschheit”

Über die Profiteure des Krieges

von Wal­ter Eigenmann

Am 13. Dezem­ber 1918 ver­öf­fent­licht der öster­rei­chi­sche Schrift­stel­ler sowie Zeit- und Sprach-Kri­ti­ker Karl Kraus in sei­ner Zeit­schrift “Die Fackel” den ers­ten Teil sei­nes dra­ma­ti­schen Haupt­wer­kes “Die letz­ten Tage der Mensch­heit” (Ein “Pro­log” der “Tra­gö­die” erschien bereits 1916).
Das gewal­tige, sub­stan­ti­ell wie for­mal ein­zig­ar­tige Epos mon­tiert doku­men­ta­ri­sche “Sze­nen” zu einer Apo­ka­lypse des (eben been­de­ten) Ers­ten Weltkrieges.

Karl Kraus - Prolog-Umschlagseite der "Fackel" mit dem Anfang von "Die letzten Tage der Menschheit"Aller­dings ist “Die letz­ten Tage der Mensch­heit” kei­nes­wegs ein Sam­mel­su­rium von Kampf-Schil­de­run­gen. Die wirk­li­chen Schre­cken des Krie­ges mani­fes­tie­ren sich gemäss Kraus im Ver­hal­ten jener Men­schen, die in ihrer Igno­ranz den Ernst und die Tra­gik des Krie­ges nicht wahr­ha­ben wol­len, son­dern sich fernab vom eigent­li­chen Kriegs­schau­platz an ihm berei­chern und ihn mit lüg­ne­ri­schen Phra­sen beschö­ni­gen: Jour­na­lis­ten, Händ­ler, hohe Mili­tärs und Kriegs­trei­ber, die sich fern vom Schlacht­feld im Ruhm ihres mili­tä­ri­schen Ran­ges baden. Kraus ent­larvt die Phra­seo­lo­gie und die Wort­hül­sen (“Der Krieg ist aus­ge­bro­chen”), und er zeigt apo­ka­lyp­tisch, wer vom Krieg pro­fi­tiert – und wer ihn immer guten Glau­bens und sehen­den Auges verliert.

Satire gegen den Krieg

Seine „Tra­gö­die in 5 Akten mit Vor­spiel und Epi­log“ schrieb Kraus in den Jah­ren 1915–1922; sie ist Kraus’ mora­lisch ent­rüs­tetste, dabei fast aus­schliess­lich mit den lite­ra­ri­schen Mit­teln Satire, Zitat und Col­lage bewäl­tigte Reak­tion auf ein geschicht­li­ches Ereig­nis, dem eigent­lich mit Satire nicht bei­zu­kom­men ist: dem Ers­ten Welt­krieg. Eine fort­lau­fende Hand­lung haben die “Letz­ten Tage” nicht, son­dern die Absur­di­tät des Krie­ges, seine Macher und Pro­fi­teure wer­den mit über 200 mehr oder weni­ger zusam­men­hän­gen­den, auf authen­ti­schen zeit­ge­nös­si­schen Quel­len beru­hen­den “Sze­nen” gegeisselt.
Zusam­men­ge­hal­ten wird das viel­sei­tige Epos von den Aus­sprü­chen und Bekennt­nis­sen einer gros­sen Menge wider­sprüch­li­cher, aber auf den Krieg fokus­sier­ter und von ihm pro­fi­tie­ren­der Per­so­nen der rea­len Zeit­ge­schichte – ange­fan­gen bei der kor­rum­pier­ten Poli­ti­ker-Kaste über den gleich­ge­schal­te­ten Jour­na­lis­mus und die skru­pel­los agie­rende Mili­tär­füh­rung bis hin zum tum­ben Mit­läu­fer auf der Strasse.

Symptome des Unheils vorausgesehen

Querdenker, Wortkünstler, Prophet, Moralinstanz: Karl Kraus (1874-1936)
Quer­den­ker, Wort­künst­ler, Pro­phet, Moral­in­stanz: Karl Kraus (1874-1936)

Äus­serst tref­fend hat der Schwei­zer Ger­ma­nist und Schrift­stel­ler Peter von Matt in der NZZ vom 15.8.2014 das kul­tur­ge­schicht­li­che Ver­dienst von Karl Kraus und sei­ner “Letz­ten Tage der Mensch­heit” zusam­men­ge­fasst (Zitat): “Dass Krieg und Pro­pa­ganda zusam­men­ge­hö­ren wie Kopf und Zahl einer Münze, ist bekannt. Es zeigt sich jeweils am deut­lichs­ten beim Beginn der mili­tä­ri­schen Ope­ra­tio­nen. Und dass die Pro­pa­ganda zusam­men­fällt mit der Mani­pu­la­tion aller popu­lä­ren Medien, weiss man auch seit je. Aber wie diese Pro­pa­ganda ein­si­ckert in die ein­zel­nen Gehirne und von da wie­der auf die Zun­gen kommt, wie sie sich ver­netzt mit dem Ego­is­mus des Ein­zel­nen und ihm zur Kaschie­rung sei­ner klei­nen Schuf­te­reien die­nen kann, das steht nicht in den poli­ti­schen Ana­ly­sen. Hierzu braucht es den lite­ra­ri­schen Blick, der das Detail vor dem Gan­zen sieht, dafür aber auch die­ses Ganze im Detail auf­leuch­ten lässt wie die Sonne in einer Glas­scherbe. Kraus besass die Fähig­keit, die feins­ten Sym­ptome des Unheils zu sehen und zu hören.”

Das Lied von der Presse

Im Anfang war die Presse
und dann erschien die Welt.
Im eige­nen Interesse
hat sie sich uns gesellt.
Nach unse­rer Vorbereitung
sieht Gott, dass es gelingt,
und so die Welt zur Zeitung
er bringt […] Sie lesen, was erschienen,
sie den­ken, was man meint.
Noch mehr lässt sich verdienen,
wenn etwas nicht erscheint.

Karl Kraus’ “Die letz­ten Tage der Mensch­heit” ist in sei­nem beis­sen­den Zugriff, in sei­ner Vir­tuo­si­tät des Jon­glie­rens mit Zita­ten, Phra­sen  und State­ments ein Anti-Kriegs-Epos, das zu den beein­dru­ckends­ten der gesam­ten Lite­ra­tur­ge­schichte zählt – als der ver­zwei­felte Ver­such, die Unge­heu­er­lich­keit eines Welt­krie­ges auf nur 770 Buch­sei­ten mit sprach­li­chen Mit­teln zu bewältigen.
Die­ser monu­men­tale Ver­such mag nicht auf abso­lut jeder Seite von Kraus’ Werk gelun­gen sein. Doch wer die poli­ti­schen Wir­ren auf der aktu­el­len Welt­bühne beob­ach­tet, dem wird klar, wie hell­hö­rig, wie weit­sich­tig die­ser böh­mi­sche Sprach­vir­tuose die grund­le­gen­den Mecha­nis­men moder­ner Gesell­schaf­ten schon vor fast hun­dert Jah­ren vor­weg nahm – und wel­che offen­sicht­lich schier unüber­wind­li­chen desas­trö­sen Kon­stan­ten das Geschick der “Mensch­heit” bestimmen…

Krieg ist zuerst die Hoff­nung, dass es einem bes­ser gehen wird, hier­auf die Erwar­tung, dass es dem andern schlech­ter gehen wird, dann die Genug­tu­ung, dass es dem andern auch nicht bes­ser geht, und her­nach die Über­ra­schung, dass es bei­den schlech­ter geht. (Karl Kraus)

Lesen Sie im Glarean Maga­zin zum Thema Satire auch von
Wal­ter Eigen­mann: Was ist Satire?
… sowie über Karl Kraus in:
Zum 100. Todes­tag von Rosa Luxemburg

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