Karla Marx: Verstummte Lieder wieder zu hören – Lieder aus den Konzentrationslagern

Mahnmal gegen das Vergessen

von Christian Busch

Mit ih­rer Do­ku­men­ta­ti­on „Ver­stumm­te Lie­der wie­der zu hö­ren“ er­weckt Kar­la Marx über 150 in den KZ ge­sun­ge­ne Lie­der zum Le­ben und ver­neigt sich post­hum vor ih­nen – als ein Mahn­mal ge­gen das Vergessen.

Wo man sin­get, lass dich ru­hig nieder
Ohne Furcht, was man im Lan­de glaubt
Wo man sin­get, wird kein Mensch beraubt
Bö­se­wich­ter ha­ben kei­ne Lieder

Verstummte Lieder wieder zu hören - Lieder aus den Konzentrationslagern - Karla Marx - Rezension Glarean MagazinDie­ses Zi­tat aus dem Ge­dicht „Die Ge­sän­ge“ (1804) des als kul­tur­his­to­ri­scher Rei­se­schrift­stel­ler (Sy­ra­kus, Russ­land, Finn­land, Schwe­den, Nord­ame­ri­ka) be­kann­ten Jo­hann Gott­fried Seu­me (1763–1810), im Volks­mund ab­ge­wan­delt zu „Wo man singt, da lass dich ru­hig nie­der / böse Men­schen ha­ben kei­ne Lie­der“, ver­klärt dich­te­risch den Sach­ver­halt, dass sin­gen­de Men­schen nie­mals böse Ge­dan­ken oder Ab­sich­ten he­gen. Vor al­lem aber im­pli­ziert es den Aspekt des so­zia­len Mit­ein­an­ders als cha­rak­te­ris­ti­sches Merk­mal des Sin­gens, ei­ner in der Kul­tur der Mensch­heit tief ver­wur­zel­ten und fest ver­an­ker­ten Ausdrucksweise.
Zwar zeigt der Blick auf die Ge­schich­te, dass lei­der auch Men­schen mit nie­de­ren Ab­sich­ten sich im Ge­sang ver­ein­ten, den­noch bleibt dem Ge­sang bis heu­te eine er­he­ben­de und ver­bin­den­de Di­men­si­on haften.

Seelenvolle Dokumente

Ähn­lich wie Jo­hann Gott­fried Seu­mer mit Ge­nau­ig­keit und Nüch­tern­heit über die Ver­hält­nis­se in frem­den Län­dern be­rich­te­te und sich auf­grund sei­ner ei­ge­nen Er­leb­nis­se als Sol­dat in Nord­ame­ri­ka und Deutsch­land be­son­ders für die Frei­heits­rech­te ein­zel­ner Men­schen und gan­zer Völ­ker ein­setz­te, hat sich die Mu­sik­päd­ago­gin Kar­la Marx (geb. 1953) nun ei­ner be­son­de­ren Ka­te­go­rie des Sin­gens gewidmet.

15 Szenen für Klavier - Cover-Umschlag - Walter Eigenmann - Glarean Magazin
An­zei­ge

In ih­rem jüngst im Kid-Ver­lag er­schie­ne­nen Do­ku­men­ta­ti­ons­band „Ver­stumm­te Lie­der wie­der zu hö­ren“, Er­geb­nis jah­re­lan­ger Re­cher­chen, Stu­di­um und Be­schäf­ti­gung mit dem The­ma und Ver­schrift­li­chung ei­nes Vor­trags in­ner­halb ei­nes Kunst­wett­be­werb-Pro­jekts des Do­ku­men­ta­ti­ons­ver­eins KZ Hers­bruck, för­dert sie aus über 150 Lie­der der in den KZ in­haf­tier­ten Ge­fan­ge­nen Un­fass­ba­res zu­ta­ge – „see­len­vol­le Do­ku­men­te aus der dun­kels­ten Ab­tei­lung der deut­schen Ver­gan­gen­heit“, die ver­deut­li­chen, un­ter wel­chen un­fass­ba­ren Le­bens­um­stän­den Men­schen ver­such­ten, sich durch das Sin­gen eine le­bens­be­ja­hen­de Hal­tung, ihre Mensch­lich­keit und Wür­de zu be­wah­ren“, wie die Au­torin in ih­rem Vor­wort er­läu­tert. Ihre Ar­beit ist dem An­denken al­ler in den KZ um­ge­kom­me­nen Men­schen ge­wid­met, de­nen die Na­tio­nal­so­zia­lis­ten Wür­de, Na­men, Herz und Mensch­lich­keit ge­raubt haben.

Die Ambivalenz der Lieder

Im Haupt­teil ih­rer Do­ku­men­ta­ti­on wird sicht­bar, dass das Sin­gen in den Ar­beits­la­gern zwei un­ter­schied­li­che Di­men­sio­nen um­fass­te. So ste­hen auf der ei­nen Sei­te die Lie­der, die von der SS ge­zielt als Stra­te­gie der Ent­wür­di­gung der Häft­lin­ge ein­ge­setzt und be­foh­len wur­den, etwa beim Mar­schie­ren und bei Straf­ak­tio­nen. Hier gab es Schlä­ge und Fuß­trit­te, wenn die Ge­fan­ge­nen die Volks-, Marsch- und Sol­da­ten­lie­der etwa ab­sicht­lich falsch in­to­nier­ten, zu lei­se san­gen oder sich gar weigerten.

"Wir wollen trotzdem 'ja' zum Leben sagen": Das Buchenwald-Lied der beiden KZ-Häftlinge Fritz Löhner-Beda und Hermann Leopoldi
„Wir wol­len trotz­dem ‚ja‘ zum Le­ben sa­gen“: Das Bu­chen­wald-Lied der bei­den KZ-Häft­lin­ge Fritz Löh­ner-Beda und Her­mann Leopoldi

Dem ge­gen­über ste­hen die ei­ge­nen Lie­der der In­haf­tier­ten, in de­nen die­se ihre un­mensch­li­chen, schreck­li­chen und un­vor­stell­ba­ren Er­leb­nis­se fest­hiel­ten, ver­ar­bei­te­ten und zu be­wäl­ti­gen ver­such­ten. Die­se wur­den oft heim­lich an ab­ge­le­ge­nen Or­ten ge­sun­gen („Und keh­ren wir abends ins La­ger heim, / dann tö­nen wie­der die Lie­der, / und Scherz­wor­te flie­gen wie­der von Ohr zu Ohr, ob­gleich auch müde die Glie­der. / Denn wir wis­sen, dass nach die­ser Not / uns leich­tet hell das Morgenrot.“

Vom Buchenwald-Lied bis zu „Bella Ciao“

Im Fol­gen­den wer­den die Lie­der in un­ter­schied­li­che Gat­tun­gen un­ter­teilt: La­ger­hym­nen, Marsch­lie­der, KZ-Be­din­gun­gen be­schrei­ben­de Lie­der, Spott­lie­der, Jid­di­sche Lie­der, KZ-Lie­bes­lie­der und Sehn­suchts­lie­der. Ih­nen bei­gefügt sind ex­em­pla­ri­sche Text­aus­zü­ge (voll­stän­dig im An­hang), Fo­tos, au­then­ti­sche Il­lus­tra­tio­nen, Zi­ta­te und Au­gen­zeu­gen­be­rich­te von Häft­lin­gen, wel­che den Zu­sam­men­hang der Lie­der im für heu­ti­ge Le­ser kaum nach­voll­zieh­ba­ren KZ-All­tag er­hel­len so­wie QR-Codes bzw. Links zum Nach­hö­ren der Lie­der. Bei die­sen han­delt es sich um Neu­auf­nah­men, da es ver­ständ­li­cher­wei­se kei­ne Auf­nah­men aus den KZ gibt.

Konzentrationslager Nazi-Deutschland - Buchenwald Häftlingsorchester - Glarean Magazin
Mit Mu­sik in den Tod: Häft­lings­or­ches­ter im KZ Buchenwald

So be­kommt der Le­ser die Mög­lich­keit ei­ner lü­cken­lo­sen Er­schlie­ßung – um nur ein Bei­spiel zu nen­nen – des Bu­chen­wald-Lieds. Von des­sen Ent­ste­hung (Aus­schrei­bung durch den meist al­ko­ho­li­sier­ten Schutz­haft­la­ger­füh­rer Ar­thur Rödl), sei­ner Ver­wen­dung (bei Ap­pel­len, Aus­peit­schun­gen so­wie Ein- und Aus­mär­schen) und Ein­stu­die­rung (stun­den­lan­ges Aus­har­ren bei ei­si­ger Käl­te und stür­mi­schem Wet­ter) bis zu sei­ner Ver­brei­tung (Ein­stu­die­rung in an­de­ren KZs). Und so schlägt je­des Lied eine ma­gi­sche, zwei­fel­los manch­mal schwer aus­zu­hal­ten­de Brü­cke – von Mensch zu Mensch – zu uns heu­te – wo­mit sich der Sinn von Kul­tur selbst er­klärt. Und wer hät­te ge­dacht, dass man in dem ita­lie­ni­schen Volks- und Par­ti­sa­nen­lied „Bel­la ciao“ und dem deut­schen Volks­lied „Die Ge­dan­ken sind frei“ ein paar alte Be­kann­te trifft?

Würdigung der Opfer

Kar­la Marx‘ Do­ku­men­ta­ti­on ist eine sehr ver­dienst­vol­le, eh­ren­ret­ten­de und ge­lun­ge­ne Wür­di­gung der Op­fer der na­tio­nal­so­zia­lis­ti­schen Ver­fol­gung – ei­ner bis heu­te un­fass­bar er­schei­nen­den, im­mer wie­der aufs Neue sprach­los ma­chen­den mensch­li­chen Ka­ta­stro­phe. In­dem sie die See­len der In­haf­tier­ten, ihre Ängs­te, Sehn­süch­te und Lie­be an­hand ih­rer Lie­der in ih­rer Mensch­lich­keit wie­der­auf­er­ste­hen lässt, ge­lingt ihr mehr, als nur den Blick auf die un­ver­stell­ba­ren De­mü­ti­gun­gen, Er­nied­ri­gun­gen und sa­dis­ti­schen Miss­hand­lun­gen in den KZ zu lenken.
An­ders als in vie­len auf­lis­ten­den und be­schrei­ben­den Do­ku­men­ta­tio­nen ge­lingt ihr da­mit näm­lich, bis zur See­le der Men­schen vor­zu­drin­gen und das Leid fühl­bar und fass­bar zu ma­chen, was ihre Ar­beit ein­zig­ar­tig, un­ver­zicht­bar und un­ent­behr­lich macht. Es wäre dem Buch zu gön­nen, dass vie­le sei­nen kul­tu­rel­len und päd­ago­gi­schen Nut­zen aufgreifen. ♦

Kar­la Marx: Ver­stumm­te Lie­der wie­der zu hö­ren – Lie­der aus den Kon­zen­tra­ti­ons­la­gern, 110 Sei­ten, Kid Ver­lag, ISBN 978-3949979262

Le­sen Sie im GLAREAN MAGAZIN zum The­ma Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger auch von Pe­ter Biro: Ja­nu­ar­ta­ge in Krakau

… so­wie zum The­ma KZ Bu­chen­wald: „Das Lied der KZ-Schach­spie­ler“ (in der Schach­zeit­schrift „Cais­sa“)


3 Kommentare

  1. Brau­che E-Mail Kon­takt zu Kar­la Marx möch­te als VVN-BdA Bonn Ver­an­stal­tung mit Ihr ma­chen. Danke

  2. Ganz herz­li­chen Dank für die­sen schö­nen und wich­ti­gen Bei­trag zu ei­nem sehr dunk­len Ka­pi­tel. „Trös­te­rin Mu­sik“ – auch hier wie­der das Grund­mot­to! Vie­len Dank Herr Busch, und an die Buch­au­to­ren. Eine ganz not­wen­di­ge Pu­bli­ka­ti­on – Nur wer nicht ver­gisst, hat eine Zukunft!!

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