Zum 100. Todestag von Rosa Luxemburg

Eine Art weiblicher Franziskus

von Si­mo­ne Frieling

Rosa Lu­xem­burg wur­de am 5. März 1871 als Ro­za­lia Lu­xen­burg in der Klein­stadt Za­mosc, im rus­sisch be­setz­ten Teil Po­lens, als jüngs­tes von fünf Kin­dern, ge­bo­ren. Der Va­ter Eli­asz gab sei­nen gut­ge­hen­den Holz­han­del auf und zog mit sei­ner Fa­mi­lie nach War­schau, da­mit auch sei­ne Töch­ter Zu­gang zu ei­ner bes­se­ren Bil­dung be­ka­men. Noch nicht fünf­zehn Jah­re alt, stand die Gym­na­si­as­tin mit re­bel­lisch ge­sinn­ten Stu­den­ten­krei­sen in Ver­bin­dung und en­ga­gier­te sich in ei­ner il­le­ga­len re­vo­lu­tio­nä­ren Grup­pe. Von ei­ner Ver­haf­tungs­wel­le be­droht, floh sie im De­zem­ber 1888 al­lein in die Schweiz. In Zü­rich blieb sie wei­ter in Kon­takt mit der pol­ni­schen Ar­bei­ter­be­we­gung, stu­dier­te Na­tio­nal­öko­no­mie und pro­mo­vier­te 1897 mit ei­ner „treff­li­chen Ar­beit über die in­dus­tri­el­le Ent­wick­lung Po­lens“, wie ihr Dok­tor­va­ter Ju­li­us Wolf urteilte.

Rosa Luxemburg - Scherenschnitt - Simone Frieling - Glarean MagazinDurch eine Schein­ehe er­warb Rosa Lu­xem­burg 1896 die deut­sche Staats­bür­ger­schaft, fort­an leb­te sie in Ber­lin und ar­bei­te­te für die deut­sche So­zi­al­de­mo­kra­tie. Wäh­rend der ers­ten rus­si­schen Re­vo­lu­ti­on 1905 reis­te sie il­le­gal nach War­schau, wo sie 1906 ver­haf­tet wur­de. Nach Stel­lung ei­ner ho­hen Kau­ti­on frei­ge­kom­men, kehr­te sie nach Ber­lin zu­rück. Im Jahr 1907 ver­trat sie die SPD auf dem 5. Par­tei­tag der rus­si­schen So­zi­al­de­mo­kra­tie in Lon­don und nahm die Ar­beit als Do­zen­tin an der zen­tra­len Par­tei­schu­le der SPD in Ber­lin auf. In die­ser Zeit schrieb sie ihre gros­sen theo­re­ti­schen Wer­ke, die “Ein­füh­rung in die Na­tio­nal­öko­no­mie” und “Die Ak­ku­mu­la­ti­on des Ka­pi­tals“.

Ermordet wegen Ungehorsam gegen die Obrigkeit

1913, ein Jahr vor Kriegs­aus­bruch, rief sie bei ei­ner Mas­sen­kund­ge­bung in Frank­furt-Bo­cken­heim die Men­schen zur Kriegs­dienst- und Be­fehls­ver­wei­ge­rung auf. We­gen „Auf­for­de­rung zum Un­ge­hor­sam ge­gen Ge­set­ze und An­ord­nung der Ob­rig­keit“ wur­de sie zu ei­nem Jahr Haft ver­ur­teilt. Lu­xem­burg wur­de in ih­rem Le­ben neun Mal in­haf­tiert und in sie­ben ver­schie­de­nen Ge­fäng­nis­sen un­ter­ge­bracht. Nach der Ent­las­sung aus ih­rer letz­ten Haft in Bres­lau im No­vem­ber 1918 blie­ben ihr nur noch we­ni­ge Wo­chen für den po­li­ti­schen Kampf. Sie wur­de, nach fehl­ge­schla­ge­nem Spar­ta­kus-Auf­stand, den sie nicht be­für­wor­tet hat­te, zu­sam­men mit Karl Lieb­knecht am 15. Ja­nu­ar 1919 von Re­gie­rungs­trup­pen auf­ge­spürt und bru­tal er­mor­det. Rosa Lu­xem­burg war zeit­le­bens mit Russ­land, das da­mals Po­len ein­schloss, und der rus­si­schen Re­vo­lu­ti­on ver­bun­den, in der deut­schen SPD hat sie sich nie wirk­lich zu Hau­se gefühlt.

Der Büffel-Brief von Rosa Luxemburg

Rosa Luxemburg & Büffel - Scherenschnitt - Simone Frieling - Glarean Magazin
Rosa Lu­xem­burg mit Büf­fel (Sche­ren­schnit­te von Si­mo­ne Frieling)

Eine der stärks­ten, schöns­ten und trau­rigs­ten Tier­er­zäh­lun­gen, die man mit vol­lem Recht zur Welt­li­te­ra­tur zäh­len kann, hat Rosa Lu­xem­burg ge­schrie­ben. Ihre Be­schrei­bung ge­schun­de­ner Büf­fel im Ge­fäng­nis­hof von Bres­lau hat eine In­ten­si­tät, der sich kaum ein Mensch ent­zie­hen kann. Als Karl Kraus im Mai 1920 auf Lu­xem­burgs Büf­fel-Brief stiess, ent­schied er sich gleich da­für, ihn in sei­ne Vor­le­sun­gen auf­zu­neh­men. Zwei Mo­na­te spä­ter dann, im Juli, ver­öf­fent­lich­te er ihn in sei­ner Zeit­schrift Die Fa­ckel mit den Worten:
“Der tiefs­te, je in ei­nem Saal be­wirk­te Ein­druck war die Vor­le­sung des Brie­fes von Rosa Lu­xem­burg, den ich am Pfingst­sonn­tag in der Ar­bei­ter-Zei­tung ge­fun­den und auf die Rei­se mit­ge­nom­men hat­te. Er war im Deutsch­land der un­ab­hän­gi­gen So­zia­lis­ten noch völ­lig un­be­kannt. Schmach und Schan­de je­der Re­pu­blik, die die­ses im deut­schen Sprach­be­reich ein­zig­ar­ti­ge Do­ku­ment von Mensch­lich­keit und Dich­tung nicht al­lem Fi­bel- und Gelb­kreuz­chris­ten­tum zum Trotz zwi­schen Goe­the und Clau­di­us in ihre Schul­bü­cher auf­nimmt und nicht zum Grau­sen vor der Mensch­heit die­ser Zeit der ihr ent­wach­sen­den Ju­gend mit­teilt, dass der Leib, der solch eine hohe See­le um­schlos­sen hat, von Ge­wehr­kol­ben er­schla­gen wur­de. Die gan­ze le­ben­de Li­te­ra­tur Deutsch­lands bringt kei­ne Trä­ne wie die die­ser jü­di­schen Re­vo­lu­tio­nä­rin her­vor und kei­ne Atem­pau­se wie die nach der Be­schrei­bung der Büf­fel­haut: und die ward zerrissen”.

Ach, So­nit­sch­ka, ich habe hier ei­nen schar­fen Schmerz er­lebt; auf dem Hof, wo ich spa­zie­re, kom­men oft Wa­gen vom Mi­li­tär, voll be­packt mit Sä­cken oder al­ten Sol­da­ten­rö­cken und Hem­den, oft mit Blut­fle­cken…, die wer­den hier ab­ge­la­den, in die Zel­len ver­teilt, ge­flickt, dann wie­der auf­ge­la­den und ans Mi­li­tär ab­ge­lie­fert. Neu­lich kam so ein Wa­gen, be­spannt, statt mit Pfer­den, mit Büf­feln. Ich sah die Tie­re zum ers­ten Mal in der Nähe. Sie sind kräf­ti­ger und brei­ter ge­baut als un­se­re Rin­der, mit fla­chen Köp­fen und flach ab­ge­bo­ge­nen Hör­nern, die Schä­del also un­se­ren Scha­fen ähn­li­cher, ganz schwarz, mit gros­sen sanf­ten Au­gen. Sie stam­men aus Ru­mä­ni­en, sind Krieg­s­tro­phä­en… die Sol­da­ten, die den Wa­gen füh­ren, er­zäh­len, dass es sehr müh­sam war, die­se wil­den Tie­re zu fan­gen, und noch schwe­rer, sie, die an die Frei­heit ge­wöhnt wa­ren, zum Last­dienst zu be­nut­zen. Sie wur­den furcht­bar ge­prü­gelt, bis dass für sie das Wort gilt ‘vae vic­tis’… An hun­dert Stück der Tie­re sol­len in Bres­lau al­lein sein; dazu be­kom­men sie, die an die üp­pi­ge ru­mä­ni­sche Wei­de ge­wöhnt wa­ren, elen­des und kar­ges Fut­ter. Sie wer­den scho­nungs­los aus­ge­nutzt, um alle mög­li­chen Last­wa­gen zu schlep­pen, und ge­hen da­bei rasch zu­grun­de. Vor ei­ni­gen Ta­gen kam also ein Wa­gen mit Sä­cken her­ein­ge­fah­ren, die Last war so hoch auf­ge­türmt, dass die Büf­fel nicht über die Schwel­le bei der Tor­ein­fahrt konn­ten. Der be­glei­ten­de Sol­dat, ein bru­ta­ler Kerl, fing an, der­art auf die Tie­re mit dem di­cken Ende des Peit­schen­stie­les los­zu­schla­gen, dass die Auf­se­he­rin ihn em­pört zur Rede stell­te, ob er denn kein Mit­leid mit den Tie­ren hätte!
‚Mit uns Men­schen hat auch nie­mand Mit­leid‘, ant­wor­te­te er mit bö­sem Lä­cheln und hieb noch kräf­ti­ger ein… Die Tie­re zo­gen schliess­lich an und ka­men über den Berg, aber ei­nes blutete…
So­nit­sch­ka, die Büf­fel­haut ist sprich­wört­lich an Di­cke und Zä­hig­keit, und die war zer­ris­sen. Die Tie­re stan­den dann beim Ab­la­den ganz still er­schöpft, und ei­nes, das, wel­ches blu­te­te, schau­te da­bei vor sich hin mit ei­nem Aus­druck in dem schwar­zen Ge­sicht und den sanf­ten schwar­zen Au­gen, wie ein ver­wein­tes Kind. Es war di­rekt der Aus­druck ei­nes Kin­des, das hart be­straft wor­den ist und nicht weiss, wo­für, wes­halb, nicht weiss, wie es der Qual und der ro­hen Ge­walt ent­ge­hen soll… ich stand da­vor, und das Tier blick­te mich an, mir ran­nen die Trä­nen her­un­ter – es wa­ren sei­ne Trä­nen, man kann um den liebs­ten Bru­der nicht schmerz­li­cher zu­cken, als ich in mei­ner Ohn­macht um die­ses stil­le Leid zuck­te. Wie weit, wie un­er­reich­bar, ver­lo­ren die frei­en, saf­ti­gen, grü­nen Wei­den Ru­mä­ni­ens! Wie an­ders schien dort die Son­ne, blies der Wind, wie an­ders wa­ren die schö­nen Lau­te der Vö­gel oder das me­lo­di­sche Ru­fen der Hir­ten. Und hier – die­se frem­de schau­ri­ge Stadt, der dump­fe Stall, das ekel­er­re­gen­de, muf­fi­ge Heu, mit fau­lem Stroh ge­mischt, die frem­den, furcht­ba­ren Men­schen, und – die Schlä­ge, das Blut, das aus der fri­schen Wun­de rinnt… O, mein ar­mer Büf­fel, mein ar­mer, ge­lieb­ter Bru­der, wir ste­hen hier bei­de so ohn­mäch­tig und stumpf und sind nur eins in Schmerz, in Ohn­macht, in Sehnsucht.”

Von tiefstem Humanismus geprägt

Rosa Lu­xem­burgs Be­zie­hung zu Tie­ren war von völ­lig an­de­rer Art als die zu Men­schen, zu de­nen sie, bei al­ler herz­li­chen Ver­bun­den­heit, im­mer eine letz­te Di­stanz be­hielt. Tie­re konn­ten ihr nicht nah ge­nug sein; aus­drück­lich iden­ti­fi­ziert sie sich in der Büf­fel­er­zäh­lung mit dem Tier und nicht mit dem Men­schen. Im Schmerz und Blut ist sie mit dem Tier eins; die Auf­zäh­lung des min­der­wer­ti­gen Fut­ters für das Tier er­in­nert an ihre schlech­te Ge­fäng­nis­kost, die ver­lo­re­nen Wei­den an ihre ver­lo­re­ne Frei­heit, das Leid der Tie­re an ihr Leid. Rosa Lu­xem­burg hat hier ein Tier- und Men­schen­bild ge­schaf­fen, das von tiefs­tem christ­li­chen Hu­ma­nis­mus ge­prägt ist. Zu Recht könn­te man sie als eine Art weib­li­chen Fran­zis­kus bezeichnen. ♦


Simone Frieling - Malerin Autorin Illustratorin - Glarean MagazinSi­mo­ne Frieling

Ge­bo­ren 1957 in Wuppertal/D, lebt als frei­be­ruf­li­che Ma­le­rin, Il­lus­tra­to­rin und Buch-Au­torin in Mainz; jüngs­te Ver­öf­fent­li­chung: Re­bel­lin­nen – Han­nah Are­ndt, Rosa Lu­xem­burg, Si­mo­ne Weil

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