Arnold Jacobshagen: Maria Callas (Musiker-Biographie)

Mythos Maria Callas

von Christian Busch

Am 17. Juni 1947 – Eu­ro­pa liegt in Schutt und Asche – steht eine 23 Jah­re jun­ge Frau in New York an der Re­ling ei­nes schä­bi­gen rus­si­schen Fracht­schif­fes, der SS Ros­sia. Ziel: Nea­pel. Von dort möch­te die in New York ge­bo­re­ne Toch­ter grie­chi­scher Mi­gran­ten mit ih­rer ein­zig­ar­ti­gen Stim­me Ita­li­en er­obern, das Hei­mat­land der Oper. Sie ist eine von die­sen „jun­gen Wil­den“, die – er­folgs­hung­rig und mu­sik­be­seelt – Ruhm, An­er­ken­nung und ge­sell­schaft­li­chen Auf­stieg an­stre­ben. Ein Jour­na­list wird in ihr spä­ter „das ein­sa­me, di­cke Mäd­chen aus Man­hat­tan im Al­lein­gang ge­gen eine Welt von Fein­den“ se­hen. Die Rede ist von Ma­ria Cal­las.

Arnold Jacobshagen - Maria Callas - Biographie - Cover - Glarean MagazinSpä­ter dann, im Zug nach Ve­ro­na, wird die blut­jun­ge Sän­ge­rin in dem klei­nen, kor­pu­len­ten und mehr als dop­pelt so al­ten In­dus­tri­el­len Gio­van­ni Bat­tis­ta Me­neghi­ni ih­ren Ma­na­ger und Ehe­mann ken­nen­ler­nen, der ihr den Weg zu ei­ner pro­fes­sio­nel­len Ge­sangs­aus­bil­dung und ei­ner stei­len Kar­rie­re ins Ram­pen­licht eb­net. Dort, wo sie end­lich „die Ge­sangs­kö­ni­gin in Ita­li­en sein (wird), um nicht zu sa­gen über­all, aus dem ein­fa­chen Grund, dass ich die Per­fek­ti­on des Ge­sangs bei­steue­re, und dass es kei­ne an­de­re Nor­ma auf der gan­zen Welt gibt.“ Sie wird die Hö­hen und Tie­fen ei­ner be­nei­de­ten Künst­le­rin durch­le­ben, glanz­vol­le Tri­um­phe fei­ern, aber auch von Kri­sen, Skan­da­len und Ein­sam­keit ge­schüt­telt sein: Vis­si d’arte – non, je ne re­g­ret­te rien?

Das Leben einer Diva

Legendäre Opern-Diva: Maria Callas (1923-1977)
Le­gen­dä­re Opern-Diva: Ma­ria Cal­las (1923-1977)

Dar­zu­stel­len, wie aus So­phie Ce­ce­lia Ka­lo­ge­ro­pou­los die bis heu­te als My­thos ge­fei­er­te Opern­di­va Ma­ria Cal­las wur­de, und was es mit ih­rem le­gen­dä­ren Nim­bus auf sich hat, das hat sich der Mu­sik­wis­sen­schaft­ler Ar­nold Ja­cob­sha­gen in sei­ner jüngst er­schie­ne­nen Bio­gra­phie zur Auf­ga­be ge­macht. Recht­zei­tig vor ih­rem 100. Ge­burts­tag am 2. De­zem­ber 2023 und vor der Ver­öf­fent­li­chung der um­fang­reichs­ten Cal­las-Box (131 CDs).
In sei­ner vom Re­clam-Ver­lag her­aus­ge­ge­be­nen Mo­no­gra­phie un­ter­schei­det Ja­cob­sha­gen klug zwi­schen ih­rem Le­ben auf der ei­nen so­wie ih­rer Kunst und dem sie um­ge­ben­den My­thos auf der an­de­ren Seite.

Humoresken für Gemischten Chor - Walter Eigenmann - Glarean Magazin
An­zei­ge

Im ers­ten Teil schil­dert Ja­cob­sha­gen auf nicht we­ni­ger als 180 (!) Sei­ten mit der akri­bi­schen Ge­nau­ig­keit des um Wahr­heit be­müh­ten Wis­sen­schaft­lers die vie­len Sta­tio­nen ih­rer Kar­rie­re. Wie die we­nig be­ach­te­te Mi­gran­tin in New York über ein In­ter­mez­zo in Athen den Weg nach Ita­li­en fin­det, ihre ers­ten Er­fol­ge fei­ert, ih­ren Ze­nit er­reicht, sich zu­rück­zieht und Ab­schied nimmt, das ist tat­säch­lich er­staun­lich. Der sprung­haf­te An­stieg der Ga­gen, die Rol­len­fle­xi­bi­li­tät der Diva, Tour­neen, Gast­spie­le, Opern­auf­trit­te, Kon­zer­te – al­les vor und hin­ter den Ku­lis­sen fin­det Eingang.
Ob­wohl die­ser Teil sehr sach­lich ge­hal­ten ist, kann die tie­fe Ver­eh­rung des Au­tors für die Cal­las dem auf­merk­sa­men Le­ser nicht ver­bor­gen blei­ben. Denn will man die gan­ze Wahr­heit, dann sind Cal­las‘ schwie­ri­ges Ver­hält­nis zu ih­rer Mut­ter, ihre Be­zie­hung zu dem mil­lio­nen­schwe­ren Ree­der On­as­sis, ihre ge­sund­heits­be­ding­ten Ab­sa­gen wich­ti­ger Auf­trit­te und nicht zu­letzt die all­zu ge­pfleg­te Ri­va­li­tät mit Re­na­ta Te­bal­di eben­so re­le­vant wie ihre künst­le­ri­sche Bilanz.

Kunst einer Jahrhundertstimme

Biograph mit Akribie und Empathie: Arnold Jacobshagen
Akri­bi­scher und em­pa­thi­scher Bio­graph: Prof. Dr. Ar­nold Jacobshagen

Im zwei­ten Teil wid­met sich Ja­cob­sha­gen nun ganz ih­rer Kunst. Da ist zu­nächst ein­mal ihre un­ver­wech­sel­ba­re „ver­ruch­te“ (Ka­ra­jan) Stim­me, ihr „pa­the­ti­sches Sin­gen“ (Jür­gen Kes­t­ing), ihre sin­gu­lä­re Gran­de-vo­c­ac­cia. Die­se ein­zig­ar­ti­ge Stimm­prä­gung, die es ihr er­mög­lich­te, den Tö­nen vi­brie­ren­des Le­ben und lei­den­schaft­li­che Ver­sen­kung zu ver­lei­hen, ist Grund­la­ge für ihre aus­drucks­star­ken und ein­zig­ar­ti­gen In­ter­pre­ta­tio­nen, bei de­nen es der Cal­las nie um pure Schön­heit ging, son­dern um dra­ma­ti­sche Ex­pres­si­vi­tät. Mit ih­ren „drei Stim­men“ konn­te sie, so der Bio­graph, ihre Glanz­par­tien (Tos­ca, Ame­lia, Aida, Gil­da, Ro­si­na, Nor­ma und Me­dea) auf un­nach­ahm­li­che Wei­se ge­stal­ten, bei ei­ner voll­kom­me­nen Ein­heit von stimm­li­cher Fär­bung und in­tui­ti­ver, na­tür­li­cher schau­spie­le­ri­scher Darstellungskunst.
Da­bei rü­cken auch ihre Zu­sam­men­ar­beit mit den Grö­ßen des Ge­schäfts in den Fo­kus (Vis­con­ti, Ka­ra­jan, Zef­fi­rel­li u.a.) und ihre Fä­hig­keit, ei­ge­ne Schwä­chen in Stär­ken zu ver­wan­deln. Dass Ma­ria Cal­las eine ganz un­di­ven­haf­te Team­playe­rin war, ist dem Au­tor eben­falls ein gan­zes Ka­pi­tel wert, eben­so ihr durch­aus be­grenz­tes Re­per­toire und ihre Stu­dio­auf­nah­men (für den EMI-Pro­du­zen­ten Wal­ter Leg­ge war sie „die idea­le Prot­ago­nis­tin des ima­gi­nä­ren Theaters“).

Mythos und Wirklichkeit

Doch im letz­ten Teil – wie in der Ein­lei­tung ver­spro­chen – nimmt sich der Au­tor dem My­thos an und stellt sich der höchst ver­dienst­vol­len Auf­ga­be, das Le­ben der Jahr­hun­dert­sän­ge­rin frei von My­then, Ver­leum­dun­gen und Be­schö­ni­gun­gen auf der Grund­la­ge der zur Ver­fü­gung ste­hen­den Quel­len zu be­leuch­ten. Dies liest sich wie ein wis­sen­schaft­li­cher For­schungs­be­richt – mit al­len Vor- und Nach­tei­len, der auch vor ih­rem Lie­bes­le­ben nicht Halt macht und na­tur­ge­mäß nicht alle Fra­gen ein­deu­tig klä­ren kann – z.B. die Fra­ge, ob ihr 1950 in ei­nem Brief an ih­ren Ehe­mann ge­äu­ßer­ter Kin­der­wunsch an gy­nä­ko­lo­gi­schen Pro­ble­men schei­ter­te. Dass die gro­ße Lie­be zu ih­rem deut­lich äl­te­rem Mann Me­neghi­ni nicht an der Be­geg­nung mit On­as­sis, son­dern am Geld und dem Al­ters­un­ter­schied zer­brach, bleibt eben­falls ein nicht auf­zu­lö­sen­des Rätsel.

Bedeutender Beitrag zum 100. Geburtstag

Fa­zit: Auch wenn nicht alle My­then aus dem Weg ge­räumt wer­den kön­nen, bleibt Ar­nold Ja­cob­sha­gens Buch ein in höchs­tem Maße ver­dienst­vol­ler und dem bis heu­te fas­zi­nie­ren­den Le­ben und der fa­cet­ten­rei­chen Kunst der größ­ten Diva des 20. Jahr­hun­derts ge­recht wer­den­der Bei­trag zu ih­rem 100. Ge­burts­tag. Es ist ein wür­di­gen­des Up­date hin­sicht­li­cher al­ler Fra­gen um Ma­ria Cal­las – eine un­ver­zicht­ba­re In­stanz. Mit dem Ver­ständ­nis für die Sän­ge­rin dürf­te auch die Be­wun­de­rung für ihr Ver­mächt­nis be­stehen blei­ben, wenn nicht so­gar wach­sen. Die un­ver­meid­li­che Kluft zwi­schen Kunst und Le­ben bleibt im Hin­blick auf die Hö­hen und Tie­fen ih­res Le­bens be­stehen, ein ewi­ges Spannungsfeld. ♦

Ar­nold Ja­cob­sha­gen: Ma­ria Cal­las – Kunst und My­thos, 364 Sei­ten, Re­clam Ver­lag, ISBN 9783150114513

Le­sen Sie im GLAREAN MAGAZIN auch die Mu­si­ker-Bio­gra­phie über Jim Morrison


 

2 Kommentare

  1. Lie­ber Herr Fischer
    Ich be­glück­wün­sche Sie zu al­len Ih­ren Bei­trä­gen, die ich lei­der erst heu­te „zu­fäl­lig“ via ent­deck­te. Un­ter an­de­rem fin­de ich die Buch­be­spre­chung über den My­thos der Ma­ria Cal­las bril­lant. Als Schach­tur­nier­spie­ler bin ich mit 85 Jah­ren noch ziem­lich ak­tiv und bin da­ne­ben auch ein gro­ßer Mu­sik­lieb­ha­ber der sog. klas­si­schen Mu­sik – bei­des seit mei­nem 15. Le­bens­jahr. Ich freue mich über wei­te­re Ent­de­ckun­gen auf Ih­ren wert­vol­len Sei­ten. Noch eine kur­ze Fra­ge: Gab oder gibt es ei­nen Bei­trag über mei­nen Freund Vla­s­ti­mil Hort, der auch seit lan­gem – wie ich – in ei­nem Schach­club in Ober­hau­sen – eine neue Hei­mat ge­fun­den hat, und der im Ja­nu­ar d. J. sei­nen 80. Ge­burts­tag be­ge­hen konn­te? Für eine kur­ze Ant­wort bin ich dankbar.
    Mit herz­li­chen Grüßen,
    Kurt E. Spoden
    Dipl.-Finanzwirt (FH)

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