Deutsche Gesellschaft: Brauchen wir eine Leitkultur?

Die deutsche Leitkultur als Streit über dieselbe

von Jan Neidhardt

Oli­ver We­ber, Stu­dent der Po­li­tik­wis­sen­schaft und Volks­wirt­schaft an der Uni­ver­si­tät Mann­heim, hat die­sen pro­gram­ma­tisch wir­ken­den Aus­spruch des So­zio­lo­gen Ar­min Nas­sehi in sei­nen Auf­satz „Ma­chia­vel­li in Deutsch­land – Die Ber­li­ner Re­pu­blik und ihre Bür­ger“ auf­ge­nom­men, und er eig­net sich sehr gut dazu, den Te­nor die­ses Bu­ches zur Leit­kul­tur-De­bat­te in Deutsch­land auf­zu­zei­gen. In „Brau­chen wir eine Leit­kul­tur?“ sind 23 un­ter­schied­li­che Es­says ver­sam­melt, die im Rah­men ei­nes Wett­be­werbs der Deut­schen Ge­sell­schaft e.V. in Zu­sam­men­ar­beit mit der Deut­schen Na­tio­nal­stif­tung 2017 ver­fasst wurden.

Die unsinnige Idee einer “homogenen” Gesellschaft

Brauchen wir eine Leitkultur - Mitteldeutscher Verlag - Deutsche Gesellschaft - Rezension im Glarean MagazinDas The­ma ei­ner wie auch im­mer ge­ar­te­ten Leit­kul­tur – im Buch ger­ne mal po­le­misch als „Leid­kul­tur“ be­zeich­net – ist na­tür­lich kon­tro­vers und muss von ver­schie­de­nen Stand­punk­ten aus be­leuch­tet wer­den. Ei­nig sind sich alle Au­toren letzt­lich dar­über, dass es wich­tig ist, selbst erst mal ei­nen Kul­tur­be­griff zu de­fi­nie­ren – und dass die heu­ti­gen Deut­schen kei­ne in sich ho­mo­ge­ne Ge­sell­schaft darstellen.

Die po­li­ti­sche Si­tua­ti­on, un­ter der die Es­says ent­stan­den sind, wird in ih­nen deut­lich ge­spie­gelt. Die­se wird na­tür­lich me­di­al in die Öf­fent­lich­keit ge­tra­gen, und die De­bat­ten dar­über wer­den z.B. in Fern­seh­sen­dun­gen, seit Jah­ren zu­neh­mend aber auch in den Kom­men­tar­spal­ten so­zia­ler Netz­wer­ke ge­führt. Eine „Deut­sche Leit­kul­tur“ wur­de u.a. von Fried­rich Merz, der in den Auf­sät­zen oft auf- und an­ge­grif­fen wird, ziem­lich ge­nau de­fi­niert, mit al­len Pro­ble­men, die das na­tür­lich auf­wirft – Leit­kul­tur, die aus­schliesst (sehr gut be­schrie­ben bei Lu­kas Peh), die be­droh­lich wirkt oder „den Deut­schen“ letzt­lich als Ka­ri­ka­tur sei­ner selbst zu­rück­lässt, der in Ba­de­lat­schen und hoch­ge­zo­ge­nen So­cken, würst­les­send den gan­zen Tag Blas­mu­sik hört und je­dem, dem er ir­gend­wo be­geg­net, erst mal die Hand schüt­teln muss… Der Schre­cken vor ei­ner sol­chen Leit­kul­tur­auf­fas­sung steht al­len, die die­ses The­ma in ih­ren Auf­sät­zen auf­grei­fen deut­lich ins Ge­sicht geschrieben. –

Leitkultur als dynamisches Geschehen

Das kann es also nicht sein. Oft geht es eher um als bil­dungs­bür­ger­lich zu er­ken­nen­de Idea­le, wie der Frei­heit der Ge­dan­ken, Öf­fent­lich­keit und Zu­gang zu Bil­dung. Ein viel­dis­ku­tier­tes und an­de­rer­seits auch -kri­ti­sier­tes Ide­al ist die auf ei­nem “Ver­fas­sungs­pa­trio­tis­mus” – an­stel­le ei­ner auf Äus­ser­lich­kei­ten oder auf nicht von al­len ge­teil­ten Wer­ten – ba­sie­ren­de Leit­kul­tur. Ei­nig­keit be­steht je­den­falls letzt­lich dar­über, dass es eine „in Stein ge­haue­ne“ (Ön­der Ge­dik) Leit­kul­tur we­der gibt noch über­haupt ge­ben kann, dass der Be­griff der Kul­tur viel­mehr im­mer ein dy­na­mi­sches Ge­sche­hen um­reisst. Ein nor­ma­ti­ver Leit­kul­tur-Be­griff, der ge­naue Ver­hal­tens­mass­re­geln auf­zeigt, im Sin­ne ei­ner „ver­ord­ne­ten Ethik“ (Si­mon Gro­the) wird ab­ge­lehnt. Da­ni­el Göttl plä­diert in die­sem Zu­sam­men­hang für prak­ti­sches Tun und bringt das gan­ze auf den Punkt: „Bes­te Leit­kul­tur – Bring dich ein, dann ge­hörst du dazu.“ (S.45)

Gut lesbares und anregendes Buch-Konzept

FAZIT: Das Büch­lein “Brau­chen wir eine Leit­kul­tur?” ist für den po­li­tisch und am Zeit­ge­sche­hen In­ter­es­sier­ten zwei­fel­los eine Be­rei­che­rung. Vie­le der stu­den­ti­schen Bei­trags­schrei­ber ver­fü­gen über die Fä­hig­keit, ihre Ge­dan­ken kon­zi­se und ein­leuch­tend dar­zu­le­gen. Wie man sich den­ken kann, sind hier ne­ben ori­gi­nel­len und we­ni­ger ori­gi­nel­le Bei­trä­ge ver­sam­melt. Ins­ge­samt aber stellt die­se Es­say-Samm­lung eine in­ter­es­san­te Aus­le­ge­ord­nung der ak­tu­el­len ge­sell­schafts­po­li­ti­schen Dis­kus­si­on dar.

Das Büch­lein ist für den po­li­tisch und am Zeit­ge­sche­hen In­ter­es­sier­ten zwei­fel­los eine Be­rei­che­rung. Vie­le der stu­den­ti­schen Bei­trags­schrei­ber ver­fü­gen über die Fä­hig­keit, ihre Ge­dan­ken kon­zi­se und ein­leuch­tend dar­zu­le­gen. Wie man sich den­ken kann, sind hier ne­ben ori­gi­nel­len und we­ni­ger ori­gi­nel­le Bei­trä­ge ver­sam­melt. Vie­les wie­der­holt sich, wie z.B. der (wenn­gleich wich­ti­ge) Hin­weis auf den Schöp­fer des ak­tu­el­len Leit­kul­tur­be­griffs Bassam Tibi. Sehr gut fin­de ich, dass die Sei­ten­zahl für die Auf­sät­ze be­schränkt ist, denn hier wer­den Ge­dan­ken ge­strafft prä­sen­tiert, die sonst na­tur­ge­mäss dazu nei­gen, sehr in die Brei­te zu ge­hen. Der Les­bar­keit und der An­re­gung kommt die­ses Kon­zept je­den­falls wohl­tu­end entgegen. ♦

Deut­sche Ge­sell­schaft & Deut­sche Na­tio­nal­stif­tung: Brau­chen wir eine Leit­kul­tur? – Es­says, Mit­tel­deut­scher Ver­lag, 144 Sei­ten, ISBN 978-3-96311-033-7

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