Alessandro Baricco: Die Barbaren – Über die Mutation der Kultur

Qualitäten der Veränderung

von Heiner Brückner

Die Ideen des schrift­stel­le­risch sehr agi­len Tu­ri­ners Ales­san­dro Ba­ric­co in sei­nem neu­en Sach­buch „Die Bar­ba­ren“ spie­len Ping­pong. Ist es rich­tig oder nicht oder ist doch et­was dran, an dem, was aus dem Blät­ter­wald und der glo­ba­len Me­di­en­ma­schi­ne­rie zwit­schert? Die Bar­ba­ren sei­en da, über­all. Ein Ge­no­zid ste­he uns be­vor. Wir wür­den unterwandert.

Der Au­tor woll­te die In­va­so­ren se­hen, ihre Ta­ten er­ken­nen. Täg­lich schrieb er eine Ko­lum­ne dar­über oder dazu und brach­te sie in der Zei­tung „La Re­pubbli­ca“ her­aus. Das Phä­no­men be­schäf­tig­te ihn der­mas­sen, dass er 30 sol­cher Glos­sen zu ei­nem Es­say ge­bün­delt hat und in ein Buch pres­sen liess, von dem er schreibt, dass es „vor nichts zu­rück­schreckt“ und ein „Es­say über die An­kunft der Bar­ba­ren“ sei. Das könn­te man ir­gend­wie ge­sell­schafts­po­li­tisch auf­fas­sen. Aber die Kunst des Ko­lum­nis­ten be­steht dar­in, an­hand der In­fi­zie­rung des Kul­tur­le­bens das Po­li­ti­sche ein­zu­be­zie­hen, ohne es ex­pli­zit zu be­nen­nen. So­mit ent­hält er sich der Meinungsmache.

Was so alles geschieht auf dem Globus

Alessandro Baricco - Die Barbaren - Über die Mutation der Kultur - Hoffmann und Campe - Rezension Glarean MagazinWas so al­les ge­schieht auf die­sem Glo­bus, den ei­ni­ge de­rer, die ihn be­woh­nen, Erde nen­nen, und den jene, die dar­auf hau­sen, zum Spiel­ball ih­rer Über­le­bens­stra­te­gien oder ih­res ex­al­tier­ten Macht­stre­bens ge­stal­ten – das will der ita­lie­ni­sche, mu­sisch an­ge­hauch­te Phi­lo­soph Ales­san­dro Ba­ric­co durch­schau­en. Er macht sich in die­sem Sach­buch an ein Mam­mut­un­ter­fan­gen, denn ge­sell­schaft­li­che Ver­än­de­run­gen in­ner­halb ei­ner Kul­tur­ge­ne­ra­ti­on auch nur im An­satz er­fas­sen zu wol­len, ist na­he­zu nie­man­dem ge­lun­gen. Wie will ein Jour­na­list aus Lust an der täg­li­chen Denk­ver­mitt­lung für den Le­ser von La Re­pubbli­ca das schaf­fen? Das al­lein dürf­te eben­so ein bar­ba­ri­scher Akt sein. Hat er wo­mög­lich mit sei­nen Fol­gen ei­ner Durch­drin­gung kul­tu­rel­ler Er­schei­nungs­for­men un­se­rer glo­ba­len Welt je­man­den be­ein­flusst oder et­was bewirkt?

Die­se Fort­set­zungs­ge­schich­ten wol­len kein Ro­man sein. Sie be­schrei­ben le­dig­lich nach Au­tor­an­sa­ge die un­aus­weich­li­chen Ver­än­de­rungs­fol­gen: Die Bar­ba­ren sind im An­marsch und mit ih­nen – ge­fühlt – die Apo­ka­lyp­se. Im Plau­der­ton baut er Le­ser­er­war­tun­gen auf, die er nach und nach in zwei, drei Sät­zen zur Ent­span­nung führt. Für ein Sach­buch wird mei­nes Er­ach­tens sehr viel um die Sa­che her­um er­zählt und len­ken di­rek­te (vir­tu­el­le) Le­ser­an­re­den schein­bar vom The­ma ab.

Revolution oder Invasion?

Geb. 1958 in Turin, Studium der Philosophie und Musikwissenschaft, anschliessend in der Werbebranche sowie als Journalist, Schriftsteller und Herausgeber tätig, mehrfach mit Preisen ausgezeichnet: Alessandro Baricco
Geb. 1958 in Tu­rin, Stu­di­um der Phi­lo­so­phie und Mu­sik­wis­sen­schaft, an­schlies­send in der Wer­be­bran­che so­wie als Jour­na­list, Schrift­stel­ler und Her­aus­ge­ber tä­tig, mehr­fach mit Prei­sen aus­ge­zeich­net: Ales­san­dro Baricco

Wie das aus­sieht, wie sich das aus­wirkt? Ich lese mit Luchs­au­gen wei­ter. Das neue Du­ell scheint nicht um stra­te­gi­sche Po­si­tio­nen zu strei­ten, son­dern will „die gan­ze Land­kar­te ver­än­dern“. Es scheint eine ein­fa­che Schluss­fol­ge­rung zu sein, doch das Wie ist der in­ter­es­san­te Haupt­teil die­ser bar­ba­ri­schen Sachgeschichten.
„Die Ge­nia­li­tät der Bar­ba­ren“ sei eine ab­son­der­li­che Qua­li­täts­vor­stel­lung. Qua­li­tät – auf dem Buch­markt etwa – ver­la­ger­te sich vom Wert des Au­tors auf die Wer­tig­keit beim Le­ser. Klingt das nach Re­vo­lu­ti­on oder In­va­si­on? Märk­te be­frie­dig­ten Be­dürf­nis­se, sie schaf­fen sie nicht, be­haup­tet Ba­ric­co. (Das lässt mich auf­mer­ken: Denn, wenn ich ei­nen Ge­dan­ken wei­ter den­ke und mich auf die Ur­sa­chen be­sin­ne, dann tun sie es doch. Oder „pro­mo­ten“ sie die Be­dürf­nis­se nicht, be­vor sie sie mit den be­wor­be­nen Pro­duk­ten befriedigen?)

Die Veränderung als Energiestrom

Um die Bar­ba­ren ver­ste­hen zu kön­nen, nimmt er sie ernst und fragt zu­nächst nach: Wer sind die Ein­dring­lin­ge? Wir se­hen Plün­de­run­gen, aber nicht die In­va­si­on. Den Sinn­ver­lust be­legt er am Bei­spiel der (un­schein­ba­ren) Phä­no­me­ne Wein, Fuss­ball und Bücher.
Nach dem Zwei­ten Welt­krieg be­gan­nen die Eu­ro­pä­er Kau­gum­mi zu kau­en und die Ame­ri­ka­ner „Hol­ly­wood-Wein“ zu trin­ken. Die ver­än­dern­de Fol­ge des Wein­pan­schens nach Ein­schät­zung des Ita­lie­ners: „Wein ohne See­le“. Soll ich dar­aus fol­gern: Welt ohne …? Der Au­tor hat mich dazu ani­miert, aber über­re­den will er mich nicht zu sei­ner ge­dan­ken­spie­le­ri­schen Sicht­wie­se. Er­mun­tern will er zu ei­nem er­wei­ter­ten Blick­ra­di­us, weil wir im All­ge­mei­nen kei­ne Lust hät­ten, „et­was bes­ser zu ma­chen“. Wie wäre es die Ver­än­de­rung als En­er­gie­strom zu begreifen?
Im zwei­ten Kom­plex un­ter­sucht er in ei­nem ak­tu­el­len Goog­le-Por­trät das „bar­ba­ri­sche Tier“ und schluss­fol­gert, dass es ge­gen jede Tra­di­ti­on an­läuft. So vie­le Um­ris­se hat er durch das Skiz­zie­ren „tech­no­lo­gi­scher Neue­run­gen, kom­mer­zi­el­ler Ra­se­rei, Spek­ta­ku­la­ri­tät, mo­der­ner Spra­che und Ober­fläch­lich­keit“ und nicht sehr viel mehr Kon­tu­ren zeich­nen kön­nen. Die Skiz­ze „über­schrei­tet“ vor­han­de­ne Qua­li­tät mit Neue­run­gen. Das sei eine An­mas­sung, denn es „at­met mit Goog­le-Kie­men“. Aber his­to­risch ge­se­hen wird es ein „Durch­gangs­sys­tem“ blei­ben. Für Spek­ta­ku­la­ri­tät führt er das Kino als Pa­ra­de­bei­spiel an.

FAZIT: Ales­san­dro Ba­ric­co hält in sei­nem neu­en Buch „Die Bar­ba­ren – Über die Mu­ta­ti­on der Kul­tur“ die Ba­lan­ce zwi­schen lo­cke­rer Be­sorg­nis und ge­las­se­ner Sach­lich­keit. In freund­li­chem Plau­der­stil in­for­miert er über eine Sicht auf die kul­tu­rel­len Ver­än­de­run­gen al­ler Zei­ten. Wer die­se Sei­ten ge­le­sen hat, wird ei­nen Deut rea­lis­ti­scher ein­schät­zen kön­nen, was die welt­wei­ten Än­de­rungs­strö­mun­gen ver­ur­sa­chen könn­ten, aber viel­leicht doch nicht aus­lö­sen müs­sen. Denn seit Mensch­heits­be­stehen sei­en es Mu­ta­tio­nen ge­we­sen, die den Fort­schritt brach­ten. Lesenswert.

Der frem­de Mu­tant fas­zi­niert durch Ver­lie­ren sei­ner See­le – er ver­zich­tet auf Un­ter­ord­nung un­ter das „Wohl­wol­len ei­ner gött­li­chen Au­to­ri­tät“. Des­we­gen könn­ten Bar­ba­ren mit der See­le über­haupt nichts an­fan­gen. Er ex­em­pli­fi­ziert das See­len­le­ben als Spi­ri­tua­li­täts­er­fin­dung des 19. Jahr­hun­derts an der klas­si­schen Mu­sik. Sie gel­te als „prä­zi­ses­te Form“ des „Zwi­schen­reichs“ zwi­schen dem „Men­schen­tier und der Gott­heit“. Er poin­tiert es auf die Fra­ge: „Was kannst du mit Schu­bert an­fan­gen, wenn du ver­suchst [wie die Bar­ba­ren es tun], ohne See­le zu le­ben?“ Das ist der Stil, in dem Ba­ric­co zu­sam­men­fasst und mun­ter phi­lo­so­phisch-wit­zig in non­kon­for­men Denk­wen­dun­gen mit dem Le­ser über un­ter­schwel­li­ge Ver­ein­nah­mung un­se­rer Kul­tur durch die fremd­ar­ti­gen Ver­än­de­run­gen plau­dert. Bar­ba­ren sei­en kei­ne „krank­haf­te De­ge­ne­ra­ti­on“, auch sie hät­ten eine Lo­gik, näm­lich die, zu über­le­ben im best­mög­li­chen Le­bens­raum. So sim­pel sei die­ses An-Sin­nen. Im­mer wie­der blitzt die Me­tho­de des Au­tors durch: das to­tal un­kon­ven­tio­nel­le Den­ken und das pfif­fi­ge For­mu­lie­ren sei­ner Gedanken.

Mutation gleich Fortschritt

Den Epi­log ver­fasst er von der Chi­ne­si­schen Mau­er her­ab. Will er mit die­ser Lo­ca­ti­on ei­nen künf­ti­gen Kul­tur­ho­heits­raum an­deu­ten? Er re­det nicht ein nur ein biss­chen schön, um zu re­la­ti­vie­ren oder zu ni­vel­lie­ren oder gar zu ver­harm­lo­sen. Er bie­tet kein ver­al­bern­des Ka­ba­rett, Slap­stick oder Klatsch-Co­me­dy. Er wan­dert si­cher auf dem schma­len Grat geist­reich-hu­mo­ris­ti­scher Ironie.
Sehr ger­ne habe ich mich in die­ses Buch auf „die Rei­se für ge­dul­di­ge Wan­de­rer“ ver­tieft. Vor al­lem we­gen der le­ben­di­gen Sät­ze, die kei­nen lan­gen Lek­to­rie­rungs­schliff aus­ge­setzt wor­den sind. Po­si­tiv schim­mert die ge­lun­ge­ne Über­set­zung ins Deut­sche durch alle Zei­len, weil sie ohne un­nö­ti­ge An­gli­zis­men aus­kommt und „neu­deut­sche“ Ad­ap­tio­nen vermeidet.

Balance zwischen Besorgnis und Sachlichkeit

In mei­ner Nutz­an­wen­dung ge­lan­ge ich zu der Schluss­fol­ge­rung: Ein be­droh­li­cher Bar­bar kann das nicht ge­schrie­ben ha­ben. Es muss ein abend­län­disch auf­ge­klär­ter Geist ge­we­sen sein. In die­sem Sin­ne habe ich mich auch nicht durch Lek­tü­re sei­ner zu­vor ver­öf­fent­lich­ten Schrif­ten in eine Ver­ein­nah­mungs­prä­gung ver­füh­ren las­sen, son­dern wer­de sie so­zu­sa­gen im Nach­gang „be­wan­dern“. Zer­stö­rung ist „geis­ti­ger Um­bau“, der über­rascht, wenn wir die Las­ten un­se­rer Er­in­ne­run­gen noch mit uns herumtragen.
Ales­san­dro Ba­ric­co hält in sei­nem neu­en Buch „Die Bar­ba­ren – Über die Mu­ta­ti­on der Kul­tur“ die Ba­lan­ce zwi­schen lo­cke­rer Be­sorg­nis und ge­las­se­ner Sach­lich­keit. In freund­li­chem Plau­der­stil in­for­miert er über eine Sicht auf die kul­tu­rel­len Ver­än­de­run­gen al­ler Zei­ten. Wer die­se Sei­ten ge­le­sen hat, wird ei­nen Deut rea­lis­ti­scher ein­schät­zen kön­nen, was die welt­wei­ten Än­de­rungs­strö­mun­gen ver­ur­sa­chen könn­ten, aber viel­leicht doch nicht aus­lö­sen müs­sen. Denn seit Mensch­heits­be­stehen sei­en es Mu­ta­tio­nen ge­we­sen, die den Fort­schritt brach­ten. Lesenswert. ♦

Ales­san­dro Ba­ric­co: Die Bar­ba­ren – Über die Mu­ta­ti­on der Kul­tur, 224 Sei­ten, Hoff­mann und Cam­pe Ver­lag, ISBN 978-3-455-40580-4

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…so­wie über Ru­dolf Gross­kopff: Un­se­re 60er Jahre

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