Neue Lyrik-Bücher – kurz belichtet

Neue Lyrik-Bücher – kurz belichtet

Nico Bleutge: Nachts leuchten die Schiffe – Gedichte

von Wal­ter Eigenmann

Wort­reich, re­fle­xiv, sprach­kräf­tig, ex­pe­ri­men­tell, bild­ge­wal­tig, pro­sa-isch – das sind nur ein paar der vie­len (völ­lig un­zu­rei­chen­den) Ad­jek­ti­ve, die sich dem Le­ser von Bleut­ges jüngs­tem Ly­rik-Band auf­drän­gen. Mit as­so­zia­ti­ons­rei­cher, aber gleich­wohl in­stinkt­si­che­rer Mo­ti­vik um­kreist der viel­fach aus­ge­zeich­ne­te, 1972 ge­bo­re­ne Ber­li­ner Au­tor in sei­nem zehn­tei­li­gen Zy­klus sein fa­cet­ten­rei­ches Ti­tel-The­ma “Nachts leuch­ten die Schiffe”.

Nico Bleutge, Nachts leuchten die Schiffe, GedichteDurch­aus tref­fend um­schreibt der ver­lags­ei­ge­ne Wer­be-Wasch­zet­tel die In­ten­ti­on des Ban­des: “Echos und Le­se­fet­zen, ei­ge­ne und frem­de Stim­men, die sich zu ei­nem Drit­ten for­men. Sol­che Sprach­funde sind für Nico Bleut­ge wie Kraft­fel­der, die sei­ne Auf­merk­sam­keit bün­deln… Der Bos­po­rus als Sprung­brett: Öl­tan­ker und Con­tai­ner­schif­fe, die et­was da­von er­zäh­len, wie der welt­wei­te Han­del die über­kom­me­nen Vor­stel­lun­gen von Zeit, Trans­port und Ge­schwin­dig­keit ver­än­dert hat”.

Exzessive Sprachspiele und ungebändige Fabulierlust

Bleut­ges Ly­rik liest sich nicht (und las sich noch nie) ein­fach: Lan­ge Wort- und Satz-Ket­ten, die an ver- bzw. ge­kapp­te Kurz­pro­sa er­in­nern; mehr­schich­ti­ge Zeit­spu­ren; col­la­gier­te “Schau­plät­ze”; ab­rup­te Rhyth­mus­wech­sel; ex­zes­si­ve Sprach­spiel- und un­ge­bän­dig­te Fa­bu­lier-Lust an Wort­far­ben und Bin­nen­for­men – das al­les macht die Lek­tü­re an­stren­gend, lässt die the­ma­ti­schen Fä­den im­mer wie­der ent­glei­ten. Doch der Auf­wand des Le­sers wird be­lohnt. Es ist un­glaub­lich, wel­cher sprach­li­che und in­halt­li­che Kos­mos die­sem Ly­ri­ker ver­füg­bar ist. “Nachts leuch­ten die Schif­fe” sind kei­ne Ge­dich­te – das ist eine Sin­fo­nie.

Nico Bleut­ge, Nachts leuch­ten die Schif­fe, Ge­dich­te, 92 Sei­ten, C.H.Beck-Verlag, ISBN 978-3-406-70533-5


Irène Bourquin: Schaukelnd im grünen Atem des Meeres – Gedichte

von Wal­ter Eigenmann

Irène Bourquin, Schaukelnd im grünen Atem des Meeres, GedichteDie Schwei­zer Dich­te­rin, Thea­ter-Au­torin und Kul­tur­jour­na­lis­tin Irè­ne Bour­quin (*1950) hat schon seit vie­len Jah­ren in dem ex­qu­si­ten Wald­gut-Ver­lag eine be­son­de­re ver­le­ge­ri­sche Hei­mat ge­fun­den. Da­bei bil­det das Ge­dicht ei­nen Schwer­punkt ih­rer Ar­beit: “Pat­mos” (2001), “An­ge­pirscht” (2007) und “Tür­kis­mä­n­an­der” (2011) hies­sen da ihre ly­ri­schen Sta­tio­nen. Und nun ein neu­er Band Ge­dich­te, wie­der der pas­tell­far­be­ne Sü­den-Son­ne-Meer-To­pos ganz zen­tral: “Lago d’Iseo”, “Grot­te die Toira­no”, “Bord­ig­he­ra”, “Por­que­rol­les”, “Cap Tail­lat”, “Tu­de­la” oder “Ai­gu­a­molls” nen­nen sich etwa die Tex­te, geo­gra­phisch an­ge­sie­delt in Li­gu­ri­en, der Cote d’Azur, der Pro­vence und in Katalonien.

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Sprach­lich wird das Ni­veau un­ter­schied­lich durch­ge­hal­ten; Ver­gilbt-kon­tur­lo­se Ba­na­li­tä­ten wie: “Noch im­mer das Meer / in je­dem denk­ba­ren Blau / am Ho­ri­zont / die Schat­ten der Tan­ker / wach­sen” ste­hen ne­ben wun­der­voll me­lo­di­schen Sprach­bil­dern: “Wie Rauch­fah­nen / schwarz­sil­bern / steigt / kah­ler Wald / ins Licht / Ocker­gold / die letz­ten Fackeln”.
In sei­ner be­kannt sorg­fäl­ti­gen Art nahm sich der Wald­gut-Ver­lag auch hier sehr lie­be­voll der Buch­her­stel­lung an, in­dem im Bodo­ni-Druck mit Blei­satz und Hand­pres­sen­druck bis hin zur hän­di­schen Fa­den­hef­tung ge­ar­bei­tet wur­de – ein bi­blio­gra­phi­sches Uni­kum heut­zu­ta­ge. Scha­de nur, dass das zu dünn ge­wähl­te Pa­pier je­weils die Rück­sei­ten-Tex­te durch­schim­mern lässt. Da­von ab­ge­se­hen: Eine schö­ne, so­wohl li­te­ra­risch wie druck­tech­nisch sehr qua­li­täts­vol­le Aus­ga­be, in der zu blät­tern und zu le­sen so et­was wie bi­blio­phi­le Well­ness er­zeugt.

Irè­ne Bour­quin, Schau­kelnd im grü­nen Atem des Mee­res, Ge­dich­te, 64 Sei­ten, Wald­gut Ver­lag, ISBN 978-3-03740-655-7


Andreas Krohberger: Ein Strauss schwarzer Rosen, Gedichte über Sehnsucht, Sex und Liebe

von Wal­ter Eigenmann

Andreas Krohberger, Ein Strauss schwarzer Rosen, Gedichte über Sehnsucht Sex und LiebeGe­wiss, dem stu­dier­ten Ger­ma­nis­ten An­dre­as Kroh­ber­ger (*1952 in Schorndorf/D) merkt man die ste­ti­ge Be­schäf­ti­gung mit ei­ge­nen und frem­den Ge­dich­ten an. Nicht nur, dass der um­trie­bi­ge Koch-, Wein- und Gar­ten­buch-Au­tor in div. Ver­la­gen ei­ni­ges an Ly­rik pu­bli­zier­te; ein Text wie: “Scharf wie ein Raub­tier / riecht die Luft / nahe bei dir / und mei­ne Zun­ge kos­tet / den öli­gen Tau / im blü­hen­den Klee / viel­blätt­ri­ger, saf­ti­ger Klee / ein Zit­tern / und raue, keh­li­ge Lau­te / tref­fen auf sal­zi­ge Haut / Un­fass­bar / was Lie­be / für dich ist / für mich” hat durch­aus Ima­gi­na­ti­on und Rhythmus.

Sprachlich das Thema verfehlt

Aber dann wie­der in der glei­chen Samm­lung “Ein Strauss schwar­zer Ro­sen” sehr viel Herz-/Schmerz-Lan­ge­wei­le, haar­scharf am Kitsch vor­bei­schram­men­de Ver­se, oft ge­le­se­ne Wort­hül­sen, Un­spek­ta­ku­lä­res im schlech­tes­ten Sin­ne. Als Bei­spiel für Ähn­li­ches: “Im­mer wenn du gehst / du / die ich nicht lie­be / bleibt doch von dei­ner Wär­me / et­was zu­rück un­ter der De­cke / von dei­nem Duft / auf mei­nen Lip­pen / im Her­zen ein we­nig / von dei­nem Lä­cheln / und wie ein fei­ner Stich / die Angst / du könn­test nie / gar nie / mehr kom­men” – das ist Deut­scher-Schla­ger-Zeugs, vor­ge­täusch­te Pla­kat-Emo­tio­nen, an der ge­bro­che­nen Kom­ple­xi­tät des Un­ter­ti­tel-The­mas pein­lich vor­bei­ge­schrie­ben. Trotz schö­ner Bil­der ab und zu: Ein ent­behr­li­ches Buch.

An­dre­as Kroh­ber­ger, Ein Strauss schwar­zer Ro­sen, Ge­dich­te über Sehn­sucht Sex und Lie­be, 52 Sei­ten, Edi­ti­on Fi­scher Ver­lag, ISBN 978-3864550881


Rainer Wedler: Einen Fremden grüsst man nicht, Gedichte (2011-2016)

von Wal­ter Eigenmann

Rainer Wedler - Einen Fremden grüsst man nicht - GedichteWer die li­te­ra­ri­sche Ar­beit des 75-jäh­ri­gen deut­schen Schrift­stel­lers Rai­ner Wed­ler län­ge­re Zeit ver­folg­te, dem fällt die zen­tra­le Be­deu­tung auf, die dem Ly­ri­schen im Schaf­fen die­ses Au­tors zu­kommt. Ro­man, No­vel­le, Er­zäh­lung: die grös­se­ren For­men der Bel­le­tris­tik sind das ur­ei­ge­ne Ge­biet Wed­lers – aber dem kur­zen We­nig­zei­ler, dem klei­nen Text-Bild, dem un­schein­ba­ren Zehn- oder Zwan­zig-Sät­zer gilt sei­ne be­son­de­re Lie­be, auch sei­ne sprach­lich noch­mals ge­stei­ger­te Achtsamkeit.
“ei­nen Frem­den grüsst man nicht” brei­tet auf üp­pi­gen 144 Ge­dich­te-Sei­ten als Zu­sam­men­fas­sung der letz­ten fünf Jah­re ein ly­ri­sches Klein­od nach dem an­de­ren aus, ein pa­cken­des Sprach-Blitz­licht ne­ben dem nächs­ten, aufs We­sent­li­che zu­recht­ge­feil­te Kon­zen­tra­te al­le­samt, de­ren Hand­schrift sehr ak­ku­rat, sehr vir­tu­os, sehr über­legt – und sehr un­be­stech­lich ist. Da fin­det sich null Ge­schwät­zig­keit, im­mer Klar­heit und Not­wen­dig­keit, je­dem Ge­dicht haf­tet ein zwin­gen­des So-und-nicht-an­ders an.

Präzis abgewogene Sätze

Wo­bei ja nicht von ei­nem knö­chern-klap­pern­den Hand­werk – kom­me es noch so vir­tu­os da­her – die Rede ist, das dem Dich­ten al­les Blut aus­treibt zu­guns­ten rei­bungs­lo­sen Be­triebs, son­dern von der sau­be­ren Ernst­haf­tig­keit im Um­gang des Künst­lers mit dem Ma­te­ri­al Spra­che. Dass im Schrei­ben Wed­lers kein Le­ben, son­dern haupt­säch­lich Pro­fes­sio­na­li­tät sei, ist eh kei­ne Ge­fahr. Denn ei­nem wie ihm, der einst als Schiffs­jun­ge durch tür­ki­sche, al­ge­ri­sche und afri­ka­ni­sche Mee­re fuhr, spä­ter als His­to­ri­ker, Ger­ma­nist und Phi­lo­soph aus­ge­rech­net über Bur­leys “li­ber de vita” pro­mo­vier­te, um an­schlies­send jah­re­lang vor Ge­ne­ra­tio­nen mo­der­ner Schul­ju­gend­li­cher über Li­te­ra­tur nach­zu­den­ken, ei­nem sol­chen stiess ge­nug Le­ben zu, um eben die­ses zu gu­ter Letzt als ge­schlif­fe­nes Ge­dicht, als aus­ge­feil­tes Sprach­ge­bil­de, ge­gos­sen in prä­zis ab­ge­wo­ge­ne Sät­ze, also in ganz an­de­rer Form auf­er­ste­hen zu lassen.

Eine wertvolle literarische Stimme

Wed­lers Be­fund ist da­bei ein­deu­tig: “das Ver­schwin­den der Wör­ter / ist nicht auf­zu­hal­ten / wenn wir sie nicht mehr schme­cken / kön­nen / ihr Fleisch ver­dorrt / fällt ab / wo soll da die See­le woh­nen / die neu­en Wör­ter kom­men / als Fa­brik­wa­re / für den schnel­len Ge­brauch”, und über­haupt: “die Bil­der schiebt der Au­to­mat / ein Euro / vier Bil­der / die Tän­ze­rin tanzt / der Tur­ner turnt / die Sän­ge­rin singt / der Jon­gleur jon­gliert / das Licht geht aus / du meinst / das ist das Le­ben”. Denn “die Zei­chen der Kunst” sind mitt­ler­wei­le auch nur Mahn­ma­le des To­des: “der Pi­lot / des Jagd­bom­bers / ver­steht sich / als Künst­ler / das Ich her­aus­neh­men / Di­stanz ge­win­nen / die Bom­be plat­zie­ren / dass die Men­schen­men­ge auf­platzt / wie ein bun­ter Klecks”. Man­ches in Wed­lers Ly­rik hat ei­nen me­lan­cho­li­schen Touch, der leer schlu­cken lässt, und der we­ni­ger der sog. Al­ters­weis­heit denn doch ei­ni­ger Re­si­gna­ti­on zu ent­sprin­gen scheint.
An­de­rer­seits, wenn es eine Kon­stan­te im li­te­ra­ri­schen Schaf­fen die­ses Au­toren gibt über all die Jah­re hin­weg, dann ist es die­ses wohl­mei­nen­de Au­gen­zwin­kern, die­se ver­ständ­nis­vol­le Ver­schmitzt­heit, die­ser lä­cheln­de Na-so­was-Hu­mor, den nicht mal die­se jüngs­te, grund­sätz­lich dem Nach­sin­nen ge­wid­me­te Ly­rik-Samm­lung aus­zu­trei­ben ver­moch­te. Zu La­chen gibt es nichts in Wed­lers Ge­dich­ten – aber we­nigs­tens das (ver­steck­te, ja zu­wei­len ver­schlei­er­te) Er­ken­nen der Lä­cher­lich­keit des “homo ho­mi­ni lu­pus”: “mit dem Tho­ra­zei­ger / den schwer­mü­ti­gen Vor­hang lüf­ten / an den Fran­sen hän­gen Glöck­chen / im Wind / be­tet der Hod­scha / im Os­ten / geht die Son­ne auf / heu­te um­ar­men / die Be­schnit­te­nen den Vor­häu­ti­gen / Abra­ham dreht sich um und kann end­lich ru­hig schla­fen”. Denn wie heisst es in ei­nem der Buch-Ka­pi­tel, das lau­ter “Lie­bes­ge­dich­te” ent­hält? “am Ende / las­se ich den Tag / gruss­los ste­hen / und geh ins Haus / wo mich die Din­ge nicht er­war­ten / sie spre­chen nicht mehr / mit mir / ich lass die spä­te Nacht her­ein / kann man die Lie­be aus dem Ferns­ter werfen?”

Die Ro­ma­ne des Schrift­stel­lers Wed­ler und die Ly­rik des Dich­ters Wed­ler sind kei­ne Main­stream-Li­te­ra­tur, und sie wer­den nie in ei­ner “Spie­gel-Bes­ten­lis­te” auf­tau­chen. Aber schön, dass die­ser nach­denk­li­che, blitz­ge­schei­te, vol­ler ex­qui­si­ter Über­ra­schun­gen ste­cken­de, mit al­len Was­sern des sprach­li­chen Hand­werks ge­wa­sche­ne, dar­ob trotz­dem quir­lig-agil schrei­ben­de, im­mer­zu re­flek­tie­ren­de und gleich­wohl le­bens­vol­le Au­tor schreibt und schreibt. Nicht un­ver­dros­sen – aber un­be­irrt. Eine wert­vol­le, nö­ti­ge li­te­ra­ri­sche Stim­me, die zu­recht in dem in­no­va­ti­ven Lud­wigs­bur­ger Pop-Ver­lag ei­nen stän­di­gen Sitz ge­won­nen hat. Emp­feh­lung!

Rai­ner Wed­ler, ei­nen Frem­den grüsst man nicht, Ge­dich­te (2011–2016), 142 Sei­ten, Pop Ver­lag, ISBN 978-3-86356-176-5

Le­sen Sie im Glarean Ma­ga­zin zum The­ma Neue Ly­rik auch von
Jo­hann Voss: War­um noch Ge­dich­te – Die Pro­vo­ka­ti­on der mo­der­nen Poesie

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