Harald Schneider-Zinner: Strategieschule (Schach)

Die Kunst, das Spiel zu planen

von Mario Ziegler

Die Frage stellt sich jedem Schach­spie­ler in jeder Par­tie: Wie ist eine gege­bene Stel­lung zu beur­tei­len? Soll man sie eher stra­te­gisch spie­len oder ste­hen tak­ti­sche Über­le­gun­gen im Vor­der­grund? Die­sen Fra­gen wid­met sich der öster­rei­chi­sche Inter­na­tio­nale Meis­ter Harald Schnei­der-Zin­ner in sei­nem zwei­bän­di­gen Werk “Stra­te­gie­schule” auf DVD.

Strategieschule Band 1+2: Die Kunst des Tauschens - Fritztrainer: Interaktives Video-Schachtraining) DVD-ROM – Harald Schneider-ZinnerStra­te­gie ist die Kunst, das Spiel zu pla­nen. Stra­te­gie befasst sich mit den all­ge­mei­nen Plä­nen zum sieg­rei­chen Abschluss der Par­tie oder zum Errei­chen eines Zie­les in einem Par­tie­teil. Stra­te­gi­sche Züge sind gewöhn­lich posi­tio­nell; sie hel­fen, eine Stel­lung zu schaf­fen, in der der Plan aus­ge­führt wer­den kann.” Mit die­sen Wor­ten fas­sen Ex-Welt­meis­ter Max Euwe und Wal­ter Mei­den in ihrem Klas­si­ker “Meis­ter gegen Ama­teur” das Wesen der Stra­te­gie im Schach­spiel zusam­men. Ist der lern­wil­lige Schach­en­thu­si­ast erst ein­mal über die Anfangs­gründe des Spiels hin­weg­ge­schrit­ten, so kommt unwei­ger­lich der Moment, wo er sich auf das Gebiet der Stra­te­gie wagen muss. Im Ver­gleich zur Tak­tik, wo die Ideen offen­sicht­li­cher sind und das Ziel im Gewinn von Mate­rial oder dem Angriff gegen den geg­ne­ri­schen König besteht, sind stra­te­gi­sche Über­le­gun­gen sub­ti­ler: Exis­tie­ren lang­fris­tige Schwä­chen? Emp­fiehlt sich der Abtausch der einen oder ande­ren Figur? Kann man ein bestimm­tes End­spiel anstre­ben? Und noch grund­sätz­li­cher: Wie ist eine gege­bene Stel­lung zu beur­tei­len? Soll man sie eher stra­te­gisch spie­len oder ste­hen tak­ti­sche Über­le­gun­gen im Vordergrund?

International renommierter Trainer

Harald Schneider-Zinner - Schach-Rezensionen Glarean Magazin
Inter­na­tio­nal gefrag­ter Schach-Trai­ner: Harald Schneider-Zinner

Der Autor der vor­lie­gen­den “Stra­te­gie­schule” Harald Schnei­der-Zin­ner (geb. 1968) zählt zu den pro­fi­lier­tes­ten Schach­trai­nern des deutsch­spra­chi­gen Raums. Zu sei­nen Schü­lern gehö­ren die öster­rei­chi­schen Spit­zen­spie­ler Valen­tin Drag­nev und Felix Bloh­ber­ger, und als Trai­ner der Frauen-Natio­nal­mann­schaft führte er das ÖSB-Team zu her­aus­ra­gen­den Resul­ta­ten (4.-9. Platz bei der Mann­schafts-Euro­pa­meis­ter­schaft 2015, 2. Platz beim Mitropa-Cup 2018).
Seit 2010 lei­tet er die Trai­ner­aus­bil­dung in Öster­reich. Kurz gesagt: Schnei­der-Zin­ner kann auf eine rei­che Erfah­rung von der Grund­la­gen­ar­beit bis hin zum Leis­tungs­sport zurückgreifen.

Stehe ich besser oder schlechter?”

Wie oft steht man in einer Par­tie vor der Frage, wie genau man eine Stel­lung ange­hen soll! Stehe ich bes­ser oder schlech­ter? Soll ich die Posi­tion sta­tisch oder dyna­misch behan­deln? Wie soll ich meine Bedenk­zeit inves­tie­ren? Die­sen und wei­te­ren Fra­gen geht Schnei­der-Zin­ner an Hand von Klas­si­kern, aber auch sehr vie­len neue­ren Bei­spie­len aus der Welt­spitze und dem öster­rei­chi­schen Schach nach.
Aus der Viel­zahl der nütz­li­chen The­men (Hebel, Plan­fin­dung, typi­sche Sprin­ger- und Läu­fer­ma­nö­ver, Prin­zip der über­zäh­li­gen Figur) möchte ich mit der “Schwer­fi­gu­ren-Regel”, ein viel­leicht etwas weni­ger bekann­tes Prin­zip her­aus­grei­fen. Sie besagt, dass im Fall einer unglei­chen Anzahl von Schwer­fi­gu­ren der­je­nige Spie­ler mit mehr Schwer­fi­gu­ren einen Abtausch die­ser Figu­ren vor­neh­men sollte. Die ver­blei­ben­den Schwer­fi­gu­ren kön­nen sich dann bes­ser entfalten.

Hier ein Bei­spiel aus einer Blitz­par­tie des Autors:

bast (2448) – Harald Schnei­der-Zin­ner (2455)
Inter­net-Blitz­par­tie 3+2

Bast - Schneider-Zinner Harald - Internet-BlitzMate­ri­ell ist die Stel­lung etwa gleich, aber die schwar­zen Türme sind opti­mal pos­tiert. Nach besag­ter Schwer­fi­gu­ren-Regel muss Weiß nun den Tausch sei­nes letz­ten Turms ver­mei­den: 30.Td3+ Ke7 und nun sollte 31.Te3 erfol­gen, wonach der Bauer c2 wegen des Abzugs­schachs 32.Lb3+ natür­lich tabu ist. Schwarz steht auch hier wohl bes­ser, muss aber noch sehr lange hart arbei­ten. Nach dem Par­tie­zug 31.Txd8? Kxd8 32.c3 Tc5 konnte Schwarz sei­nen Turm wei­ter akti­vie­ren und stand auf Gewinn.

Aspekte des Abtausches

Im 2. Band ste­hen die ver­schie­de­nen Aspekte des Abtauschs (Wann soll man über­haupt tau­schen? Wel­che Richt­li­nien gilt es zu beach­ten? Wie kann man durch Abtausch offene Linien oder schwa­che Fel­der aus­nut­zen? usw.) im Mit­tel­punkt. Jede DVD wird durch 20 Auf­ga­ben zur eigen­stän­di­gen Bear­bei­tung abgerundet.

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Wie bei den Trai­nings-DVDs von Chess­Base üblich prä­sen­tiert der Autor seine The­men in Form eines Videos. An geeig­ne­ten Stel­len wird der Zuschauer auf­ge­for­dert, das Video anzu­hal­ten und sich eigene Gedan­ken zu machen. Schnei­der-Zin­ner hat eine ange­nehme Art des Vor­trags. Er ver­setzt sich in den “Gesprächs­part­ner” und bezieht ihn soweit mög­lich ein. Das Mate­rial ist gut aus­ge­wählt und wird über­zeu­gend präsentiert.

Engines – ja oder nein?

Inwie­weit ein stär­ke­res Ein­ge­hen auf die Vor­schläge der Engi­nes not­wen­dig gewe­sen wäre, ist eine schwie­rige Frage. In einer frü­he­ren Rezen­sion ver­weist GM Pru­sikin dar­auf, “dass einige Bei­spiele der stren­gen Com­pu­ter­prü­fung nicht stand­hal­ten – wobei es sich frei­lich dar­über strei­ten lässt, ob bzw. inwie­fern das von Bedeu­tung ist.”

Hierzu ein Beispiel:

Loek van Wely – Magnus Carlsen
Wett­kampf Schra­gen 2006, 3. Partie

Van Wely Loek - Carlsen Magnus (35...Kf5) - 1.DiagrammSchnei­der-Zin­ner zeigt diese Par­tie unter der Fra­ge­stel­lung, wie viele Züge ein star­ker Spie­ler vor­aus­rech­net. Sei­ner Mei­nung nach musste Carlsen in der fol­gen­den Par­tie­phase nur kurze Sequen­zen kal­ku­lie­ren, die er an die Spiel­weise sei­nes Geg­ners anpasste. Prä­gnant for­mu­liert Schnei­der-Zin­ner: “Schach spielt sich in Teil­plä­nen ab”. Es folgte: 22…a5 23.La3 a4 24.Sb5 axb3 25.axb3 Sc5 26.Tb1 Se4 27.Td7 h5 28.Lc1 Td8 29.Txd8+ Txd8 30.Le3 Sd2 31.Lxd2 Txd2 32.h4 Kh7 33.Kf1 Kg6 34.Kg2 Le7 35.Sc3 Kf5

Van Wely Loek - Carlsen Magnus (35...Kf5)Carlsen hat seit dem letz­ten Dia­gramm offen­kun­dig viele Fort­schritte gemacht: Durch den Hebel …a7-a5–a4 wurde die weiße Struk­tur am Damen­flü­gel geschwächt, Schwarz konnte sei­nen König und sei­nen Turm akti­vie­ren und die ver­wund­ba­ren wei­ßen Bau­ern ins Visier neh­men. Dabei gelang es dem künf­ti­gen Welt­meis­ter – damals noch ein Teen­ager – meis­ter­lich, wei­ßes Gegen­spiel im Keim zu ersticken.

An die­ser Stelle spielte van Wely mit 36.Sa4 einen Zug, der nach Mei­nung der Engi­nes (ver­wen­det wur­den Fritz 15, Hou­dini 6.02 und Stock­fish 14.1) nicht im Ent­fern­tes­ten die beste Fort­set­zung dar­stellt. Sie favo­ri­sie­ren statt des­sen 36.Te1, 36.b4 und 36.Kf1. Schnei­der-Zin­ner geht auf kei­nen die­ser Züge ein, son­dern legt ledig­lich dar, dass 36.Kf3?? natür­lich an der Gabel 36…Td3+ schei­tert und 36.Td1 eben­falls nicht beson­ders attrak­tiv ist: 36.Td1 Txd1 37.Sxd1 Ke4 “und der viel akti­vere König und der Läu­fer, der im Spiel an bei­den Flü­geln stär­ker ist als der Sprin­ger, ent­schei­den die Par­tie” (Schnei­der-Zin­ner im Video). Die Par­tie ging wei­ter mit 36…Lf6 37.Sxb6 Ld4 38.Sc8 Kg4 39.Tf1 Lc5 40.b4 Lxb4 41.Sb6 Lc5 42.Sa4 Ld4 43.c5 Tc2 und Schwarz stand auf Gewinn.

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An die­sem Par­tie­ver­lauf wird deut­lich, worin das Poten­tial der Com­pu­ter­vor­schläge im 36. Zug liegt:
1) 36.Te1 mit der Idee Te1–e3 setzt den Turm zur Deckung des ver­wund­ba­ren Bau­ern b3 ein und bringt die Mög­lich­keit Te3–f3+ ins Spiel.
2) 36.Kf1 ist ein “unmensch­li­cher” Zug, der den eige­nen König pas­si­ver stellt und dem geg­ne­ri­schen Mon­ar­chen den Weg nach f3 frei­macht. Aber er ermög­licht auch das Manö­ver Sc3–e2, das den Druck des schwar­zen Turms auf den Bau­ern f2 abfedert.
3) Mit 36.b4 möchte Weiß seine Bau­ern­mehr­heit in Gang set­zen. Die tak­ti­sche Recht­fer­ti­gung ist, dass nach 36…Tc2 37.Sd1 der Bauer c4 wegen der Gabel auf e3 tabu ist.

Denken in (Teil-)Plänen

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Nach allen die­sen Mög­lich­kei­ten steht Schwarz bes­ser, aber nach kei­ner so gut wie in der Par­tie. Hätte man also im Detail auf sie ein­ge­hen müs­sen? Wenn eine umfas­sende Ana­lyse der Par­tie vor­ge­nom­men wer­den soll, muss die Ant­wort natür­lich “ja” lau­ten. Doch darum geht es dem Autor nicht, er möchte ja gerade zei­gen, dass in die­ser Par­tie nicht die kon­krete Vari­an­ten­be­rech­nung, son­dern das Den­ken in (Teil-)Plänen im Vor­der­grund stand. Unter die­sem Aspekt len­ken viel­leicht Com­pu­ter­züge, die auf tak­ti­schen Details wie der Gabel­mög­lich­keit auf e3 basie­ren, vom Kern des The­mas ab. Wie in vie­len ande­ren Berei­chen der Lehr- und Trai­nings­tä­tig­keit steht hin­ter allem die Frage der didak­ti­schen Reduzierung.

Etwas ver­wun­dert hat mich die hohe Zahl der Schreib­feh­ler in den Ana­ly­sen. Auch wenn sie den Wert des Trai­nings­ma­te­ri­als nicht beein­träch­ti­gen, wären sie doch mit gerin­gem Auf­wand zu ver­mei­den gewesen.

Grundlegende Themen der Schachstrategie

Die “Stra­te­gie­schule” hat mich über­zeugt. Dem Zuschauer wer­den viele grund­le­gende The­men der Schach­stra­te­gie prä­sen­tiert, wobei die prak­ti­sche Rele­vanz an vor­ders­ter Stelle steht. Als Ziel­gruppe sehe ich fort­ge­schrit­tene Spie­ler mit einer Spiel­stärke ab ca. 1500 DWZ. Zudem fin­den selbst­ver­ständ­lich Trai­ner eine Viel­zahl von durch­weg prä­gnan­ten Bei­spie­len. Über die Not­wen­dig­keit, in den Ana­ly­sen noch wei­ter ins Detail zu gehen, kann man strei­ten – ohne­hin ist jeder Benut­zer natür­lich ange­hal­ten, sich zu den Bei­spie­len eigene Gedan­ken zu machen und diese durch Ana­lyse mit dem Com­pu­ter zu überprüfen. ♦

Harald Schnei­der-Zin­ner: Stra­te­gie­schule – Band 1 & 2, DVD Chess­base Hamburg

Lesen Sie im GLAREAN MAGAZIN zum Thema “Fritz­trai­ner” auch über Vasily Smys­lov – Mas­ter Class Band 14


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