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Schluss mit lustig!
Appell eines Arztes zur Covid-19-Pandemie
von Prof. Dr. med. Peter Biro
Normalerweise ist mir selten ernst zumute, und ich finde in fast allem etwas Heiteres zum darüber Frotzeln. Aber jetzt ist es aus mit der Lustigkeit. Diese wurde in letzter Zeit zunehmend von Verzweiflung abgelöst.
Natürlich mache ich mir Sorgen um die mir nahestehenden Personen, und auch um meine eigene Gesundheit. Aber nicht das ist es, was mich zur Verzweiflung treibt, sondern die Ignoranz der Zeitgenossen und die Nachlässigkeit der Behörden.

Wir sind inmitten einer exponentiellen Verschlechterung der Lage mit einer Verdoppelung der Fallzahlen für Kranke, Schwerkranke und Todesfälle alle zwei bis drei Tage. Was dabei am meisten beunruhigt, ist das grassierende Unverständnis des ehrenwerten Publikums für exponentielles Wachstum. Bei konstanter Verdoppelung entstehen binnen kürzester Zeit gewaltige Zahlen. Die altbekannte Weizenkorn-Legende von der Belohnung des Schachspiel-Erfinders durch den dankbaren persischen König veranschaulicht diese Unvorstellbarkeit: Auf die Frage, was er sich als Bezahlung für seinen Dienst wünsche, antwortete der Meister, dass er ein Weizenkorn fürs erste Feld des Schachbretts haben möchte, gefolgt von doppelt so viel, also zwei auf dem zweiten – und so weiter, mit Verdopplung der Körnerzahl mit jedem weiteren der 64 Felder. Der von der scheinbaren Bescheidenheit des Erfinders belustigte König gab den Auftrag an seine Bediensteten zur Ausführung weiter. Es dauerte nicht lange, bis sich herausstellte, dass es bei weitem nicht genug Weizen auf der ganzen Erde gab, um auch nur einen Bruchteil des Auftrags zu erfüllen.
Chance des totalen Lock-Downs verpasst

Was ich damit sagen will ist, dass die Ausbreitung der Corona-Infektion sich so rasant abspielt, dass durch normale Erfahrung voreingenommene Menschen diese dem exponentiellen Wachstum innewohnende Gefahr nicht wirklich verstehen. Die bis vor kurzem nonchalant in grossen Rudeln flanierenden Sonnenanbeter am Seeufer zeugen von dieser Ignoranz. Dabei hätte es eine einzige Möglichkeit gegeben, die massenhafte Ausbreitung zu verhindern: Man hätte gleich am Anfang – als noch erst wenige Fälle gemeldet wurden – die weitestgehenden Massnahmen ergreifen müssen wie das totale Lockdown und die völlige Isolation auf allen Ebenen – von der Einzelperson über die Ortschaften und Regionen bis hin zum ganzen Land.
Doch der Moment, als das noch hätte nützen können, wurde in der Schweiz wie fast überall andernorts sträflich verpasst. Um eine Analogie aus meinem beruflichen Wirkungskreis zu bemühen, das ist ähnlich zur Krebserkrankung: Sobald diese diagnostiziert ist, wird man nicht die Behandlung schrittweise mit dem Wachstum des Tumors ausbauen, sondern gleich am Anfang mit der maximalen Therapie beginnen, z.B. mit einer Radikaloperation. Nur so kann man Krebs einigermassen wirksam bekämpfen: maximale Massnahmen bei noch geringer Tumorprogredienz. Dasselbe gilt für alles, was gegen exponentielles Wachstum angewendet werden soll.
So verhalten, als sei man bereits erkrankt!
Jetzt ist zu befürchten, dass uns eine ähnliche Entwicklung wie in Italien bevorsteht. Aber wenn man schon nicht mit der adäquaten Reaktion der Behörden rechnen kann, dann bleibt uns nichts anderes übrig, als uns individuell richtig zu verhalten. Und das heisst, so zu tun als sei man bereits erkrankt – mit dem Imperativ, in die persönliche Isolation zu gehen. Man gehe nirgendwo mehr hin, man halte Abstand, desinfiziere regelmässig die Hände und lasse sich die Einkäufe vor die Tür bringen. Wenn man kein Desinfektionsmittel mehr auftreiben kann, lange man nach den Spirituosen in der heimischen Kellerbar. Wenn man nichts dergleichen hat, sollte man regelmässig die Hände waschen, das hilft auch. Aber das Wichtigste ist: Zuhause bleiben, verdammt nochmal! ♦
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Sehr geehrte K.Z. und B.G. vielen Dank für Ihre zustimmenden Kommentare. In der Tat, das Gesundheitspersonal ist in diesen Zeiten sehr gefordert und auch mehr der Gefahr ausgesetzt als andere Berufsgruppen. Applaus wird gern entgegengenommen. Aber in dieser Situation ist der Schwerpunkt nicht bei einzelnen Helden. Worauf es ankommt ist die systemübergreifende Teamarbeit. Die reicht vom Portier des Spitals bis hin zur Intensivpflegekraft am Bett eines beatmeten Infizierten und umfasst sämtliche Berufsgruppen und Dienstleister. Es gibt kaum eine andere Situation im Gesundheitswesen in der es so sehr auf ein gut organisiertes und abgestimmtes Team ankommt wie bei einer Pandemie. Und die einzelnen Teammitglieder kennen sich nicht mal alle untereinander, müssen sich aber gegenseitig vertrauen und sich darauf verlassen, dass jeder das Richtige tut. Die Arbeitslast steigt hierbei nicht graduell, sondern eskaliert schlagartig sobald die Ressourcen erschöpft sind. In dieser Situation befindet man sich bereits in Italien, wo nicht mehr alle Patienten die erforderliche Behandlung bekommen können, weil alle Intensivtherapieplätze (samt allen Ressourcen) bereits besetzt sind. In der Schweiz sind wir noch nicht so weit, und bereits die nächsten Tage werden zeigen, ob es uns auch ereilt. Und wenn ja, in welchem Ausmass. Es besteht auch die Möglichkeit, dass die allgemein verkündeten und getroffenen Massnahmen anfangen zu greifen, und die Wachstumsrate der Neuerkrankungen sinkt. Dann bleibt uns die Dekompensation des Gesundheitssystems erspart und es ist nur noch mit einem Anstieg der Zahl von Geheilten zu rechnen. Wir wissen noch nicht wann und unter welchen Umständen dieser Übergang erfolgen wird – irgendwann kommt er sicher. Die Frage ist nur, vor oder erst nach der Überforderung der Systeme. Auf jeden Fall müssen wir versuchen, wenigstens einen Schritt weiter zu denken und uns vorbereiten, als es der Istzustand gerade vorgibt. Vorerst sollten wir uns lieber auf eine weitere Zunahme der Erkrankten einstellen. Deeskalieren ist jedenfalls leichter als alles andere.
Bravo, Herr Dr. Biro! Manchmal ist fluchen die einzige Möglichkeit, um noch von den Doofen und Ignoranten gehört zu werden. Dank. – Karl
Schliesse mich dem vollumfänglich an! Wenn man so die jüngsten Statements z.B. von führenden SVP-Schwätzern liest, könnte einem das Ko… kommen. Da keift ein selbstverliebter Hohlkopf wie Roger Köppel immer noch lauthals: “Rettet die Schweizer Wirtschaft!” ( https://www.nzz.ch/schweiz/heb-de-latz-corona-spaltet-die-svp-ld.1546995 ) wo doch jetzt wirklich weltweit fast jede/r weiss, dass nur flächendeckende Quarantäne noch einen letzten Rest von Hoffnung verspricht. Mir ist lieber, wir sind in der wirtschaftlichen Steinzeit, dafür aber am Leben – als ein paar laufende Restmaschinen, aber drei Viertel Tote… Viel Mut und Durchhaltewillen Ihnen als Arzt, Herr Dr. Biro, das können Sie wohl brauchen jetzt im Spital. Überhaupt ein riesiger Applaus euch allen auf den Intensivstationen!! Ehrlich, ich gebe es zu, an eurer Stelle möchte ich jetzt wirklich nicht arbeiten. Hut ab!! Danke!!
Ben G. / Zürich