Jörg Schuster: Zur Kulturpoetik des Briefs um 1900

Der Brief als artifizieller Schutzraum und schriftliche Selbststimulation

von Karin Afshar

1. Vorwort zu einer Besprechung

Vor mir liegt eine Ha­bi­li­ta­ti­ons­schrift, ein Buch von 396 Sei­ten, ohne Li­te­r­ar­tur­ver­zeich­nis. „Kunst­le­ben“ heisst die­ses Buch – der Un­ter­ti­tel lau­tet: Zur Kul­tur­poe­tik des Briefs um 1900 – Kor­re­spon­den­zen Hugo von Hof­mannst­hals und Rai­ner Ma­ria Ril­kes. Auf dem Ein­band: Ril­ke – schreibend.
Ab­ge­se­hen da­von, dass ich ei­nen Vor­teil habe (ich muss und wer­de nie eine Ha­bil-Ar­beit ver­fas­sen), habe ich ein Pro­blem: ich kann das The­ma und das Buch nicht auf ei­ner Sei­te be­spre­chen. Ma­chen Sie sich auf ein län­ge­res Ver­wei­len-Müs­sen ge­fasst. Fer­ner hof­fe ich, dass so­wohl Jörg Schus­ter als auch der Wil­helm Fink Ver­lag Ver­ständ­nis da­für ha­ben, wenn ich die Re­zen­si­on so ge­stal­te, dass sie auch für Nicht-Wis­sen­schaft­ler le­sens­wert und in­for­ma­tiv wird.

Des­halb wer­de ich mei­nen Text nicht als Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­le­rin oder auch nur an­nä­hernd als Ger­ma­nis­tin ver­fas­sen, son­dern als neu­gie­ri­ge Le­se­rin, die wis­sen will, was es mit dem Brie­fe­schrei­ben um 1900 (zu­ge­ge­be­ner­mas­sen in­ter­es­siert mich Ril­ke mehr als Hof­manns­thal) auf sich hat.
Ich hof­fe aus­ser­dem, dass auch jene mei­ne Re­zen­si­on le­sen, die viel­leicht nie­mals das Fach­buch – ein aus­ge­zeich­ne­tes Kom­pen­di­um vol­ler De­tails und Ver­knüp­fun­gen – in die Hän­de bekommen.

Jörg Schuster: Kunstleben - Zur Kulturpoetik des Briefs um 1900 - Korrespondenzen Hugo von Hofmannsthals und Rainer Maria Rilkes (Wilhelm Fink Verlag)Es geht also um Brie­fe, und um eine be­stimm­te Art von Brie­fen, die zu ei­nem be­stimm­ten Zweck und mit be­stimm­ten In­hal­ten mit ganz be­stimm­ten Mit­teln ge­schrie­ben wur­den. Die Auf­ga­be, die­ses „be­stimmt“ zu be­schrei­ben, hat sich Jörg Schus­ter ge­setzt. Der Mann hat Neue­re deut­sche Li­te­ra­tur, All­ge­mei­ne Rhe­to­rik und Phi­lo­so­phie stu­diert. Sei­ne Dis­ser­ta­ti­on hat er in Tü­bin­gen über die „Poe­to­lo­gie der Di­stanz – Die ‚klas­si­sche‘ deut­sche Ele­gie 1750-1800“ ver­fasst. Das war 2001; 2012 leg­te er in Mar­burg, wo er an der Phil­ipps-Uni­ver­si­tät als Wis­sen­schaft­li­cher Mit­ar­bei­ter wirk­te, sei­ne Ha­bi­li­ta­ti­ons­schrift vor. Wie ich dem Netz ent­neh­men kann, lehrt er zur Zeit am Ger­ma­ni­schen In­sti­tut der West­fä­li­schen Wil­helms-Uni­ver­stät in Münster.

2. Wer waren Hugo von Hofmansthal und Rainer Maria Rilke?

Sie le­sen die­se Re­zen­si­on be­stimmt des­halb, weil Sie ei­nen der bei­den Her­ren ken­nen? Be­vor ich zu den Brie­fen kom­me, er­lau­ben Sie mir, Ih­nen ei­ni­ge An­ga­ben zu Hugo von Hof­manns­thal und Rai­ner Ma­ria Ril­ke ins Ge­dächt­nis zu­rück­zu­ru­fen. Ers­te­rer leb­te von 1874 bis 1929, war ös­ter­rei­chi­scher Schrift­stel­ler, Dra­ma­ti­ker und Li­bret­tist. Er wird als der Re­prä­sen­tant des fin de siè­cle und der Wie­ner Mo­der­ne schlecht­hin be­zeich­net und hat – „Tri­um­ph­pfört­ner“ ös­ter­rei­chi­scher Kunst  – die Salz­bur­ger Fest­spie­le (1918/1919) mit­ge­grün­det, die viel­leicht nicht eine Ge­gen­idee, so doch aber Ent­wurf zu ei­ner Al­ter­na­ti­ve zur Wie­ner Mo­der­ne sein woll­te: kle­ri­kal, an­ti­de­mo­kra­tisch, an­ti­auf­klä­re­risch.1)

Hugo von Hoffmansthal
Hugo von Hofmannsthal

Hugo von Hof­manns­thal hat­te be­reits pro­mo­viert und ha­bi­li­tiert, als er um 1900 in eine per­sön­li­che Kri­se stürz­te. Am 18. Ok­to­ber 1902 er­schien Ein Brief („Chan­dos-Brief“ – ein fik­ti­ver Brief ei­nes Lord Chan­dos, der sei­ne Zwei­fel an den Mög­lich­kei­ten des sprach­li­chen Aus­drucks nie­der­schreibt) in der Ber­li­ner Li­te­ra­tur­zeit­schrift Der Tag. Der Chan­dos-Brief zeigt, aus wel­chen Ge­dan­ken her­aus Hof­manns­thal die Poe­to­lo­gie sei­ner Ju­gend ab­legt, und mar­kiert eine Zä­sur in Hof­mannst­hals Kunst­kon­zept. Rück­bli­ckend er­scheint ihm das bis­he­ri­ge Le­ben als bruch­lo­se Ein­heit von Spra­che, „Le­ben“ und Ich. Nun aber kann das Le­ben nicht mehr durch Wor­te re­prä­sen­tiert wer­den; es ist viel­mehr di­rekt in den Din­gen prä­sent… Ne­ben ly­ri­schen und thea­tra­li­schen Wer­ken ist eine um­fang­rei­che Kor­re­spon­denz Hof­mannst­hals in Höhe von etwa 9’500 Brie­fen an na­he­zu 1’000 ver­schie­de­ne Adres­sa­ten überliefert.

Rainer Maria Rilke
Rai­ner Ma­ria Rilke

Rai­ner Ma­ria Ril­ke (1875 – 1926) gilt als be­deu­tends­ter Ly­ri­ker Deutsch­lands. 1895 be­stand er die Ma­tu­ra und be­gann Li­te­ra­tur, Kunst­ge­schich­te und Phi­lo­so­phie in Prag zu stu­die­ren, wech­sel­te 1896 zur Rechts­wis­sen­schaft und stu­dier­te ab Sep­tem­ber 1896 in Mün­chen wei­ter. Etwa von 1910 bis 1919 hat­te Ril­ke eine erns­te Schaf­fens­kri­se, der dann al­ler­dings eine um so in­ten­si­ve­re Schaf­fens­zeit folg­te. Er voll­ende­te in­ner­halb we­ni­ger Wo­chen im Fe­bru­ar 1922 die Dui­ne­ser Ele­gi­en. In un­mit­tel­ba­rer zeit­li­cher Nähe ent­stan­den auch die bei­den Tei­le des Ge­dicht­zy­klus So­net­te an Or­pheus. Bei­de Dich­tun­gen zäh­len zu den Hö­he­punk­ten in Ril­kes Werk. Sein um­fang­rei­cher Brief­wech­sel – wird mit mehr als 10’000 Brie­fen an­ge­ge­ben – bil­det ei­nen wich­ti­gen Teil sei­nes Schaf­fens.  Es wur­den mitt­ler­wei­le 70 Bän­de mit Ril­ke-Brie­fen her­aus­ge­ge­ben. Al­lein eine Aus­ga­be von 2009 um­fasst 1134 „Brie­fe an die Mut­ter“, dar­in ent­hal­ten sind die Brie­fe aus der Kin­der- und Ju­gend­zeit. Es hat den An­schein, als hät­te Ril­ke in sei­nen Brie­fen ge­lebt. Hof­manns­thal wie Ril­ke wa­ren „ma­ni­sche“ Briefeschreiber.

3. Warum Briefe untersuchen?

Be­vor ich wei­ter auf aus­ge­wähl­te The­men ein­ge­he, die Schus­ter in sei­ner Ar­beit her­aus­ar­bei­tet, wen­de ich mich an Sie. – Schrei­ben Sie (noch) Brie­fe? – Wür­de ich ge­fragt wer­den, wür­de ich ant­wor­ten: ich habe frü­her viel ge­schrie­ben, heu­te grei­fe ich kaum noch zu Pa­pier und Stift und schrei­be ei­nen Brief von 10 oder 12 Sei­ten. Mei­ne heu­ti­gen Brie­fe be­schrän­ken sich auf in die Tas­ta­tur ge­schla­ge­ne Buch­sta­ben in Mails, die aus­ge­druckt al­ler­höchs­tens die Län­ge ei­ner hal­ben DIN A 4-Sei­te erreichen.
Brie­fe sind ein Me­di­um, das uns zur Ver­fü­gung steht, um zu Pa­pier zu brin­gen, was an Ge­dan­ken mehr oder we­ni­ger ge­ord­net in uns her­um­schwirrt.  Brie­fe schrei­ben wir, weil und wenn un­ser Ge­gen­über ab­we­send ist. Der Ge­sprächs­part­ner, mit dem wir uns im Dia­log be­fin­den, ist räum­lich oder zeit­lich von uns ge­trennt – wir möch­ten ihm et­was mit­tei­len. In die­sem Wunsch, mit­zu­tei­len, schrei­ben wir von uns, von dem, was uns zu­ge­stos­sen ist, was wir ge­dacht, ge­fühlt und ge­tan ha­ben. Im Schrei­ben er­wa­chen Emp­fin­dungs­kräf­te – wir emp­fin­den uns als uns, wir fin­den un­se­re Iden­ti­tät und – auch das ist mög­lich, un­se­re In­di­vi­dua­li­tät. Ta­ge­buch­schrei­ben und das Schrei­ben von Brie­fen ha­ben die­se iden­ti­täts­stei­gern­de Kraft.
Brie­fe zeu­gen vom Schrei­ber und sei­ner Au­to­bio­gra­phie; sie ent­ste­hen nie in ei­nem Va­ku­um. Man­che Brie­fe sind als Lie­bes­brie­fe ex­klu­siv, und zwei Men­schen und de­ren Be­zie­hung zu­ein­an­der vor­be­hal­ten, an­de­re sind Ab­bil­dun­gen der All­täg­lich­keit, viel­leicht Be­schrei­bun­gen der Le­bens- und Ge­dan­ken­welt, an­de­re Brie­fe ge­hen über Schrei­ber und Le­ser hin­aus und sind Ab­bil­der der Zeit und Um­stän­de, Ab­bil­der der Pro­blem­lö­sungs­fin­dun­gen die­ser Men­schen, noch an­de­re sind Kor­re­spon­den­zen zwi­schen Leh­rer und Schü­ler, Rat­ge­ber und Ratsuchender.
Und manch­mal sind die Um­stän­de, un­ter de­nen man schreibt, kri­tisch – dann sind die Brie­fe „Kri­sen­sym­pto­me“ (vgl. An­ge­li­ka Ebrecht 2000) des Selbst wie auch der Zeitepoche.
Brie­fe kön­nen in­spi­rie­ren, d.h. der Ge­dan­ke, je­man­dem dar­über zu schrei­ben, wor­an man ge­ra­de ar­bei­tet, kann neue Ideen frei­set­zen, zu Hö­hen­flü­gen brin­gen. Je nach Brief­part­ner sta­chelt man sich ge­gen­sei­tig an, oder zieht sich herunter.
Das  Gros der Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­ler hat je­den­falls die Kor­re­spon­den­zen von um 1900 als Spie­gel von „Kri­sen­sym­pto­men“ ge­le­sen und be­zeich­net: Als Aus­druck der Un­si­cher­heit, die „das Bür­ger­li­che“ er­fasst hat­te. Die Mo­der­ni­sie­rungs­pro­zes­se sind eine nächs­te In­ter­pre­ta­ti­ons­sicht auf die Be­deu­tung der Brie­fe: Was mach­te die Ur­ba­ni­sie­rung, In­dus­tria­li­sie­rung, die Stei­ge­rung der Mo­bi­li­tät und die Be­schleu­ni­gung mit den Men­schen über­haupt? Jörg Schus­ter je­den­falls fragt in sei­nem Buch nach ei­ner noch „an­de­ren“ Funk­ti­on der Brie­fe – nach der pro­duk­ti­ven kul­tur­poe­ti­schen, und er hat sich zur Be­ant­wor­tung sei­ner Fra­ge der Brief­wech­sel je­weils von Hof­manns­thal und Ril­ke angenommen.
Was fin­det er? – Ana­log zum Ju­gend­stil in der Bil­den­den Kunst und Ar­chi­tek­tur fin­det er Brie­fe als Form der „Ge­brauchs­kunst“.  Die­se Art von Kunst re­agiert auf an­ste­hen­de Mo­der­ni­sie­rung. In­wie­weit es sich um die Kon­struk­ti­on ei­ner Text- und Le­bens­welt, die nur als äs­the­ti­sche zu er­tra­gen ist, han­delt, ist Ge­gen­stand von Schus­ters Buch. Er stu­diert und ana­ly­siert ge­nau­er hin, er nimmt „Ver­su­che li­te­ra­ri­scher Kreis­bil­dung“ und Ex­pe­ri­men­te „äs­the­ti­scher Er­zie­hung“ eben­so un­ter die Lupe wie die Öko­no­mie des Briefs und – im Kon­text ei­ner Kul­tur­poe­tik des (Innen-)Raums um 1900 – Kon­zep­te des „epis­to­la­ren In­te­ri­eurs“.  (Zu­ge­ge­ben, das habe ich dem An­kün­di­gungs­text entnommen.)
Das Buch ist, wie be­reits ge­sagt, um­fang­reich. Ich grei­fe des­halb nur ein­zel­ne Ka­pi­tel her­aus und stel­le Sie Ih­nen ge­nau­er vor.

4. Hofmannsthals bitterer Briefwechsel mit Stefan George – symbolisches Experiment am Vorübergehenden

Stefan George
Ste­fan George

Schus­ter be­ginnt mit ei­nem Ge­dicht Hof­mannst­hals2) – Ge­or­ge nach ei­nem Tref­fen über­bracht –, in dem es zu­nächst un­ver­fäng­lich um eine poe­ti­sche Stand­ort­be­stim­mung geht, bei der Ge­or­ge vom Jün­ge­ren die Rol­le des Leh­rers zu­ge­wie­sen be­kommt. Hof­manns­thal ist 17, Ge­or­ge 23 Jah­re alt. Dem Ge­dicht ist ein Ge­schenk vor­an­ge­gan­gen: Ge­or­ge hat Hof­manns­thal sei­nen ers­ten, im Vor­jahr er­schie­ne­nen Ge­dicht­band Hym­nen ge­schenkt und ihm ver­mut­lich auch Ein­blick in sei­ne Über­set­zun­gen aus dem Fran­zö­si­schen ge­ge­ben. Der Äl­te­re er­läu­tert dem Jün­ge­ren das Pa­ri­ser Vor­bild ei­ner „poé­sie pure“, die mit der Tra­di­ti­on der Welt­ab­bil­dung in der Li­te­ra­tur ra­di­kal ge­bro­chen hat: das Ge­dicht ist nun­mehr sub­ti­les Ge­we­be von bild­li­chen Über­gän­gen, von Klän­gen und rhyth­mi­schen Ein­hei­ten, ein au­to­no­mes Ge­bil­de, das die Mög­lich­kei­ten der Spra­che und nicht die Zwän­ge der Wirk­lich­keit of­fen­bart. Hof­manns­thal lernt schnell. Schon we­ni­ge Tage spä­ter, am 21. De­zem­ber 1891, schickt er Ge­or­ge dann sein Ge­dicht, das von An­spie­lun­gen auf die aus­ge­tausch­ten und be­spro­che­nen Tex­te durch­setzt ist.
Das Ge­dicht ist eine klin­gen­de Ant­wort auf ein Vor­über­ge­hen, das steht fest, und es gleicht ei­nem Ge­dicht Bau­de­lai­res „À une pas­san­te“, das Ge­or­ge über­setzt hat­te. Was ist die Ab­sicht Hof­mannst­hals? Meint er mit dem Vor­über­ge­hen­den Ge­or­ge, oder sich selbst? – Vie­le An­deu­tun­gen, über die sich zu le­sen lohnt, und ein flüch­ti­ges Er­leb­nis als In­spi­ra­ti­on zur Kunst. – In­ter­es­san­ter­wei­se gibt es die­ses Ge­dicht in zwei Ver­sio­nen. Eine in deut­scher Schrift, mit gros­sen An­fangs­buch­sta­ben und In­ter­punk­ti­on auf Pa­pier mit dem Wap­pen Hof­mannst­hals. Das an­de­re in la­tei­ni­scher Schrift, mit klei­nen An­fangs­buch­sta­ben, ohne In­ter­punk­ti­on. Die­se Ver­si­on zi­tiert  Ge­or­ges Schrift­stil und die­ses ist es, was Hof­manns­thal ihm überreicht.
Ge­dicht an ei­nen Vor­über­ge­hen­den ist ein Wi­der­spruch an sich, aber er wirkt. Hof­manns­thal selbst gibt an, dass es ein per­sön­li­ches Be­kennt­nis sei – er selbst sei der Vor­über­ge­hen­de, der In­spi­rier­te. Ge­or­ge al­ler­dings fasst das Ge­dicht als Aus­blick auf eine fes­te­re, dau­er­haf­te­re Zu­sam­men­ar­beit auf – als ein An­ge­bot zu Nähe. Es kommt zu ei­nem Miss­ver­ständ­nis, das die bei­den Män­ner an­schlies­send im­mer wei­ter be­ar­bei­ten. Jörg Schus­ter geht nun dem dar­auf fol­gen­den Brief­wech­sel nach und fin­det „den Ha­ken“ in der Be­zie­hung zwi­schen den bei­den Män­nern und spannt ei­nen Bo­gen zur Funk­ti­on des Briefes.
Auch der Brief­wech­sel hat den Cha­rak­ter ei­nes Ge­sprächs zwi­schen Meis­ter (Ge­or­ge) und Jün­ger (Hof­manns­thal): der Meis­ter ist in Be­sitz des Ge­heim­nis­ses des mit der künst­le­ri­schen Pro­duk­ti­on ver­bun­de­nen Lei­dens (S. 49), das er nach und nach lüf­ten wird, in­dem er An­deu­tun­gen macht. Die Brie­fe nun at­men die Sehn­sucht nach poe­ti­scher In­spi­ra­ti­on auf bei­den Sei­ten, für Ge­or­ge noch es­sen­ti­el­ler als für Hof­manns­thal. Im Ver­lau­fe des Brief­wech­sels kehrt Ge­or­ge von der „ver­letz­ba­ren Ge­walt“ (ein Be­kennt­nis, das er ab­ge­legt hat) zu ei­nem vor­neh­men Pa­thos der Di­stanz zu­rück, wor­auf­hin Hof­manns­thal rat­los nach­fragt, was ge­sche­hen sei. Dazu ver­wei­gert Ge­or­ge die wei­te­re Kom­mu­ni­ka­ti­on und bricht in ein Schwei­gen ab.
Hof­manns­thal schreibt ei­nen nächs­ten Brief an Ge­or­ge: „Ich kann auch das lie­ben, was mich är­gert“, be­kennt er. Ge­or­ge fin­det die­sen Brief zu di­plo­ma­tisch, zu glatt und neu­tral. Hof­manns­thal hal­te sich be­deckt. Die Kor­re­spon­denz es­ka­liert, und mün­det in Ge­or­ges An­dro­hung zum Du­ell. Wie nun ret­tet sich Hof­manns­thal? – Er be­ruft sich auf sei­ne Ner­ven („Ver­zei­hen Sie mei­nen Ner­ven […] jede ver­gan­ge­ne Un­art“). Die Ner­ven er­lau­ben dem reiz­bar-sen­si­ti­ven Künst­ler al­les. Ge­or­ge hat al­ler­dings mit der An­dro­hung über­trie­ben, und ver­sucht in der Fol­ge ab­zu­wie­geln. Da­bei wirkt er bei­na­he „ko­misch“ (S. 53), Hof­manns­thal kann das nicht ein­ord­nen – der Bruch in der Be­zie­hung ist nicht zu vermeiden.
Hof­manns­thal und Ge­or­ge rin­gen in ih­rem Brief­wech­sel um Di­stanz und Nähe. Sie ken­nen sich aus Brie­fen, ha­ben sich aber nur sel­ten ge­trof­fen, in ih­rer di­stan­zier­ten Nähe sind Brie­fe ihr Me­di­um zum Aus­tausch von Le­bens­zei­chen. – Nun ist Ge­or­ge aber der, der die Re­geln vor­gibt. Der Jün­ge­re ent­zieht sich, bleibt auf „ori­en­ta­lisch“ (S. 55) und auf ein­schmei­cheln­de Art kon­se­quent und vir­tu­os. Hof­manns­thal be­herrscht schon hier die Kunst der „epis­to­la­ren in­si­nua­tio“ (rhe­tho­ri­sches Mit­tel, das je­mand ver­wen­det, wenn er von vor­ne­her­ein da­von aus­geht, dass sein Zu­hö­rer ge­gen ihn ist): er ent­zieht sich, macht sich klein, gibt vor, dem Geg­ner nicht ge­wach­sen zu sein.
Al­les in al­lem be­trach­tet, ist die­ser Brief­wech­sel das Land, in dem die Kri­se (die je ei­ge­ne der bei­den und die ih­rer Be­zie­hung) in ge­gen­sei­ti­gem Be­ken­nen, For­dern, Aus­wei­chen, Ver­ein­nah­mungs­ver­su­chen als Kri­sen­brief­wech­sel aus­ge­tra­gen wird.

5. Die einsame Imagination, Lebensverdächtigung und ein verfehlter Geburtstagsbrief – Der Briefwechsel mit Richard Beer-Hofmann

Handschrift von Hofmannsthal
Hand­schrift von Hofmannsthal

In den vor­an­ge­hen­den Ka­pi­teln hat Schus­ter be­reits eine „Brü­chig­keit“ in Hof­mannst­hals Brie­fen her­aus­ge­ar­bei­tet. Im Brief­wech­sel mit Ri­chard Beer-Hof­mann tritt eine neue Qua­li­tät hinzu.
Mit Beer-Hof­mann ver­bin­det Hof­manns­thal „gros­se mensch­li­che Ver­traut­heit“ (S. 118), die bei­den ken­nen ein­an­der gut und tref­fen sich häu­fig. Auch sie sind jun­ge Män­ner, als sie sich (um 1896/97) ken­nen­ler­nen: Beer-Hof­mann ist etwa 31 und Hof­manns­thal 23 Jah­re alt. Ihre Be­geg­nun­gen ha­ben für bei­de ei­nen ho­hen Stel­len­wert, es gibt vie­le Ge­spä­che über Macht­ver­hält­nis­se und die Rol­len­ver­tei­lung. In die­sem (im Ver­gleich zu dem mit Ge­or­ge)  Brief­wech­sel ist Hof­manns­thal der Zu­dring­li­che­re und Beer-Hof­mann der Zu­rück­hal­ten­de. Aus­ge­rech­net der Äs­thet Hof­manns­thal lässt sich hin­reis­sen und schreibt „Häss­li­ches, ja Ekel­haf­tes“ (S. 119). Hof­manns­thal sucht die Kon­fron­ta­ti­on und pro­vo­ziert. „Epis­to­la­res Im­po­nier­ge­ha­be“, heisst es bei Schus­ter, lege er an den Tag. Er trifft auf ei­nen, der sich nicht zwin­gen lässt: „Ich weiss, Sie neh­men es mit mir nicht ge­nau; Brie­fe „schul­dig sein“ ist ja auch nur ein Bour­go­is-Be­griff.“ (S. 120). Doch Hof­manns­thal nimmt es sehr ge­nau, und är­gert sich. „War­um schrei­ben Sie mir nicht?“ – Beer-Hof­mann ver­wei­gert sich. Er will nicht als „In­spi­ra­ti­ons­mit­tel“ für die poe­ti­sche Pro­duk­ti­on jün­ge­rer Kol­le­gen fun­gie­ren. Er iden­ti­fi­ziert sich mit der Rol­le des „Hemm­schuhs“.  Hof­manns­thal wie­der­um fühlt sich nicht ge­ach­tet ge­nug. Es de­pri­miert ihn, dass die Be­zie­hung sich nicht als idea­le poe­ti­sche Le­bens- und Ar­beits­ge­mein­schaft ent­wi­ckelt bzw. ge­stal­tet. Es ge­lingt ihm nicht, Beer-Hof­mann aus dem Le­ben hin­ein in sei­ne Brief­welt zu zie­hen (S. 124), schreibt in ei­ner Mi­schung aus Zu­dring­lich­keit und Ich-Bezogenheit.
In ei­nem Ge­burts­tags­brief (vom 6. Juli 1899) an Beer-Hof­mann bricht – völ­lig de­pla­ziert und ver­fehlt –  die Er­war­tung aus Hof­manns­thal her­aus. Hier liegt ein Kon­flikt, so schreibt Schus­ter, zwi­schen dem Mensch­li­chen (dem Le­ben) und der pro­duk­ti­ven Fä­hig­keit (bzw. der Poe­sie) vor. Das Le­ben kann sich uns im Brief nur in Form von Schrift und Ima­gi­na­ti­on nä­hern, wo­bei die Ima­gi­na­ti­on eine em­pha­ti­sche ist. Ein­füh­lung ist hier das Stich­wort – pa­ra­do­xer­wei­se fühlt sich Hof­manns­thal so sehr in Beer-Hof­mann ein, dass er ihm mit sei­ner Kri­tik und den Vor­wür­fen zu nahe tritt und die Gren­ze des gu­ten An­stands über­schrei­tet. Beer-Hof­mann ant­wor­tet la­ko­nisch: „Lie­ber Hugo, Sie ha­ben Recht, nur […] an ei­nen Arzt oder Me­di­ka­men­te glau­be ich bei die­sen Din­gen nicht.“ – Bün­di­ger, so Schus­ter, kön­ne die ei­ge­ne Re­si­gna­ti­on, aber auch das Zu­rück­wei­sen der selbst­be­zo­ge­nen Zu­dring­lich­keit Hof­mannst­hals nicht aus­ge­drückt wer­den (S. 126). Brie­fe – so se­hen wir hier – kön­nen und wer­den im Sin­ne ei­ner „Di­stanz­me­di­zin“ ge­schrie­ben (S. 181).
„Me­di­zin­brie­fe“ wie die  an Beer-Hof­mann sind ein­sei­tig – sie sind und blei­ben Hof­mannthals „Welt in der Welt“. An­ders als der Poet Hof­manns­thal be­herrscht der Brief­schrei­ber Hof­manns­thal et­li­ches nicht: sou­ve­rä­nes, prä­gnant-wir­kungs­si­che­res sprach­li­ches Über­tra­gen und Her­vor­ru­fen von Stim­mun­gen.  – Dass und wie es im Brief­wech­sel zu ei­ner Wen­de kam, ist im Buch nach­zu­le­sen – die Auf­lö­sung auf Sei­te 147. In die­ser Art, aus­führ­li­cher und noch mehr Hin­ter­grün­de her­an­zie­hend, geht Schus­ter die Brie­fe durch, die er in grös­se­re und klei­ne­re Ka­te­go­rien zusammenfasst.

6.  Rilkes transportable Welt und sein fein verteiltes Irgendwo-Sein

Handschrift von Rilke
Hand­schrift von Rilke

Wuss­ten Sie, dass Ril­ke täg­lich durch­schnitt­lich an die zehn Brie­fe schrieb? – Stel­len Sie sich vor, Sie schrie­ben heut­zu­ta­ge täg­lich an 10 Per­so­nen aus Ih­rem Be­kann­ten­kreis 10 Sei­ten!? An man­che die­ser Per­so­nen zwei­mal pro Woche.
Ril­ke pro­du­ziert in gu­ten Zei­ten Brie­fe „mit Dampf“ – und ver­merkt aus­ser­dem noch alle Da­ten rund um die Brie­fe. Ist er ein Ma­ni­ker? Ist er nicht – schon ein­mal vor­weg­ge­nom­men. Hät­te es da­mals face­book oder über­haupt das In­ter­net ge­ge­ben – Ril­ke hät­te es ge­nutzt: um ein Netz­werk auf­zu­bau­en, um sei­ne Wer­ke vor­zu­be­rei­ten und sich selbst zu ver­mark­ten. Er war ein Öffentlichkeitsarbeiter.
Wir er­fah­ren, dass Ril­ke Wert auf das aus­se­hen sei­ner Brie­fe leg­te: Brief­pa­pier wird von ihm spe­zi­ell aus­ge­wählt, er schreibt in ei­ner be­son­de­ren Hand­schrift („th“ und „y“ schreibt er auf un­ver­wech­sel­ba­re Wei­se und lädt sie mit ei­ner be­son­de­ren Be­deu­tung auf). Ril­kes Brie­fe sind Ge­samt­kunst­wer­ke, die gleich­zei­tig den All­tag poe­ti­sie­ren und ent­prag­ma­ti­sie­ren – und die doch wie­der nütz­lich wer­den. Im Kreis des li­te­ra­ri­schen Be­triebs Fuss zu fas­sen, ist Ril­kes Ab­sicht. Die Brie­fe die­nen ihm als Er­satz für noch nicht er­lang­ten Er­folg vor grös­se­rem Pu­bli­kum. Er schafft sich ei­nen Kreis, in dem die Brie­fe ei­nen Hei­mater­satz für ihn, den Ort­lo­sen, bil­den. Doch das „Ir­gend­wo“, das er sich da­mit ver­schafft (dazu mehr wei­ter un­ten), ist nicht der letz­te Aspekt die­ser Briefe.
Für Ril­ke ist der Brief nicht Me­di­um der In­ti­mi­tät, son­dern Vor­zei­ge­ob­jekt. Das epis­to­la­re Sub­jekt Ril­ke – so Schus­ter – bil­det eine Funk­ti­ons­stel­le ähn­lich ei­ner Durch­gangs­sta­ti­on, ei­nes Re­lais (S. 222). Ril­kes Brie­fe sind näm­lich öf­fent­lich: sie dür­fen und sol­len von den Adres­sa­ten an­de­ren im Be­kann­ten­kreis ge­zeigt wer­den. Auch das „Sub­jekt des Emp­fän­gers“ wird so­mit zur Funk­ti­on: er soll multiplizieren.
Ril­ke, der Viel­schrei­ber, ver­steht die an ei­nem Tag ge­schrie­be­nen Brie­fe als eine Ein­heit – und als Werk an sich, das er­laubt, das Le­ben äthe­risch und li­te­ra­li­siert zu „re­zi­pie­ren und zu mo­del­lie­ren“ (S. 224).
Ganz ab­ge­se­hen da­von macht Ril­ke das, was auch heu­te die Self­pu­blisher mit ih­ren selbst­ver­öf­fent­lich­ten Wer­ken tun: Sie pro­bie­ren Ent­wür­fe und Vor­ar­bei­ten im Netz aus. Sie ach­ten auf ihre Wir­kung und Rück­mel­dung, neh­men An­re­gun­gen auf, än­dern ab. – Vor­ab in den Brie­fen Ril­kes öf­fent­lich ge­mach­te Text­ab­schnit­te fin­den sich in sei­nen li­te­ra­ri­schen Wer­ken wie­der. Ril­ke in­sze­niert den Schaf­fens­pro­zess in sei­nen Briefen.

7. Esoterik der Briefe und die Exoterik der Konversation

Dass Ril­ke zwi­schen ei­nem Ge­spräch und ei­nem Brief ei­nen gros­sen Un­ter­schied macht, ist be­reits mehr­fach durch­ge­schim­mert. Das Kon­kur­renz­ver­hält­nis der bei­den „Me­di­en“ zu­ein­an­der ist über Jahr­zehn­te sein The­ma (S. 224): Dem Draus­sen des Ge­sprächs steht das ein­sa­me Drin­nen des Briefs ent­ge­gen. Brie­fe zu schrei­ben, ist ein Sich-Sam­meln. „Als ob Du bei mir ein­tre­ten könn­test“ ist der Ti­tel ei­nes Ab­schnitts (S. 249ff), in dem Schus­ter sich mit ei­nem Brief Ril­kes an Lou An­dre­as-Sa­lo­mé und dem nach­fol­gen­den Brief­wech­sel be­schäf­tigt. Der Brief, um den es ge­hen wird, ist vom 13. Mai 1897. Es ist Ril­kes ers­ter Brief an die 10 Jah­re äl­te­re Frau, die spä­ter 30 Jah­re lang erst sei­ne Ge­lieb­te, dann Ver­trau­te und „Beicht­mut­ter“ sein wird. Ohne Lou An­dre­as-Sa­lo­mé wäre Rai­ner Ma­ria Ril­kes Le­ben an­ders ver­lau­fen, heisst es. Er lernt sie in Mün­chen, wo er stu­diert und Kon­tak­te zur li­te­ra­ri­schen Sze­ne sucht, im Mai 1897 eher zu­fäl­lig ken­nen. Er ist 26 Jah­re alt, Lou An­dre­as-Sa­lo­mé be­reits re­nom­mier­te Au­torin. Man kennt ihre Er­zäh­lun­gen und Ro­ma­ne, ihr Buch über Ib­sen. Sie hat ge­ra­de ei­nen Hei­rats­an­trag von Nietz­sche ab­ge­wie­sen. Der ers­te Brief, den Ril­ke schreibt, ver­rät eine ge­ra­de­zu re­li­giö­se Ver­eh­rung und er ver­folgt eine deut­li­che Ab­sicht: er möch­te ein ex­klu­si­ves Ver­hält­nis zu ihr ha­ben, schreibt sie per­sön­lich und sehr höf­lich an, ver­si­chert ihr, dass es eine „Aus­zeich­nung“ sei, sie ken­nen­zu­ler­nen – und möch­te ihr im­po­nie­ren (S. 249). Was Ril­ke da­bei schon da­mals „be­herrscht“ ist, was man heu­te „name-drop­ping“ nennt.
Ril­ke hat­te die Dame am Vor­tag ge­trof­fen und möch­te – ent­täuscht von der münd­li­chen Kom­mu­ni­ka­ti­on – sei­ne Be­wun­de­rung auf dem brief­li­chen Weg aus­drü­cken. Der Brief, so Schus­ters Hy­po­the­se, stif­tet so­mit eine Be­zie­hung zu Lou An­dre­as-Sa­lo­mé im Sin­ne „ei­nes der Exo­te­rik des ge­sell­schaft­li­chen Ge­sprächs ent­ge­gen­ge­setz­ten eso­te­ri­schen Me­di­ums“ (S. 250).
In die­sem Fall se­hen wir den Brief als „Me­di­um der Nähe und der In­ti­mi­tät“, wo­bei er dem Ge­spräch, der voll­stän­di­ge­ren Form der Kom­mu­ni­ka­ti­on, un­ter­le­gen ist. Die be­reits an­ge­deu­te­te The­ma­tik „Ge­spräch vs. Brief“ bleibt wäh­rend der Kor­re­spon­denz und im Ver­lauf der Lie­bes­be­zie­hung zu Lou An­dre­as-Sa­lo­mé be­stehen. Nach Ab­bruch und Wie­der­auf­nah­me der Be­zie­hung gilt je­der Brief, den er ihr schreibt, dem Wunsch nach dem Ge­spräch. Da die­ses zwi­schen bei­den schwie­rig ist, sehnt sich Ril­ke als­bald nach an ei­nem Ort, nach ei­ner Woh­nung, an dem und in der er das nö­ti­ge „set­ting“ fin­det, den Ru­heort, um die nö­ti­gen Brie­fe schrei­ben zu kön­nen. Über­haupt fehlt Ril­ke eine „Stu­be“, also er­baut er sich eine („ein Stück Stu­be […], die ich mir da­mals er­baut habe“ (S. 257) – er ar­ran­giert sich ein Stück Wirk­lich­keit. Der Nach­teil die­ser Wirk­lich­keit be­steht dar­in, dass es sich nicht um Le­bens­wirk­lich­keit han­delt, son­dern um das Her­vor­brin­gen von Schrift und Poe­sie. Der Ver­fas­ser der Schrif­ten je­doch ist nicht mehr als eine „zer­bro­che­ne Schne­cken­scha­le“. Das Brie­fe­schrei­ben wird nicht nur zum Aus­weg aus der Su­che nach dem (Schreib-) Ort son­dern auch aus Ril­kes Di­lem­ma. Im Lau­fe des Brief­wech­sels mit Lou An­dre­as-Sa­lo­mé wird der Brief im­mer mehr der Ort der Ruhe, die Schreib­si­tua­ti­on des Brie­fes ver­wirk­licht sei­ne Sehn­sucht – und das er­sehn­te Ge­spräch da­mit schliess­lich über­flüs­sig (S. 264). Wie es nun im Ein­zel­nen mit Ril­ke und AS en­de­te, kann dem Buch ent­nom­men wer­den. So­viel an die­ser Stel­le. Zu­sam­men­fas­send kann ge­sagt wer­den: auch wenn zwar im Fal­le die­ses Brief­wech­sels ein „Aus­schluss der Öf­fent­lich­keit“ vor­liegt, ord­net Schus­ter den Brief bzw. den Brief­wech­sel in letz­ter Kon­se­quenz doch eher dem „Zweck ei­ner Sti­mu­la­ti­on“ zu.

8. Lebenspraxis + Briefpoesie = die kleine Lebenshilfe?

Die vor­an­ge­gan­ge­nen Sei­ten ha­ben le­dig­lich ei­nen klei­nen Aus­schnitt aus dem Ge­samt­werk ge­zeigt. Es gibt un­gleich mehr zu ent­de­cken. Der äl­te­re Hof­manns­thal schreibt in sei­nen Brie­fen an­ders und über an­de­res, eben­so der äl­te­re Ril­ke, der vie­le Brie­fe von männ­li­chen wie weib­li­chen Le­sern er­hält und „Lehr­brie­fe“ schreibt. Schus­ter ana­ly­siert et­li­che die­ser Brief­wech­sel.  Zu kurz ge­kom­men in der Re­zen­si­on ist der Le­bens- und Schaf­fen­s­hin­ter­grund der Be­tei­lig­ten, der Brie­fe zu Rat­ge­bern wer­den lässt. Die­ses und eine akri­bi­sche Un­ter­su­chung der dich­te­ri­schen Spra­che habe ich links lie­gen gelassen.

Jörg Schuster
Jörg Schus­ter

Zu An­fang hat­te sich Schus­ter die Fra­ge ge­stellt, in­wie­weit die Brief­kul­tur um 1900 sym­pto­ma­tisch für die kul­tur­ge­schicht­li­che Si­tua­ti­on des fin de siè­cle und des frü­hen 20. Jahr­hun­derts ist. Was leis­ten Brie­fe die­ser Zeit, was brin­gen sie auf kom­mu­ni­ka­ti­vem Weg her­vor? (S. 388)
Die Funk­ti­on der Brie­fe ist – al­les in al­lem und zu­sam­men­fas­send – dass sie dem Zweck die­nen, Di­stanz zu schaf­fen und zu wah­ren. In die­ser Di­stanz wer­den sie zu Re­prä­sen­tan­ten des „Ju­gend­stils“ und da­mit – Ge­brauchs­kunst (S. 389), mit der die Au­toren die „ar­ti­fi­zi­el­le In­nen-Ein­rich­tung ih­rer so­zia­len Welt“ gestalten.
Hoff­manns­thal ar­ran­giert sich die Wirk­lich­keit, wie man ei­nen Aus­stel­lungs­ge­gen­stand hin­stellt und ar­ran­giert (S. 388), und Ril­ke ver­webt sich, mit­tels sei­ner Brie­fe kon­ti­nu­ier­lich in den Ko­kon ei­ner Einrichtung.
Die Brie­fe fun­gie­ren als zu­gleich „pri­va­te“ wie auch höchst ar­ti­fi­zi­el­le Schutz­räu­me, statt ei­nes tat­säch­li­chen Zu­sam­men­wir­kens herr­schen ein­sa­me Ima­gi­na­ti­on und schrift­li­che Selbst-Sti­mu­la­ti­on vor, bei de­nen die Adres­sa­ten als Vor­wand die­nen (S. 392). Bei Ril­ke ha­ben wir noch den Ein­druck, wir könn­ten je­der­zeit ein­tre­ten, den­noch hält er eine tat­säch­li­che Be­geg­nung in der Schwebe.
Zwei Re­prä­sen­tan­ten ih­rer Zeit – und es bleibt mir nach der Lek­tü­re die trau­ri­ge Fra­ge (sie wird hof­fent­lich er­laubt sein): Was wohl, wenn wir un­se­re heu­ti­gen Brief­wech­sel ähn­lich akri­bisch un­ter die Lupe näh­men und eine Ana­mne­se vor­neh­men wür­den, die Dia­gno­se er­gä­be? Für mich ganz per­sön­lich neh­me ich mit, dass ich in punc­to Ril­ke die rich­ti­ge, hier be­reits an­ge­deu­te­te, Ver­mu­tung hat­te. Lei­der konn­te ich nicht auf all die an­de­ren Fra­gen ein­ge­hen, die im Buch auf­ge­wor­fen und be­ant­wor­tet wer­den. Lei­der, auch das be­reits an­ge­deu­tet, bin ich zu we­nig Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­le­rin, um Schus­ters Werk für die Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft wür­di­gen zu kön­nen. Es sei den­noch ans Herz ge­legt: wenn wir un­se­re Ge­schich­te ver­ste­hen, ver­ste­hen wir auch die Ge­gen­wart!

Jörg Schus­ter: Kunst­le­ben – Zur Kul­tur­poe­tik des Briefs um 1900 – Kor­re­spon­den­zen Hugo von Hof­mannst­hals und Rai­ner Ma­ria Ril­kes, 428 Sei­ten, Wil­helm Fink Ver­lag, ISBN 978-3770556021

1) Nor­bert Chris­ti­an Wolf: Eine Tri­um­ph­pfor­te ös­ter­rei­chi­scher Kunst – Hugo von Hof­mannst­hals Grün­dung der Salz­bur­ger Fest­spie­le, Jung und Jung (Salz­burg)

2) Herrn Ste­fan George
ei­nem, der vorübergeht

du hast mich an din­ge gemahnet
die heim­lich in mir sind
du warst für die sai­ten der seele
der näch­ti­ge flüs­tern­de wind

und wie das rätselhafte
das ru­fen der ath­men­den nacht
wenn draus­sen die wol­ken gleiten
und man aus dem traum erwacht

zu wei­cher blau­er weite
die enge nähe schwillt
durch pap­peln vor dem monde
ein lei­ses zit­tern quillt


Le­sen Sie im Glarean Ma­ga­zin zum The­ma Rai­ner Ma­ria Ril­ke auch über Jes­si­ca Rie­mer: Ril­kes Früh­werk in der Musik

… so­wie zum The­ma Poe­tik über Mo­ni­ka Rinck: Wirk­sa­me Fik­tio­nen (Göt­tin­ger Poetik-Vorlesungen)

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