Jessica Riemer: Rilkes Frühwerk in der Musik

O Herr, gib jedem seinen eignen Tod

von Chris­tian Busch

Rai­ner Maria Rilke gehört zu den deut­schen Dich­tern, deren Werke bis heute nichts von ihrer Wir­kung und Prä­senz ein­ge­büsst haben. Seine Gedichte erschei­nen moder­ner und zeit­lo­ser denn je, von hell­sich­ti­ger Klar­heit und uner­schöpf­li­chem Reich­tum, so dass selbst die ana­ly­ti­sche Lite­ra­tur­wis­sen­schaft sie noch nicht end­gül­tig fas­sen und “erle­di­gen” konnte. Und spielt Ril­kes viel­leicht berühm­tes­tes Gedicht “Herbst­tag” (aus dem “Buch der Bil­der”) nicht auf die Ver­fas­sung des moder­nen Men­schen an? Auf die Zeit der Ein­sam­keit, des “Wachens” und “Lange-Briefe-Schrei­bens”, in der man unru­hig in den “Alleen zwi­schen trei­ben­den Blät­tern” hin und her “wan­dert”? Auf die Suche nach Ant­wor­ten auf Fra­gen, die sich aus der Kon­fron­ta­tion mit Tod und Ver­gäng­lich­keit unwei­ger­lich stel­len, doch in der schril­len Medi­en­welt tabu sind?

Jessica Riemer: Rilkes Frühwerk in der Musik - Rezeptionsgeschichtliche Untersuchungen zur Todesthematik, Universitätsverlag WinterUm sich Rilke und sei­nem Werk wei­ter zu nähern, bedarf es daher vie­ler und viel­fäl­ti­ger Wege. Jes­sica Rie­mer geht in ihrer umfang­rei­chen, sehr fun­dier­ten und bezie­hungs­rei­chen Arbeit den Weg über die Rezep­ti­ons­ge­schichte und die Rezep­ti­ons­äs­the­tik mit dem Schwer­punkt auf dem Früh­werk und der Todes­the­ma­tik. Eine beson­dere Berück­sich­ti­gung erhal­ten die zahl­rei­chen musi­ka­li­schen Ver­to­nun­gen, denen Ril­kes Texte als Inspi­ra­tion, Thema oder Deu­tung zu Grunde lie­gen. Sie alle doku­men­tie­ren die Moder­ni­tät, Aktua­li­tät und Zeit­lo­sig­keit von Ril­kes Texten.

Rilkes ambivalenter Todesbegriff

Rilke-Grab auf dem Bergfriedhof Raron (Schweiz)
Rilke-Grab auf dem Berg­fried­hof Raron (Schweiz)

Von mass­geb­li­cher Bedeu­tung ist zunächst Ril­kes eige­ner ambi­va­len­ter Todes­be­griff, der “eigne” und der “kleine” Tod, der in der nur wenig beach­te­ten Erzäh­lung “Das Christ­kind” (1893) the­ma­ti­siert wird. Vor dem Hin­ter­grund sei­ner gros­sen Affi­ni­tät zum Tod unter­schei­det er den “eig­nen” oder voll­kom­me­nen Tod, der als Teil des Lebens akzep­tiert wird (“Der Tod wächst aus dem Leben näm­lich her­aus wie eine Frucht aus einem Baum”) vom “klei­nen” Tod, dem Ster­ben in anony­mi­sier­ter, den Tod leug­nen­der Form.
Die enge Ver­bin­dung von Tod und Leben setzt sich fort in der an Sig­mund Freud ori­en­tier­ten Dia­lek­tik von Lebens- (Eros) und Todes­trieb (Tha­na­tos). Der Tod in der Schlacht von Cor­net, dem Titel­hel­den der Pro­sa­dich­tung “Die Weise von Liebe und Tod des Cor­nets Chris­toph”, erscheint als letzte Stei­ge­rung des Lebens­ge­fühls, unmit­tel­bar nach der Lie­bes­nacht mit der Gräfin.

Musikalische Rezeption nach dem Krieg

Nach einem Ver­weis auf die unsäg­li­che Rezep­tion im Natio­nal­so­zia­lis­mus, aber auch schon im 1. Welt­krieg, beschäf­tigt sich Jes­sica Rie­mer in der Folge ihrer nun deut­lich inter­dis­zi­pli­när ange­leg­ten Arbeit mit der äus­serst umfang­rei­chen musi­ka­li­schen Rezep­tion nach 1945, von denen hier nur einige genannt wer­den können.
Ril­kes Gedicht “O Herr, gib jedem sei­nen eig­nen Tod” aus dem Stun­den­buch wird in Karl Schis­kes 1946 kom­po­nier­tem Ora­to­rium “Vom Tode” zum Leit­mo­tiv und roten Faden, das im Epi­log die höchste Stei­ge­rung in der Schluss­fuge erfährt. Im “eig­nen” Tod erfährt das lyri­sche Ich die Erlö­sung, die Schis­kes im Krieg ver­stor­be­nen Bru­der (der “kleine” Tod) ver­sagt blieb.

Dmitri Schostakowitsch (Hörbeispiel auf Youtube:
Dmi­tri Schost­a­ko­witsch (Hör­bei­spiel auf You­tube: “Der Tod des Dich­ters” / 14. Sinfonie)

Ein wei­te­res Bei­spiel – auch für die enge Ver­wandt­schaft von Musik und Lite­ra­tur – erläu­tert die Autorin in der 1969 urauf­ge­führ­ten “Sym­pho­nie vom Tode” (Nr. 14 op. 135) von Dimi­tri Schost­a­ko­witsch, in wel­cher der Kom­po­nist die Unter­drü­ckung des Künst­lers in der sozia­lis­ti­schen Gesell­schaft anpran­gert. Krank­heit, Unter­drü­ckung und Todes­angst prä­gen Schost­a­ko­witsch in die­ser Zeit, und auch sein Werk, seine Todes­auf­fas­sung – ent­ge­gen der von Rilke – bleibt rein pes­si­mis­tisch. Die Inter­fe­renz ent­steht dann auch durch Ril­kes Gedicht “Der Tod des Dich­ters” aus den Neuen Gedichten.

Der Tod als höhere Stufe des Lebens

Die Ana­lyse der 2005 urauf­ge­führ­ten Sym­pho­nie Nr. 8, im Unter­ti­tel “Lie­der der Ver­gäng­lich­keit” genannt, von Krzy­sz­tof Pen­der­ecki bringt wie­der eine stär­kere und engere Iden­ti­fi­ka­tion mit Ril­kes Bot­schaf­ten zum Vor­schein. Auch hier fun­gie­ren in der The­ma­tik von Herbst, Ver­gäng­lich­keit und Tod seine Gedichte “Ende des Herbs­tes” und der berühmte “Herbst­tag” als roter Faden. Pen­der­ecki teilt Ril­kes Auf­fas­sung vom Tod als höhere Stufe des Lebens, die sich in sei­ner Sym­pho­nie wie ein per­sön­li­ches, reli­giö­ses Glau­bens­be­kennt­nis widerspiegelt.
Auch die Lie­der­zy­klen von Ril­kes Freund Ernst Kre­nek und Alois Brö­der stel­len den Pro­zess von Wer­den und Ver­ge­hen als einen Kreis­lauf dar und beto­nen somit Ril­kes ambi­va­len­tes Todes­ver­ständ­nis, wel­che musi­ka­lisch durch Dur- und Moll-Wech­sel und das Gegen­über­stel­len von dyna­mi­schen Kon­tras­ten umge­setzt sind.
Im letz­ten Kapi­tel ihrer Arbeit geht Rie­mer auf die 20(!), jeweils höchst unter­schied­li­che Rilke-Rezep­tio­nen offen­ba­rende Ver­to­nun­gen von Ril­kes Cor­net ein. Unter die­sen nimmt das den Tod als Erlö­sung inter­pre­tie­rende Kon­zert­me­lo­dram des in The­re­si­en­stadt inhaf­tier­ten Vic­tor Ull­mann – nicht nur auf Grund der Umstände – eine Son­der­stel­lung ein.

Jessica Riemers Untersuchung von Rilkes Frühwerk in der Musik ist ein Zeugnis jahrelanger Auseinandersetzung mit dem Dichter, seinen Texten und Rezipienten.
Jes­sica Rie­mers Unter­su­chung von Ril­kes Früh­werk in der Musik ist ein Zeug­nis jah­re­lan­ger Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Dich­ter, sei­nen Tex­ten und Rezipienten.

Jes­sica Rie­mers nahezu enzy­klo­pä­di­sche Arbeit über Rilke und des­sen Rezep­tion stellt nicht nur wegen der inter­dis­zi­pli­när geführ­ten Dar­stel­lung einen Mei­len­stein in der Rilke-For­schung dar. Sie ist Zeug­nis einer jah­re­lan­gen, inten­si­ven und kom­pe­ten­ten Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Dich­ter, sei­nen Tex­ten und Rezi­pi­en­ten, wobei der Pro­zess der suk­zes­si­ven Erhel­lung den Leser aus dem Stau­nen nicht her­aus­kom­men lässt. Ein­drucks­vol­ler lässt sich die Aktua­li­tät, Moder­ni­tät und Zeit­lo­sig­keit von Ril­kes poly­va­lente Deu­tungs­op­tio­nen bie­ten­den Tex­ten nicht untermauern. ♦

Jes­sica Rie­mer: Ril­kes Früh­werk in der Musik, Rezep­ti­ons­ge­schicht­li­che Unter­su­chun­gen zur Todes­the­ma­tik, Uni­ver­si­täts­ver­lag Win­ter, 552 Sei­ten, ISBN 978-3-8253-5698-9


Christian Busch - Glarean MagazinChristian Busch

Geb. 1968 in Düsseldorf/D, Stu­dium der Ger­ma­nis­tik, Roma­nis­tik und Erzie­hungs­wis­sen­schaft an der Uni­ver­si­tät Bonn, jah­re­lange Musik-Erfah­rung in ver­schie­de­nen Chö­ren, arbei­tete als Leh­rer in Frank­reich, Süd­afrika und Spa­nien, lebt in Düsseldorf

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