Monika Rinck: Wirksame Fiktionen (Poetikvorlesungen)

Fiction or Non-Fiction?

von Bernd Giehl

Ich lie­be die­ses Buch. Ich könn­te stun­den­lang dar­in le­sen. Mein ers­ter Gang führt mich nach dem Nach­hau­se­kom­men di­rekt zu ihm. Be­vor ich es öff­ne, streich­le ich es. Und je­des Mal zün­de ich dann den Ka­min an und wer­fe es ins Feu­er. Aber am nächs­ten Tag liegt es wie­der ne­ben mei­nem Le­se­ses­sel: “Wirk­sa­me Fik­tio­nen” von Mo­ni­ka Rinck.

Monika Rinck - Wirksame Fiktionen - Göttinger Poetik-Vorlesungen - Cover - Literatur-Rezension Glarean MagazinFalls Sie jetzt mei­nen, der Au­tor die­ser Re­zen­si­on habe nicht mehr alle Tas­sen im Schrank, könn­ten Sie Recht ha­ben. Könn­te aber auch sein, dass ich mich zu tief auf die­se “Wirk­sa­men Fik­tio­nen” von Mo­ni­ka Rinck ein­ge­las­sen habe, in der die Au­torin gleich zu An­fang die Ge­schich­te ei­nes Man­nes schil­dert, der von der Po­li­zei ver­däch­tigt wur­de, eine Bi­blio­thek in Los An­ge­les in Brand ge­steckt zu ha­ben: “Er ver­wirr­te die Be­hör­den durch ei­nen gan­zen Strauss ein­an­der wi­der­spre­chen­der Aus­sa­gen”. Ich zi­tie­re: “Er war da, er war nicht da. Er war ver­traut mit der Bü­che­rei; er hat­te sie nie­mals in sei­nem Le­ben be­sucht. Er roch an dem be­tref­fen­den Tag nach Rauch, er roch nach gar nichts. Das ein­zi­ge, was aus­ser Fra­ge stand: Har­ry fa­bu­lier­te ger­ne. ‘He finds it dif­fi­cult to give a straight ans­wer‘, one fri­end told investigators.”
Das ist das Ver­fah­ren der mo­der­nen Dich­tung. Sie lässt sich nicht ein­deu­tig auf eine be­stimm­te Aus­sa­ge fest­le­gen. An ers­ter Stel­le be­nutzt sie Me­ta­phern, also Bil­der um die Welt zu be­schrei­ben. “Me­ta­fo­res steht auf den Klein­last­wa­gen grie­chi­scher Trans­port­un­ter­neh­men. Sie trans­por­tie­ren Güter.”

Fragen über Fragen

Monika Rinck - Lyrikerin - Literatur-Dozentin - Glarean Magazin
Die Ly­ri­ke­rin und Li­te­ra­tur-Do­zen­tin Mo­ni­ka Rinck

Und dann, wenn man glaubt, die Aus­sa­ge end­lich halb­wegs ver­stan­den zu ha­ben, kommt eine Sze­ne (Ge­schich­te, Ge­dicht) die al­les wie­der ver­un­klart. “Das Pferd (und das Schiff) wa­ren ver­gleichs­wei­se frü­he Trans­port­mit­tel. Die Do­mes­ti­zie­rung des Pfer­des wird auf das drit­te vor­christ­li­che Jahr­tau­send da­tiert. Das mon­go­li­sche Gross­reich ver­dankt sich mass­geb­lich der or­ga­ni­sier­ten Rei­te­rei. Das Pferd wech­sel­te um ein Säck­chen Ra­di­um den Be­sit­zer. Der Mes­si­as be­trach­te­te dies in lo­cke­rer Garderobe.”
Wur­de Ra­di­um nicht erst 1898 von Ma­rie Cu­rie ent­deckt? Was kann es da mit dem Reich von Dschin­gis Khan (12./13.Jahrhundert) zu tun ha­ben? Und was hat – bit­te – der Mes­si­as mit all dem zu tun?
Fra­gen über Fra­gen. Man kann sich in ih­nen ver­lie­ren. Aber heu­te nicht. Heu­te müs­sen wir wei­ter. Wir wol­len ja schliess­lich ir­gend­wo an­kom­men. Nur wo, das ist noch die Fra­ge. An ei­ner Gren­ze viel­leicht? – Schon an die­sem Bei­spiel merkt man, dass Mo­ni­ka Rinck Ly­ri­ke­rin ist. Eine sehr be­kann­te zu­dem. Ly­ri­ker tun so et­was. Sie ver­bin­den Be­grif­fe aus weit von­ein­an­der ent­fern­ten Zu­sam­men­hän­gen mit­ein­an­der und kom­men da­durch (manch­mal) zu über­ra­schen­den Erkenntnissen.

Ein gelahrtes Buch

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Es ist schon ein ge­lahr­tes Buch, ge­schätz­ter Le­ser, und wenn du jetzt glaubst, du ha­best dich ver­le­sen, denn da müs­se “ge­lehrt ste­hen, dann hast du dich lei­der ge­täuscht. Es zi­tiert ei­ni­ge Ge­lehr­te, die sich mit der Theo­rie des Ge­dichts aus­ein­an­der­ge­setzt ha­ben, von Pla­ton über He­gel bis Käte Ham­bur­ger (1996-1992), und eben­so kom­men Ly­ri­ker des 21. Jahr­hun­derts zu Wort.
Wor­um also geht es? Vor­der­grün­dig um die Fra­ge, ob Ge­dich­te “Fik­ti­on” sei­en, oder ob sie eher “Non-Fic­tion” sind und da­mit ins Sach­buch-Re­gal ge­hö­ren. Mo­ni­ka Rinck ten­diert zu “Non Fic­tion” und nimmt dazu ei­nen ei­gen­ar­ti­gen Be­griff von “Fik­ti­on” zu Hil­fe: Der Be­griff lei­te sich von (la­tei­nisch) “fin­ge­re” ab und be­deu­te “Täu­schung”. Da­bei be­zieht sie sich auf die schon er­wähn­te Käte Hamburger.
Ge­wiss: Ro­ma­ne und Er­zäh­lun­gen bil­den die Wirk­lich­keit nicht im Mass­stab 1:1 ab; sie bil­den sie neu (manch­mal mehr, manch­mal we­ni­ger), aber ist das “Täu­schung”? Er­zäh­len­de Pro­sa steht m.E. eben­so in ei­ner Be­zie­hung zur Wirk­lich­keit wie Ly­rik, nur dass die­se Be­zie­hung in der Ly­rik schwe­rer zu grei­fen ist, weil Ly­rik viel­deu­ti­ger ist.
Aber so ge­nau ist die Fra­ge wohl nicht zu ent­schei­den, und Mo­ni­ka Rinck, die­se ge­nia­le Spie­le­rin, tut selbst al­les, um sie in der Schwe­be zu hal­ten. Nicht zu­letzt da­durch, dass sie ver­schie­de­ne Leit­mo­ti­ve – z.B. das Säck­chen mit Ra­di­um, das Mo­tiv des be­schä­dig­ten Kes­sels oder das der bren­nen­den Bi­blio­thek – wie­der und wie­der er­wähnt, mit­ein­an­der ver­mischt. Und auf Sei­te 43 fragt sie sich, ob die Fra­ge von Wahr­heit und Lüge das Fik­tio­na­le nicht ge­nau so be­trifft wie das Do­ku­men­ta­ri­sche, also Nicht-Fiktionale.

Die Grenze als Metapher…

Zaun - Grenzen - Glarean Magazin
Die “Gren­ze” als ly­ri­sche Metapher

Man wird von die­sem Buch kei­ne end­gül­ti­gen Ant­wor­ten er­war­ten kön­nen. Dazu ist es viel zu spie­le­risch an­ge­legt. Es ar­bei­tet nicht wis­sen­schaft­lich, also nicht mit Ar­gu­ment und Ge­gen­ar­gu­ment und Ent­kräf­tung des Ge­gen­ar­gu­ments, son­dern es springt von ei­ner As­so­zia­ti­on zur nächs­ten, ohne da­bei den ro­ten Fa­den aus­ser Acht zu lassen.
Ein wich­ti­ges The­ma ist die “Gren­ze” als Me­ta­pher, aber eben­so als (oft grau­sa­me) Wirk­lich­keit, die Men­schen dar­an hin­dert, in ein an­de­res Land zu kom­men. Na­tür­lich ist in den letz­ten Jah­ren die “Gren­ze” im­mer mehr zum The­ma ge­wor­den, sei es das Mit­tel­meer, das Eu­ro­pa von den Län­dern des Sü­dens trennt, oder sei es die zwi­schen Me­xi­ko und den USA. Wo Do­nald Trump gern eine Mau­er bau­en wür­de, wenn man ihn nur liesse.

… und das Gedicht als Politikum

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Ob die Gren­ze The­ma von Ge­dich­ten sein soll­te? Mo­ni­ka Rinck be­jaht dies ve­he­ment und zi­tiert auch ein Ge­dicht von Wen­dy Tre­vi­no, ei­ner in San Fran­cis­co le­ben­den Au­torin. Bei ihr wie auch bei an­de­ren, zum Teil im Exil le­ben­den Au­toren, mit de­nen Rinck sich ver­bun­den fühlt und die sie zum Teil auch ins Deut­sche über­setzt hat, wird dann klar, was die Au­torin mit “Non Fic­tion” meint: es sind Ge­dich­te, die ve­he­ment po­li­tisch sind.
Ich den­ke, in die­se Rich­tung geht es. Mo­ni­ka Rincks Be­griff von “Fic­tion” (also er­zäh­len­der Pro­sa) scheint mir et­was ein­sei­tig; vor al­lem von ame­ri­ka­ni­schen Se­ri­en bei “Net­flix” ge­prägt, wo es vor al­lem um Ge­walt als Selbst­zweck geht, wäh­rend Ge­dich­te ih­rer Mei­nung nach eher die gan­ze Wirk­lich­keit ab­bil­den. So sub­jek­tiv sie auch sein mag; so schliesst sie doch auch das ein, wo­vor wir oft ge­nug die Au­gen verschliessen. ♦

Mo­ni­ka Rinck: Wirk­sa­me Fik­tio­nen, Göt­tin­ger Lich­ten­berg-Poe­tik­vor­le­sun­gen 2019, 102 Sei­ten, Wall­stein Ver­lag, ISBN 978-8353-3555-4

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