Regine Schricker: Ohnmachtsrausch und Liebeswahn

Von der weiblichen Lust am Liebesleid

von Sigrid Grün

Schon be­vor der deut­sche Psych­ia­ter und Rechts­me­di­zi­ner Ri­chard von Krafft-Ebing den Be­griff des Ma­so­chis­mus, der sich auf den ös­ter­rei­chi­schen Schrift­stel­ler Leo­pold von Sa­cher-Ma­soch be­zieht, in den wis­sen­schaft­li­chen Dis­kurs ein­führ­te, be­schrie­ben zahl­rei­che Au­toren Frau­en, die eine ge­wis­se Lust an der Un­ter­wer­fung und am Lei­den in der Lie­be emp­fan­den. So­wohl Goe­the als auch die Ge­schwis­ter Bron­te oder Na­tha­ni­el Hawt­hor­ne be­schrie­ben sol­che Fi­gu­ren. Eine neue Un­ter­su­chung „Ohn­machts­rausch und Lie­bes­wahn“ von Re­gi­ne U. Schri­cker wid­met sich ex­pli­zit dem weib­li­chen Ma­so­chis­mus in Li­te­ra­tur und Film.

Be­son­ders po­pu­lär wur­de die Dar­stel­lung der in Leid um­ge­schla­ge­nen Lei­den­schaft im 20. und 21. Jahr­hun­dert. Dies hat nicht zu­letzt mit der „por­no­gra­phi­ca­ti­on of the main­stream“ zu tun, die Bri­an McN­air und Su­s­an Son­tag Mit­te der 1990er Jah­re pos­tu­lier­ten. In ei­ner Zeit, in der Se­xua­li­tät nicht „glück­lich, son­dern al­len­falls süch­tig“ macht (Ge­org Se­ess­len) und die me­dia­le Dar­stel­lung nack­ter Kör­per nicht mehr un­ge­wöhn­lich, son­dern ganz all­täg­lich ist, er­scheint der Sa­do­ma­so­chis­mus als in­ter­es­san­tes „Lust­erleb­nis“.

Kulturelle Besetzung der weiblichen Unterwerfung

Regine U. Schricker: Ohnmachtsrausch und Liebeswahn - Weiblicher Masochismus in Literatur und Film des 20. und 21. JahrhundertsDie Au­torin Re­gi­ne U. Schri­cker nä­hert sich in ih­rer Dis­ser­ta­ti­on „Ohn­machts­rausch und Lie­bes­wahn“ dem The­ma „Weib­lich­keit und Ma­so­chis­mus“ an, wo­bei sie der Fra­ge nach­spürt, wie „weib­li­che Un­ter­wer­fung kul­tu­rell be­setzt ist“, und wie die me­dia­le In­sze­nie­rung von­stat­ten geht. Da­bei ana­ly­siert sie fik­tio­na­le li­te­ra­ri­sche und fil­mi­sche Tex­te des 20. und 21. Jahr­hun­derts (aus den Jah­ren 1954-2004). Vor al­lem nord­ame­ri­ka­ni­sche, fran­zö­si­sche und deutsch­spra­chi­ge Tex­te wer­den her­an­ge­zo­gen. Den Text­ana­ly­sen stellt die Au­torin ei­nen ein­lei­ten­den Teil vor­an, in dem sie zu­nächst ein Theo­rie­ge­bäu­de ent­wirft, in dem psy­cho­ana­ly­ti­sche, li­te­ra­ri­sche, fe­mi­nis­ti­sche und re­zep­ti­ons­theo­re­tisch aus­ge­rich­te­te Dis­kur­se be­rück­sich­tigt wer­den. Aus­ge­hend von Ri­cahrd von Krafft-Ebings, Sig­mund Freuds und Theo­dor Reiks psy­chona­ly­ti­schen Ar­bei­ten zeigt die Au­torin auf, wie Ma­so­chis­mus und Weib­lich­keit in Re­la­ti­on zu­ein­an­der ge­stellt wer­den können.

„Ve­nus im Pelz“: Sado-ma­so­chis­ti­sche Il­lus­tra­ti­on von Franz von Bayros

Sehr in­ter­es­sant ist auch die Ana­ly­se von „Ve­nus im Pelz“, Leo­pold von Sa­cher-Ma­sochs No­vel­le, in der ein männ­li­cher Ma­so­chist im Zen­trum der Dar­stel­lung steht. Schliess­lich geht Re­gi­ne Schri­cker der Fra­ge nach, ob der Ma­so­chis­mus eine spe­zi­fisch weib­li­che An­ge­le­gen­heit sei, wie es etwa die Kon­zep­te der Psy­cho­ana­ly­ti­ke­rin­nen He­le­ne Deutsch, Ma­rie Bo­na­par­te und Jean­ne Lampl-de Groot nahe le­gen. Wel­che Po­si­tio­nen sind im fe­mi­nis­ti­schen Dis­kurs vor­herr­schend? Und wel­che Rol­le spielt der weib­li­che Ma­so­chis­mus in der fe­mi­nis­ti­schen Film- und Literaturtheorie?

Der weibliche Masochismus im Feminismus

Im Haupt­teil der Ar­beit wid­met sich die Au­torin dann aus­führ­lich elf li­te­ra­ri­schen und fil­mi­schen Tex­ten, die sie nach un­ter­schied­li­chen Kri­te­ri­en zu­sam­men­fasst. Luis Bunu­els Film „Bel­le de jour“ aus dem Jah­re 1967 und Rai­ner Wer­ner Fass­bin­ders Fern­seh­film „Mar­tha“ aus dem Jahr 1974 etwa set­zen sich in­ten­siv mit dem Bür­ger­tum und sei­nen Ab­grün­den aus­ein­an­der. Der voy­eu­ris­ti­sche weib­li­che Blick wird an­hand von Da­vid Lynchs Film „Blue Vel­vet“ (1986) und El­frie­de Je­lin­eks Ro­man „Die Kla­vier­spie­le­rin“ (1983) thematisiert.

Inszenierung der Zerstörung weiblicher Körper: Szenen-Foto aus "Histoire d'O"
In­sze­nie­rung der Zer­stö­rung weib­li­cher Kör­per: Sze­nen-Foto aus „His­toire d’O“

In den Ana­ly­sen von Eliza­beth McN­eills Er­zäh­lung „Nine and a Half Weeks“ von 1978 (spä­ter sehr er­folg­reich von Adri­an Ly­nes mit Kim Ba­sin­ger in der Haupt­rol­le ver­filmt) und von In­ge­borg Bach­manns 1971 er­schie­ne­nem Ro­man „Ma­li­na“ wird schliess­lich der Zu­sam­men­hang von Sprach­lo­sig­keit und Be­geh­ren in den Mit­tel­punkt ge­stellt. Wie weib­li­che (zer­stör­te) Kör­per in­sze­niert wer­den, kann man gut an­hand von Pau­li­ne Re­ages Ro­man „Ge­schich­te der O“ (1954) und Ma­ri­na de Vans Film „In My Skin“ (2002) nach­voll­zie­hen. Re­li­giö­se Op­fer ste­hen in Lars von Triers „Brea­king the Wa­ves“ (1996) und in M. Night Shya­mal­ans „The Vil­la­ge“ (2004) im Mit­tel­punkt. Zu­letzt geht es um den Co­ming-out-Film ei­ner Ma­so­chis­tin, Ste­ven Shain­bergs „Se­cre­ta­ry“ von 2002.

Gut gegliederte Untersuchung

Regine Schricker: Ohnmachtsrausch und Liebeswahn
Die neue Stu­die „Ohn­machts­rausch und Lie­bens­wahn“ von Re­gi­ne Schri­cker bie­tet fun­dier­te Ana­ly­sen zahl­rei­cher li­te­ra­ri­scher und fil­mi­scher Tex­te, die man nach der Lek­tü­re die­ses Bu­ches neu le­sen kann. Mit ih­rer Ar­beit sen­si­bi­li­siert sie für ein The­ma, das in den Me­di­en eine im­mer wich­ti­ge­re Rol­le spielt. Sprach­lich klar und in­halt­lich ge­halt­voll bie­tet die Au­torin dem Le­ser eine sehr gute Mög­lich­keit, sich aus­führ­lich mit ei­nem span­nen­den The­ma aus­ein­an­der zu setzen.

Re­gi­ne U. Schri­cker geht dem Phä­no­men des weib­li­chen Ma­so­chis­mus in der Li­te­ra­tur und im Film sehr ein­ge­hend nach und zeigt fun­diert die ver­schie­de­nen An­sät­ze auf, die hin­ter der Deu­tung des Zu­sam­men­han­ges von Weib­lich­keit und Ma­so­chis­mus ste­cken. Wel­che Rol­le spielt eine la­bi­le Per­sön­lich­keits­struk­tur? Was be­deu­tet die Dar­stel­lung des weib­li­chen Ma­so­chis­mus für die weib­li­che Iden­ti­tät? Re­gi­ne Schri­ckers Buch ist sehr gut ge­glie­dert, und ih­ren wis­sen­schaft­li­chen Aus­füh­run­gen lässt sich her­vor­ra­gend folgen. ♦

Re­gi­ne U. Schri­cker, Ohn­machts­rausch und Lie­bes­wahn – Weib­li­cher Ma­so­chis­mus in Li­te­ra­tur und Film des 20. und 21. Jahr­hun­derts, 236 Sei­ten, Königshausen&Neumann Ver­lag, ISBN 9783826045165

Le­sen Sie im Glarean Ma­ga­zin zum The­ma „Frau­en in der Li­te­ra­tur“ auch über: Lie­bes­brie­fe be­rühm­ter Frau­en (An­tho­lo­gie)
… so­wie zum The­ma Psy­chi­sche Ab­hän­gig­keit über den Sek­ten-Re­port von Ur­su­la Ca­ber­ta: Schwarz­buch Scientology
aus­ser­dem im Glarean Ma­ga­zin zum The­ma Fe­mi­nis­mus: Glei­ches Recht für alle

Ein Kommentar

  1. Über die Re­gel- und An­spruchs­spra­che der Mut­ter wird nie­mand das töd­li­che Ma­so­chis­mus­pro­blem al­ler Men­schen lö­sen, denn wenn es dem ei­nen lust­voll schmerzt, dann sind plötz­lich die an­de­ren die Übel­tä­ter und die Bö­sen. Ich lös­te dies Pro­blem un­miss­ver­ständ­lich mit Geist, so­dass nie­mand mehr, der die­sen ernst­haft und selbst den­kend an­nimmt, von sei­nem Ma­so­chis­mus (den nie­mand be­mer­ken soll) ge­trie­ben vergreist.

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