Guy Wagner: Die Heimkehr (Roman)

Leben als Schlüssel zum Werk

von Chris­ti­an Busch

Über dem Saal liegt eine atem­lo­se Span­nung. In die Stil­le hin­ein lau­schen Men­schen den ver­klin­gen­den Strei­cher­tö­nen, hie und da schluch­zen die Cel­li, seufzt ein Fa­gott, die Stil­le durch­bre­chend. Er­schüt­te­rung macht sich breit. In düs­ters­ten Klang­far­ben voll Trau­er und Re­si­gna­ti­on voll­zieht sich im letz­ten Auf­bäu­men der schmerz­vol­le To­des­kampf bis zum un­aus­weich­li­chen Ende, der Auf­lö­sung im Ada­gis­si­mo und Pia­nis­si­mo. Weh­mü­ti­ger Ab­schied von der Erde, der ge­lieb­ten Natur.

Am Schluss steigt Gna­de auf: eine Vi­si­on himm­li­schen Le­bens, der Blick ins Jen­seits, die Er­lö­sung? Das Ende von Gus­tav Mahlers Neun­ter, der letz­ten voll­ende­ten Sym­pho­nie, erst nach sei­nem Tod 1912 von Bru­no Wal­ter (“…der Schluss gleicht dem Ver­flies­sen der Wol­ke in das Blau des Him­mels­rau­mes”) ur­auf­ge­führt, lässt die Zu­hö­rer­schaft in höchs­ter Be­trof­fen­heit zu­rück: ein ma­gi­scher Mo­ment der Wahr­haf­tig­keit und Ent­rü­ckung. Das muss man er­lebt haben.

Mahler-Musik rührt an innerste Sehnsüchte

Guy Wagner: Die Heimkehr - Vom Sterben und Leben des Gustav Mahler - Rombach Verlag100 Jah­re nach sei­nem Tod ha­ben die Wer­ke von Gus­tav Mahler nichts von ih­rer Ak­tua­li­tät und Wir­kung auf den mo­der­nen Men­schen ein­ge­büsst, schei­nen mehr als zu­vor un­se­re in­ners­ten Ängs­te und Sehn­süch­te zu be­rüh­ren. Wo­her kom­me ich? Wo­hin gehe ich? War­um ist das Le­ben so leid­voll? Wie schwer ist mei­ne Krank­heit? Wo­für lebe ich? Wie gehe ich mit mei­ner Angst vor dem Tod um? Wo fin­de ich Trost, Gna­de oder gar Er­lö­sung? Grün­de ge­nug, den tö­nen­den Kos­mos des letz­ten gros­sen Sym­pho­ni­kers in Wor­te zu fas­sen und sich mit sei­nem Le­ben und Werk aus­ein­an­der zu set­zen, wie dies Guy Wag­ner in sei­nem Ro­man “Die Heim­kehr” ge­tan hat.

Guy Wagner - Glarean Magazin
Guy Wag­ner

Am 8. April 1911 bricht der schwer­kran­ke Gus­tav Mahler zu sei­ner letz­ten gros­sen Rei­se von New York über Paris/Neuilly nach Wien auf. Die – ta­ge­buch­ar­tig pro­to­kol­lier­ten – letz­ten 40 Tage schil­dern (im­mer wie­der un­ter­bro­chen durch Rück­blen­den, Brie­fe, Aus­sa­gen von Zeit­zeu­gen und Ver­wei­se auf sein Werk) sei­ne Heim­kehr nach Wien, wo der Tod­kran­ke sei­ne letz­te Zu­flucht­stät­te sucht. “Da zie­hen die blas­sen Ge­stal­ten mei­nes Le­bens wie der Schat­ten längst ver­gan­ge­nen Glücks an mir vor­über, und in mei­nen Oh­ren er­klingt das Lied der Sehn­sucht wie­der.” Wie ein Film zieht sein Le­ben noch ein­mal in sei­nen Hö­hen und Tie­fen an ihm vor­über, bis er am 18. Mai im Al­ter von 50 Jah­ren an ei­ner un­heil­ba­ren bak­te­ri­el­len Herz­er­kran­kung in Wien stirbt, End­sta­ti­on ei­nes von vie­len Zwei­feln, An­fein­dun­gen, Schick­sals­schlä­gen und ei­ni­gen we­ni­gen Tri­um­phen und Stun­den des Glücks ge­präg­ten Lebens.

Krankheits- und Lebensgeschichte kontrastierend dargestellt

Musikgewordenes Schicksal: Gustav Mahler (Totenmaske)
Mu­sik­ge­wor­de­nes Schick­sal: Gus­tav Mahler (To­ten­mas­ke)

Nicht erst die tie­fen­psy­cho­lo­gi­sche Ana­ly­se von Sieg­mund Freud hat­te die Fra­ge auf­ge­wor­fen: War die pro­ble­ma­ti­sche Ver­bin­dung mit Alma (“Ach Alm­schi­li!”) rich­tig? Jene fast 20 Jah­re jün­ge­re, höchst at­trak­ti­ve Toch­ter ei­nes Wie­ner Ma­lers, de­ren Le­bens­freu­de ihn, den Hof­opern­di­rek­tor auf dem Gip­fel sei­ner Kar­rie­re, be­seel­te und der er mit dem Ada­giet­to aus der Fünf­ten eine Lie­bes­er­klä­rung mach­te; die er sich – in sei­ner kör­per­li­chen De­fi­zi­enz und im Hin­blick auf sei­ne Kunst und Auf­ga­ben – zu bän­di­gen ge­zwun­gen sah. So­gar das Kom­po­nie­ren ver­bot er ihr. Darf es ihn da wun­dern und schmer­zen, wenn sie sich – und nicht zum ers­ten Mal – zu ei­nem jün­ge­ren (Wal­ter Gro­pi­us) hin­ge­zo­gen fühlt?

Was bedeuten die Hammerschläge in der Sechsten?

Er­in­ne­run­gen wer­den wach an die Ur­auf­füh­run­gen sei­ner Wer­ke, in de­nen Mahler ge­lebt hat wie kein zwei­ter (“Er­fah­re­nes und Er­lit­te­nes… Wahr­heit und Dich­tung in Tö­nen”), be­son­ders an die tri­um­pha­le Auf­füh­rung der Ach­ten Sym­pho­nie in Mün­chen (1’000 Mit­wir­ken­de), wo er vor il­lus­trem und zahl­rei­chem Pu­bli­kum ei­nen strah­len­den Er­folg er­lebt – war­um gab es von die­sem Mo­men­ten so we­ni­ge? Was bleibt von der Lie­be zur Erde und den Men­schen in all die­sen Macht­kämp­fen, po­li­ti­schen In­tri­gen und an­ti­se­mi­ti­schen Hetz­kam­pa­gnen – vor al­lem in der fei­nen Wie­ner Hof­ge­sell­schaft – üb­rig? Was be­deu­ten die Ham­mer­schlä­ge in sei­ner Sechs­ten Sym­pho­nie, die Schick­sals­schlä­ge, die ihn er­ei­len? Sei­ne Herz­schwä­che, das Fremd­ge­hen von Alma, der grau­sa­me Tod sei­nes Kin­des Put­zi (Kin­der­to­ten­lie­der), “war­um?”.
In Guy Wag­ners kon­se­quent Krank­heits- und Le­bens­ge­schich­te sym­me­trisch kon­tras­tie­ren­der Dar­stel­lung ge­lingt weit mehr als nur ein bio­gra­phi­scher Ro­man: eine sorg­fäl­ti­ger Spie­gel der Jahr­hun­dert­wen­de. Der Stand der Me­di­zin, Dua­lis­mus, Ju­gend­stil, Neo­ro­man­tik, Ex­pres­sio­nis­mus, Psy­cho­ana­ly­se, ab­so­lu­te Mu­sik und An­ti­se­mi­tis­mus fin­den ih­ren Nie­der­schlag in der Spra­che der zu Wort kom­men­den Per­so­nen, nicht zu­letzt der Spra­che der häu­fig zi­tier­ten Wer­ke Mahlers. Par­al­lel dazu wer­den die Frau­en­be­zie­hun­gen, die Sta­tio­nen sei­ner Kar­rie­re bis zu den Wur­zeln sei­ner fa­mi­liä­ren Her­kunft (die lei­den­de Mut­ter, der bru­ta­le Va­ter, die ster­ben­den Ge­schwis­ter) sichtbar.

Mahlers Leben als Schlüssel zum Verständnis des Werks

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Mahlers Le­ben als Schlüs­sel zum Ver­ständ­nis sei­nes um­fang­rei­chen Oeu­vres in sei­nen we­sent­li­chen Etap­pen und Sta­tio­nen, Er­fol­gen und Tra­gö­di­en zum Le­ben zu er­we­cken, dies hat Guy Wag­ner in sei­nem jüngst er­schie­ne­nen, 350 Sei­ten um­fas­sen­den Ro­man “Die Heim­kehr” mit Do­ku­men­ten-Col­la­ge auf ori­gi­nel­le, sehr dich­te und um­fas­sen­de Wei­se geschafft.

Mahlers Le­ben als Schlüs­sel zum Ver­ständ­nis sei­nes um­fang­rei­chen Oeu­vres in sei­nen we­sent­li­chen Etap­pen und Sta­tio­nen, Er­fol­gen und Tra­gö­di­en zum Le­ben zu er­we­cken, dies hat Guy Wag­ner in sei­nem jüngst er­schie­ne­nen, 350 Sei­ten um­fas­sen­den Ro­man mit Do­ku­men­ten-Col­la­ge auf ori­gi­nel­le, sehr dich­te und um­fas­sen­de Wei­se ge­schafft. Wag­ner zeich­net Mahler da­bei nicht als den Pro­to­typ ei­ner de­ka­den­ten Künst­ler­exis­tenz, wie sie durch Tho­mas Manns be­rühm­te No­vel­le “Der Tod in Ve­ne­dig” (1911) und auch spä­ter durch Luch­i­no Vis­con­tis kon­ge­nia­le Ver­fil­mung der­sel­ben – un­ter­malt durch Mahlers Drit­te und Fünf­te – ge­nährt wur­de, son­dern als den ei­gen­stän­di­gen, sich ra­di­kal zu sei­ner In­di­vi­dua­li­tät be­ken­nen­den Künst­ler. Es bleibt mehr als eine Ah­nung von dem, “in wel­che Hän­de die ge­nia­le Ver­an­la­gung ei­nes jun­gen Men­schen ge­legt war, und was im Lau­fe die­ses Le­bens das Ge­nie noch wer­de er­lei­den müs­sen.” (Na­tha­lie Bauer-Lechner) ♦

Guy Wag­ner, Die Heim­kehr – Vom Ster­ben und Le­ben des Gus­tav Mahler, Rom­bach Ver­lag, 350 Sei­ten, ISBN 978-3-7930-9665-8

Le­sen Sie im Glarean Ma­ga­zin auch über Alex­an­der Jo­els In­ter­pre­ta­ti­on von Mahlers 1. Sym­pho­nie (Der Ti­tan): „Luf­tig-lu­zi­der Orchesterklang“

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