John Boyne: Das Haus zur besonderen Verwendung (Roman)

Bauernsohn und Zarentochter

von Günter Nawe

Es war sicher nicht die Absicht von John Boyne, den vie­len Legen­den um Tod und/oder Über­le­ben der Gross­fürs­tin Zarewna Ana­sta­sia von Russ­land (Ana­sta­sia Niko­la­jewna Roma­nowa), der jüngs­ten Toch­ter des letz­ten rus­si­schen Zaren­paa­res, eine wei­tere hin­zu­zu­fü­gen. Der eng­li­sche Schrift­stel­ler, Autor des inter­na­tio­nal gerühm­ten Romans “Der Junge im gestreif­ten Pyjama” hat aller­dings die Zaren­toch­ter zu einer der Haupt­fi­gu­ren sei­nes neuen Buches “Daus Haus zur beson­de­ren Ver­wen­dung” gemacht.
Er hat kein Sach­buch dar­über geschrie­ben, son­dern Lite­ra­tur. Und das in Form, wenn man so will, eines Lie­bes­ro­mans?  Nein, auch das nicht, son­dern eher die Bio­gra­phie einer Liebe und einer Ehe in unru­hi­gen Zei­ten und unter schwie­ri­gen Bedin­gun­gen. Auf kei­nen Fall – und das freut –  keine neue Legende.

John Boyne - Das Haus zur besonderen Verwendung - Roman - Cover - Glarean MagazinDie Geschichte  spielt vor dem Hin­ter­grund der Gescheh­nisse in Russ­land in den Jah­ren 1915 bis 1918. Der sech­zehn­jäh­rige Bau­ern­sohn Georgi aus dem gott­ver­las­se­nen Nest Kaschin ver­hin­dert ein Atten­tat auf ein Mit­glied der Zaren­fa­mi­lie. Dabei setzt er das Leben sei­nes Freun­des aufs Spiel. Das Gefühl der Schuld wird ihn für den Rest sei­nes Lebens beglei­ten. Als Dank jedoch wird Georgi an den Zaren­hof nach Sankt Peters­burg geru­fen und Leib­wäch­ter des Zare­witsch. Hier lernt er auch die Zaren­toch­ter Ana­sta­sia ken­nen und lie­ben. Eine Liebe auf den ers­ten Blick – von bei­den Seiten.

Geschichte einer unmöglichen Liebe

John Boyne - Glarean Magazin
John Boyne (Geb. 1971)

Ein Bau­ern­sohn und die Zaren­toch­ter? Kann das etwas wer­den? Manch­mal am Rande des Rühr­se­lig-Tri­via­len erzählt John Boyne sou­ve­rän diese Geschichte einer unmög­li­chen Liebe. Fik­tion und Rea­li­tät ergän­zen ein­an­der. So ver­mit­telt der Autor inter­es­sante Ein­bli­cke in das Leben am Hofe. Die poli­ti­schen Ver­hält­nisse um den ers­ten Welt­krieg herum, um die Okto­ber­re­vo­lu­tion und die Abset­zung des Zaren und die Ermor­dung der gan­zen Fami­lie durch die Bol­sche­wiki wer­den aller­dings nur angedeutet.

Liebesgeschichte inmitten Kriegswirren: Eisensteins Film-Sequenz
Lie­bes­ge­schichte inmit­ten Kriegs­wir­ren: Eisen­steins Film-Sequenz “Sturm auf das Win­ter-Palais des Zaren”

Sie aber sol­len auch nicht im Mit­tel­punkt der Erzäh­lung ste­hen. Geschickt kon­stru­iert und aus wech­seln­den Zeit­per­spek­ti­ven wird ein ande­res Gesche­hen erzählt. Mit der Abset­zung des Zaren ist auch der Kon­takt der bei­den Lie­ben­den unter­bro­chen. Die Zaren­fa­mi­lie wird nach Jeka­te­rin­burg ver­schleppt – in das berühmte “Haus zur beson­de­ren Ver­wen­dung”, ins Ipat­jew-Haus. Hier wird Georgi Zeuge der Ermor­dung der Zaren­fa­mi­lie. Nur Ana­sta­sia wird in einer dra­ma­ti­schen Aktion geret­tet – von Georgi.

Routiniert geschrieben, spannend erzählt

Mit der Flucht von Georgi und Soja – so nennt sich die Zaren­toch­ter jetzt – über Paris nach Lon­don beginnt sozu­sa­gen ein neues Leben. Sie hei­ra­ten, müs­sen mit den Unzu­läng­lich­kei­ten des Exils fer­tig­wer­den, bekom­men Kin­der. Krank­heit und Ver­lust der Toch­ter müs­sen ver­ar­bei­tet wer­den, beruf­li­che und finan­zi­elle Schwie­rig­kei­ten sind zu über­win­den  Im Mit­tel­punkt und über allem aber steht die grosse Liebe, die durch nichts beein­träch­tigt wer­den kann.  Bis Soja 1981 stirbt. Ihr Geheim­nis nimmt sie mit ins Grab.

John Boynes
John Boy­nes “Das Haus zur beson­de­ren Ver­wen­dung” ist die Roman­bio­gra­fie einer Liebe und Ehe in unru­hi­gen Zei­ten und unter schwie­ri­gen Bedin­gun­gen. Viel Fik­tion und wenig his­to­ri­sche Fak­ten – doch John Boyne ist es gelun­gen, einen span­nen­den und fan­ta­sie­vol­len Roman zu schrei­ben. Ein­fach gute Unterhaltung.

Mit der Benen­nung genauer Jah­res­zah­len, auch für den fik­ti­ven Bereich der Erzäh­lung, will John Boyne his­to­ri­sche Authen­ti­zi­tät ver­mit­teln. Das jedoch ist ein wenig Eti­ket­ten­schwin­del. Den Leser aber wird dies letzt­lich nicht inter­es­sie­ren. Hat er doch einen rou­ti­niert geschrie­be­nen, span­nen­den und sehr fan­ta­sie­vol­len Roman, von Fritz Schnei­der bes­tens über­setzt, vor sich, der ihn mit Sicher­heit von der ers­ten bis zur letz­ten Seite in Atem hal­ten, ja am Ende sogar etwas rüh­ren wird. Die Lie­bes­ge­schichte vom Bau­er­sohn und der Zaren­toch­ter: ein Stoff, aus dem Träume entstehen. ♦

John Boyne, Das Haus zur beson­de­ren Ver­wen­dung, Roman, 560 Sei­ten, Arche/Piper Ver­lag, ISBN 978-3-71602-642-7

Lesen Sie im Glarean Maga­zin zum Thema “Rus­si­scher Zaren­hof” auch über den Roman “gross­fürs­tin Anna” (The­rese Bichsel)

aus­ser­dem im GLAREAN über Jes­sica Andrews: Und jetzt bin ich hier (Roman)

Ein Kommentar

  1. das buch hat mich sehr berührt, zumal ich auf einer russ­land­reise-mei­ner drit­ten- vorher
    den “zaren­mord ” und t.botkin “erin­ne­run­gen an die zaren­fa­mi­lie” gele­sen hatte. man glaubt zu gerne die­sem roman, daß wenigs­tens eine über­lebt hat und in so lie­be­volle hände gekom­men ist. ich finde die welt hat sich auch schul­dig gemacht, daß diese familie
    ein­fach aus­ge­rot­tet wurde. inter­es­sant ist der zeit­li­che auf­bau. zusam­men­lau­fend glaubt man eigent­lich nicht, was sich anspinnt.ich bin keine große lese­rin, aber nach die­sen 570 sei­ten fand ich es schade, daß ein buch zuende war.

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