Khaled Khalifa: Keiner betete an ihren Gräbern (Roman)

Freundschaft über Religionsgrenzen hinweg

von Sigrid Grün

70 Jahre syri­sche Geschichte erzählt der 1964 in Aleppo gebo­rene Autor Kha­led Kha­lifa. Er ist wäh­rend des Krie­ges in Damas­kus geblie­ben und publi­zierte seine Werke im Aus­land, um der Zen­sur zu ent­ge­hen. In “Kei­ner betete an ihren Grä­bern” erzählt er von der sym­bol­träch­ti­gen Freund­schaft über Reli­gi­ons­gren­zen hin­weg und berich­tet von der Geschichte eines Lan­des, das zunächst Teil des Osma­ni­schen Rei­ches war, anschlie­ßend unter fran­zö­si­scher Kon­trolle stand und 1946 schließ­lich voll­stän­dig unab­hän­gig wurde.

Keiner betete an ihren Gräbern - Khaled Khalifa - Roman1907: Der Euphrat ist über die Ufer getre­ten und die Über­schwem­mung zer­stört das Dorf Hosch Hanna bei Aleppo. Nur wenige Men­schen über­le­ben die Flut­ka­ta­stro­phe. Als der Groß­grund­be­sit­zer Hanna Gre­go­rus und der Pfer­de­züch­ter Zaka­ria Baya­zidi aus der Zita­delle, die zu einem pri­va­ten Freu­den­haus umfunk­tio­niert wurde, in ihr Dorf zurück­keh­ren, müs­sen sie den Tod ihrer Kin­der und den Ver­lust ihres Eigen­tums ver­kraf­ten. Auch Han­nas Frau Jose­phine ist ertrun­ken. Hanna und Zaka­ria blie­ben auf­grund ihrer Ver­gnü­gungs­sucht verschont.

Sündiger Lebensstil

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Hanna stellt sich die Frage, ob das die Strafe Got­tes für den sün­di­gen Lebens­stil ist, dem er und sein Freund frön­ten: “Hanna fühlte sich wie ein Kind, das gerade in ein ande­res Leben ohne Ver­gan­gen­heit hin­ein­ge­bo­ren wor­den war. Eine neue, unbe­schrie­bene Seite, die die Erin­ne­rung an ein Leben vol­ler Tru­bel, Ver­gnü­gun­gen und Schmer­zen hin­ter sich ließ, das nun sein Ende gefun­den hatte. Er fühlte sich schul­dig und sehnte sich nach sei­nem Sohn und dem Gesicht sei­ner lie­ben Frau, die ein Leben an sei­ner Seite ertra­gen hatte.”
Zaka­ria, der sei­nen Freund in einem der­art ver­ängs­tig­ten Zustand nicht ertra­gen kann, hilft bei der Bestat­tung der Toten mit: “Die Grä­ber der Chris­ten lagen in einer Reihe neben denen der Mus­lime, dane­ben in einer gera­den drit­ten Reihe die Grä­ber der Unbe­kann­ten und Fremden.”

Christlich-muslimisch-jüdische Freundschaft

Khaled Khalifa
Kha­led Khalifa

Das zen­trale Motiv die­ses Roma­nes von Kha­led Kha­lifa ist die reli­gi­ons­über­grei­fende Freund­schaft zwi­schen dem Chris­ten Hanna, dem Mus­lim Zaka­ria und dem Juden Azar. Zu Beginn des 20. Jahr­hun­derts leb­ten Ange­hö­rige ver­schie­de­ner Eth­nien und Reli­gi­ons­ge­mein­schaf­ten in der Region. Ähn­lich wie knapp 100 Jahre spä­ter in Jugo­sla­wien vor Aus­bruch des Krie­ges lagen zwar Span­nun­gen in der Luft, aber es herrschte ein Klima der gegen­sei­ti­gen Akzeptanz.
Vor allem Hanna und Zaka­ria sind auf eine beson­dere Weise mit­ein­an­der ver­bun­den. Sie sind zusam­men auf­ge­wach­sen, da die Eltern des Chris­ten Hanna bei einem Mas­sa­ker ums Leben kamen, als Hanna noch ein Kind war. Auf die­ses Ereig­nis nimmt auch der Titel Bezug. Zaka­rias Fami­lie nimmt das christ­li­che Wai­sen­kind bei sich auf.
Als Erwach­se­ner begibt sich Hanna schließ­lich auf die Spur sei­ner Fami­lie und stößt im Rah­men von Aus­gra­bun­gen auf die Reste einer christ­li­chen Kir­che, die noch vom Mas­sa­ker zeugt, bei dem seine Ange­hö­ri­gen ums Leben kamen. Hanna lässt an der Stelle ein Klos­ter errich­ten, doch ver­klä­ren will er sich nicht las­sen: “Er wollte kein Hei­li­ger wer­den. […] Statt­des­sen hatte er lei­den­schaft­lich ein Leben gelebt, das vol­ler Feh­ler und Dumm­hei­ten war.”

Opulentes orientalisches Erzählen

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Das Buch, das von den Jah­ren 1881 bis 1951 erzählt, aller­dings nicht chro­no­lo­gisch, zeigt auf, von wel­chen Span­nungs­fel­dern das Leben der Men­schen in und um Aleppo geprägt war. Da ist zunächst mal das Span­nungs­feld zwi­schen den Eth­nien und Reli­gio­nen, aber auch das zwi­schen Män­nern und Frauen. Wäh­rend die Frauen näm­lich ihre Jung­fräu­lich­keit wie einen Schatz hüten, geben sich die Män­ner unbe­schwert dem Ver­gnü­gen hin.

Kha­led Kha­lifa hat einen über­bor­den­den Roman ver­fasst, in dem das opu­lente ori­en­ta­li­sche Erzäh­len eine große Rolle spielt. Das aus­ufernde Figu­ren­in­ven­tar stellt fast durch­ge­hend eine Über­for­de­rung dar, wes­halb ich drin­gend emp­fehle, die vier­sei­tige Auf­lis­tung der Figu­ren im Anhang gründ­lich zu stu­die­ren – am bes­ten, bevor man mit der Lek­türe über­haupt beginnt.
Wer sich nicht von der aus­führ­li­chen Erzähl­weise abschre­cken lässt, wird hier ein span­nen­des Buch zur Geschichte einer Region fin­den, über die wir viel zu wenig wissen. ♦

Kha­led Kha­lifa: Kei­ner betete an ihren Grä­bern, Roman, aus dem Ara­bi­schen von Larissa Ben­der, 544 Sei­ten, Rowohlt Ver­lag, ISBN 978-3498002046

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