Geilmann/Stiefel/Herbold: Boris Spasski (Schach-Biographie)

Revue eines faszinierenden Schachlebens

von Walter Eigenmann

Lange Zeit stand der 10. Schach­welt­meis­ter Boris Spas­ski sowohl medial wie biblio­gra­phisch völ­lig im Schat­ten sei­nes legen­dä­ren Kon­tra­hen­ten Bobby Fischer, an den er im spek­ta­ku­lä­ren “Match des Jahr­hun­der­tes” 1972 in Reykja­vik den Titel abge­ben musste. Eine deutsch­spra­chige Mono­gra­phie über den genia­len “Lenin­gra­der Cow­boy” (geb. 1937) schließt nun diese Lücke im deutsch­spra­chi­gen Schach­buch-Regal. Der neue Band des Autoren-Trios Ulrich Geil­mann, Frank Stie­fel und Man­fred Her­bold bringt uns nicht nur den gro­ßen Schach­spie­ler, son­dern auch den Men­schen Boris Spas­ski näher.

Wuss­ten Sie, dass Spas­ski 1976 nur des­halb aus der Sowjet­union nach Frank­reich los­kam, weil Staats­prä­si­dent Geor­ges Pom­pi­dou per­sön­lich sich bei Leo­nid Bre­sch­new für seine “Frei­las­sung” ein­setzte? Oder dass Spas­ski drei Lei­den­schaf­ten sehr inten­siv pflegte: Den Kaf­fee, die Ziga­rette und die Frauen? Oder dass Spas­ski am Grabe von Bobby Fischer bit­ter­lich weinte, weil er in sei­nem ehe­ma­li­gen WM-Feind einen spä­te­ren guten Freund ver­lo­ren hatte?
Sol­che Details und noch eine Fülle mehr davon fin­den sich in Ulrich Geil­manns neuer Spas­ski-Bio­gra­phie, die das Leben des genia­len rus­sisch-fran­zö­si­schen Ex-Welt­meis­ters aus Lenin­grad in Wort & Bild & Par­tie auf feuil­le­to­nis­tisch amü­sante Weise Revue pas­sie­ren lässt.

Kombinationsvermögen und Stellungsgefühl

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In sei­nem Vor­wort attes­tiert der deut­sche Inter­na­tio­nale Meis­ter Bernd Schnei­der (und ehe­ma­lige Spas­ski-Kol­lege in der Solin­ger Bun­des­liga-Mann­schaft) dem “rus­si­schen Bären” Boris Spas­ski eine “her­aus­ra­gende Schach­in­tui­tion, ein phan­tas­ti­sches Kom­bi­na­ti­ons­ver­mö­gen und ein begna­de­tes Stel­lungs­ge­fühl”. Und genau diese drei Qua­li­tä­ten – also weni­ger die neu­ro­ti­sche Schach­be­ses­sen­heit eines Bobby Fischer, nicht die unbän­dige Kampf­lust eines Vik­tor Kort­schnoi oder die kalte Prä­zi­sion des jun­gen Ana­toly Kar­pow und auch nicht das trick­rei­che Va-ban­que-Spiel eines Michael Tal – waren es, die das 1937 in Lenin­grad gebo­rene Schach­ge­nie schließ­lich im Jahre 1969 zum WM-Fight gegen Tigran Petros­jan und zum Titel­ge­winn führten.

Munterer Plauderton

Aufstrebendes Schachgenie 1956: Der junge Spasski
Auf­stre­ben­des Schach­ge­nie: Der 19-jäh­rige Spas­ski unter sowje­ti­scher Flagge

Im mun­te­ren, eher feuil­le­to­nis­ti­schen denn fach­wis­sen­schaft­li­chen Plau­der­ton, gespickt mit aller­lei Fak­ten, Anek­do­ten, State­ments und Inter­views gelei­tet Bio­graph Geil­mann den Leser durch ein Schach­le­ben, das ein fas­zi­nie­ren­des, teils eupho­ri­sches, teils depri­mie­ren­des, doch immer inter­es­san­tes Auf-Und-Ab im inter­na­tio­na­len Schach­zir­kus der GM-Diven, Tur­nier­büh­nen und Polit­kriege dar­stellt. Boris Spas­ski – das ist mehr als das “Anhäng­sel” von Bobby Fischer im legen­dä­ren “Match des Jahr­hun­derts” des Jah­res 1972 im fer­nen Reykja­vík. Boris Spas­ski, und dies doku­men­tiert das Buch der drei Autoren Ulrich Geil­mann, Frank Stie­fel und Man­fred Her­bold über­deut­lich – die­ser Name steht für das völ­lig sin­gu­läre Leben eines Schach­meis­ters, der die Viel­falt und Zer­ris­sen­heit, den Glanz und auch viel Elend einer gan­zen Schach­ära in sich vereint.

Witzig-akkurate Illustrationen

Boris Spasski - Der Leningrad Cowboy - Ein Schachleben - Ulrich Geilmann - Inhaltsverzeichnis (Glarean Magazin)
Inhalts­ver­zeich­nis von “Boris Spas­ski – Der Lenin­grad Cow­boy – Ein Schachleben”

Lei­der ent­hält der Band kein ein­zi­ges his­to­ri­sches Foto, obwohl pas­sende Auf­nah­men im Inter­net gebüh­ren­frei und ein­fach zu orga­ni­sie­ren gewe­sen wären. In diese schmerz­li­che Bre­sche sprang jedoch der bekannte Schach-Car­too­nist Frank (“Fränk”) Stie­fel, der sich mäch­tig ins Zeug bzw. in den schwarz-wei­ßen Zeich­nungs­stift legte. In unnach­ahm­lich-bekann­ter Manier steu­erte er Por­traits, Situa­ti­ons­bil­der und träf kari­kie­rende Zeich­nun­gen bei, die den Text mit akku­rat-köst­li­chem “Pin­sel­strich” auflockern.

2’300 Spasski-Partien

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Dane­ben führt die neue Spas­ski-Bio­gra­phie aber nicht nur seine wesent­li­chen Lebens­sta­tio­nen an, son­dern sie ent­hält eine rie­sige Menge von Par­tien-Mate­rial aus allen Schaf­fens­pe­ri­oden des Lenin­gra­der Schach­ge­nies. Zum einen sind da zahl­rei­che Schlüs­sel-Begeg­nun­gen im Buch sel­ber zu fin­den, alle­samt detail­liert kom­men­tiert und mit zahl­rei­chen Dia­gram­men gespickt. Zum ande­ren legen die Autoren ihrem Band eine Bonus-CD mit nicht weni­ger als 2’300 Spas­ski-Par­tien bei – alle eben­falls kom­men­tiert, wobei den Löwen­an­teil der Anmer­kun­gen der Buch­au­tor Ulrich Geil­mann sel­ber sowie div. Com­pu­ter­pro­gramme mit ihrer “Tak­ti­schen Ana­lyse” bei­steu­er­ten. Alle Games wur­den dabei sowohl im Stan­dard-PGN- als auch im dif­fe­ren­zier­te­ren Chess­base-CBH-For­mat archiviert.

Amüsanter Schach-Lesestoff

Der 340 Sei­ten starke, in 16 Kapi­tel geglie­derte Band mag seine Schwä­chen haben: Die kom­plette Absenz von his­to­ri­schem Bild­ma­te­rial, die zuwei­len etwas holp­rige Spra­che des inhalt­li­chen Teils (ok, das mag Geschmack­sa­che sein) sowie lei­der diverse (durch sorg­fäl­ti­ge­res Lek­to­rat ver­meid­bare) Tipp- und Satz­zei­chen-Feh­ler müs­sen erwähnt wer­den. Bei einem stol­zen Ver­kaufs­preis von 30 Euro wäre dies­be­züg­lich etwas mehr Akri­bie bei der End­kon­trolle ange­mes­sen gewesen.

Boris Spasski - Der Leningrad Cowboy - Ein Schachleben - Ulrich Geilmann - Beispielseite (Glarean Magazin)
Bei­spiel-Seite aus Geilmann/Stiefel/Herbold: “Boris Spas­ski – Der Lenin­grad Cow­boy – Ein Schachleben”

Auf der ande­ren Seite glänzt die­ser (wohl auch als Lieb­ha­ber­pro­jekt kon­zi­pierte) neue Band des Autoren-Trios Geilmann/Stiefel/Herbold durch schöne biblio­gra­phi­sche Gestal­tung, durch seine oft erfri­schend unkon­ven­tio­nelle Par­tien-Kom­men­tie­rung, durch eine breite Palette von (teils bis anhin unbe­kann­ten) bio­gra­phi­schen Fak­ten und nicht zuletzt durch sei­nen köst­li­chen Mix von diver­sem anek­do­ti­schem “Psy­cho­fut­ter”, das uns nicht nur den Schach­spie­ler, son­dern auch den Men­schen Boris Spas­ski näher bringt.

Karikatur von Frank Stiefel - Boris Spasski auf dem Weg zum Olymp - Glarean Magazin
Boris Spas­ski auf sei­nem Flug zum Olymp (Kari­ka­tur von Frank Stiefel)

Fazit: “Boris Spas­ski – Ein Schach­le­ben” berei­tet ech­tes Schach-Lese­ver­gnü­gen. Die Bio­gra­phie ist flüs­sig und unter­halt­sam geschrie­ben, war­tet mit zahl­lo­sen Anek­do­ten, aber auch vie­len fami­liä­ren und poli­ti­schen Schlüs­sel­mo­men­ten im Leben des 10. Schach­welt­meis­ters auf, und sie prä­sen­tiert eine in die­ser Kom­pakt­heit und kom­men­ta­to­ri­schen Qua­li­tät über­durch­schnitt­li­che und äußerst umfang­rei­che Partien-Sammlung.
Vor allem aber wird mit die­ser Spas­ski-Mono­gra­phie eine Lücke im deutsch­spra­chi­gen Schach­buch-Regal geschlos­sen, indem sie eine der schil­lernds­ten, doch bis anhin lei­der weit­ge­hend unter Wert beach­te­ten Per­sön­lich­kei­ten der Schach­ge­schichte in den Fokus holt. Das allein stellt ein hohes Ver­dienst die­ses Buches dar. ♦

Ulrich Geil­mann, Frank Stie­fel, Man­fred Her­bold: Boris Spas­ski – Der Lenin­grad Cow­boy – Ein Schach­le­ben, 340 Sei­ten, plus Par­tien-Samm­lung (CD), Maya-&Paul-Verlag, ISBN 978-3981984934

Lesen Sie im GLAREAN MAGAZIN zum Thema Schach-Welt­meis­ter­schaf­ten auch über André Schulz: Das grosse Buch der Schachweltmeisterschaften

…sowie zum Thema Bobby Fischer von Frank Brady: Endspiel

2 Kommentare

  1. bes­ten dank für diese auf­schluss­rei­che bespre­chung, herr Eigen­mann. habe das buch vor kur­zem eben­falls gele­sen und bin weit­ge­hend mit ihrer ein­schät­zung ein­ver­stan­den. viel­leicht hätte man noch dar­auf hin­wei­sen kön­nen, dass das buch schon etwas hap­pig im preis ist mit sei­nen 30 euro. aber wie sie auch schrei­ben, die gestal­tung und die buch­bin­de­ri­sche qua­li­tät ist her­vor­ra­gend, inson­fern stimmt der preis wie­der. sehr schön finde ich auch die dia­gramme. und nat­rü­lich die über 2300 kom­men­tier­ten Spas­ski-Games auf der CD. das waren für mich gute kaufargumente.
    was aus ihrer rezen­sion und auch im buch nicht so recht her­vor­geht: wel­chen anteil am buch hatte eigent­lich der als co-autor genannte Man­fred Herbold?!
    gruss in die schweiz – Hajo S.

    • Danke für das Feedback.
      In sei­ner “Vor­be­mer­kung” erwähnt Car­too­nist Stie­fel bei­läu­fig, dass Man­fred Her­bold bei der Aus­wahl der Par­tien mit­ge­hol­fen habe.
      W.E.

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