Inhaltsverzeichnis
Das Wichtigste in schöner Auswahl
von Stefan Walter
Wer sich mit der Lyrik des 20. Jahrhunderts beschäftigt, kommt an Sarah Kirsch (1935-2013) nicht vorbei. Anlässlich des 85. Geburtstages der Dichterin hat ihr Sohn einen Band “Freie Verse – 99 Gedichte” mit einer Auswahl von 80 alten und 19 “neuen” Gedichten herausgegeben. Am Inhalt gibt es dabei kaum etwas zu bemängeln, die Ausführung fällt dagegen ein bisschen ab.
Der Titel der Sammlung “Freie Verse” bezieht sich nicht nur auf die bekannte Vorliebe der Dichterin, von Formalitäten wie Metrum und Reim möglichst die Finger zu lassen, sondern auch auf das gleichnamige Gedicht – es gehört zu den “alten” Texten im Buch –, wo es von Versen heisst:
“Sie müssen hinaus / In die Welt. Es ist nicht möglich sie / Ewig! hier unter dem Dach zu behalten.”
Und glaubt man den Angaben des Herausgebers, sind die neuen Gedichte genau dort, auf dem Dachboden, gefunden worden.
Gelungene Textauswahl
Die Textauswahl ist durchaus gelungen. Im ersten Teil, den 80 bereits veröffentlichten Texten, finden sich neben Klassikern wie Datum und Reisezehrung auch zahlreiche lesenswerte Gedichte, die zumindest mir noch nicht bekannt waren. So geht es in Die Verdammung um einen Prometheus, der seine Strafe längst abgesessen hat, aber sich aus Gewohnheit weiter quälen lässt:
“(…) Als die Ketten zerfielen der Gott / Müde geworden an ihn noch zu denken / (…) / Gelang es ihm nicht sich erheben den / Furchtbaren Ort für immer verlassen (…)”.
Neben Gedichten enthält die Sammlung auch eine Handvoll Notate, etwa das bekannte Im Glashaus des Schneekönigs; es mag meiner mangelnden Flexibilität geschuldet sein, aber auf mich machen diese Prosatexte immer den Eindruck, dass die Deadline zu früh kam…
“Neue” alte Gedichte

Der zweite Teil ist überschrieben mit “Neunzehn neue Gedichte”. Dabei ist das Wort “neu” für Gedichte aus den frühen 70er Jahren natürlich genauso problematisch wie der im Klappentext verwendete Begriff “unveröffentlicht”, wenn – wie im Nachwort erklärt wird – fünf dieser Texte bereits vor drei Jahren im Poesiealbum erschienen sind.
An erster Stelle zu nennen (und auch abgedruckt) ist Ahrenshooper Sommer. Dort heisst es:
“(…) Ach das Meer ist aus blauem Glas / hervorströmts unterm Scheinwerferlid / ach die Soldaten leuchten so schön / dass niemand nach Dänemark zieht”.
Kein Zweifel, dass das in der DDR ein hochpolitischer Text war. Ob das Gedicht aber wirklich gerade deshalb der Selbstzensur unterfallen ist, wie der Herausgeber behauptet, erscheint fraglich. Es ist das einzige “klassische” Gedicht im gesamten Buch, mit Reim und durchgängigem Metrum; dass es schlichtweg in keinen ihrer zahlreichen Bände so richtig gepasst hat (und vielleicht irgendwann vergessen wurde), kommt mir wesentlich plausibler vor.
Wichtigstes Stilmittel: Enjambement
Auffällig ist weiter, dass im zweiten Teil die Zahl der Enjambements – die man wohl getrost als das wichtigste und typischste Stilmittel Kirschs ansehen kann – deutlich reduziert ist. Bärenhäuter etwa beginnt:
“Traf einen der Schwalben ass / die Taschen hatte er voller Nester / Flüche und Schnaps im Mund / (…)”. Man vergleiche dies beispielsweise mit Russ aus dem ersten Teil:
“Die Touristen sind letztlich / Gestorben. Ich habe Lust durch die / Sümpfe zu gehen. Gänseschwarm / (…)”.
Aus meiner Sicht liegt es nahe, dass Kirsch die Gedichte in erster Linie aus solchen literarischen Gründen nicht veröffentlicht hat. Die Texte scheinen mir jedenfalls politisch nicht problematischer zu sein als so manche andere, die noch in ihrer DDR-Zeit erschienen sind.
Die politische Dichterin

Dieses emphatische Bemühen des Herausgebers, Sarah Kirsch als politische Dichterin “entdecken” zu wollen, ist überhaupt mein grösster Kritikpunkt an dem Buch. Eine Frau mit dem bürgerlichen Vornamen Ingrid, die sich aus Protest gegen den Nationalsozialismus das Pseudonym Sarah zulegt; die zu den Erstunterzeichnern der Protesterklärung gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann gehörte – sogar an allererster Stelle – und dann erwartbarer Weise ebenfalls das Land verlassen musste; die dann im Westen aus Protest gegen die NS-Vergangenheit von Bundespräsident Carstens das Bundesverdienstkreuz ablehnte; für die der Herausgeber selbst 80 bereits veröffentlichte politische Gedichte findet; eine solche Frau als politische Dichterin erst entdecken zu wollen, ist mutig.
Empfehlung für Kirsch-Unkundige
Ansonsten gibt es noch ein paar kleine störende Punkte. Nennen Sie mich oberflächlich, doch die Umschlaggestaltung des Buchs mit dicken, rot-weissen, dreidimensionalen Buchstaben auf einem blass-grünen Untergrund animiert mich nicht unbedingt zum Kauf. Fairerweise muss man dazu sagen, dass es auf Papier weniger schlimm aussieht als in der glatten Online-Version.
Warum man 19 unveröffentlichte Gedichte bewirbt, wenn davon fünf bereits veröffentlicht wurden, ist mir ein Rätsel.
Und sehr schade ist es gerade bei einer solchen Querschnitt-Ausgabe mit dem Fokus auf politische Gedichte, dass zu den einzelnen Texten kein Entstehungs- oder wenigstens Erstveröffentlichungsjahr angegeben ist. Das würde die Einordnung doch deutlich erleichtern.
Insgesamt ist das Buch aber eine Empfehlung für jeden Fan von Sarah Kirsch, der hier neues, lesenswertes Material geliefert bekommt, und eine noch deutlichere Empfehlung für jeden, der sich bisher nicht näher mit Sarah Kirsch beschäftigt hat und die wichtigsten Gedichte in schöner Auswahl erhält. ♦
Sarah Kirsch: Freie Verse – 99 Gedichte, 124 Seiten, Manesse Verlag, ISBN 978-3-7175-2506-6
Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Neue Lyrik auch über Nico Bleutge: Verdecktes Gelände (Gedichte)
Weitere interessante Web-Links zum Thema:
- Schatzsuche auf dem Dachboden (Sarah Kirschs unveröffentlichte Gedichte)
- Freundschaft unterm geteilten Himmel (Briefwechsel Sarah Kirsch & Christa Wolf)
Ich freue mich, daß Sarah Kirsch nicht vergessen ist. Das Bild allerdings ist unvollständig beschriftet: Zwischen Wieland Herzfelde und Franz Fühmann sitzt Günther Rücker (der mit der Brille)
Besten Dank für den Hinweis – ergänzt. (W.E.)