Niklas Natt och Dag: 1793 (Roman)

Die dunkle Seite der Aufklärung

von Isabelle Klein

Sie mö­gen his­to­ri­sche Kri­mi­nal­ro­ma­ne, in de­nen al­les sei­nen her­kömm­li­chen Lauf nimmt? Über­sprin­gen Sie die­se Re­zen­si­on und las­sen Sie ihre Hän­de von “1793”. Glau­ben Sie vor al­lem kei­nes­falls den Ver­spre­chen des Co­vers, das das Buch mit Ca­leb Carrs “Ein­krei­sung” ver­gleicht – mehr dazu spä­ter. Denn mit “1793” von Ni­klas Natt och Dag er­hal­ten Sie ein Werk , das so­wohl er­zäh­le­risch als auch in­halt­lich ex­trem bru­tal und trost­los ist, in je­der Art und Weise!

Niklas Natt och Dag - 1793 - Roman-Rezension - Glarean MagazinWäh­rend in La Bel­le France der Geist der Auf­klä­rung tobt und die Köp­fe rol­len, ist in Stock­holm ein küh­ler Herbst­tag, als der Hä­scher Mi­ckel Car­dell ei­nen To­ten aus dem Fat­bu­ren fischt. Ent­stellt, ge­fol­tert, zum blos­sen Fleisch­klum­pen ver­kom­men ist das, was ein­mal eine mensch­li­che Exis­tenz war. Ein­zig das herr­lich gold­blon­de Haar zeugt von frü­he­rer Schön­heit. Zu­sam­men mit dem tod­kran­ken Se­kre­tär der Po­li­zei­kam­mer Ce­cil Win­ge macht sich der ein­ar­mi­ge Stadt­knecht auf die Su­che nach dem Mör­der und sticht in ein Wes­pen­nest aus Lug und Trug und un­aus­sprech­li­chem Laster.

Brutal und trostlos

So­weit die Aus­gangs­si­tua­ti­on, in der der ein­ar­mi­ge (holz­schwin­gen­de) Kriegs­ve­te­ran Car­dell mit Ce­cil Win­ge, der, nur noch ein Schat­ten sei­ner selbst, bald sei­ner fort­ge­schrit­te­nen Tu­ber­ku­lo­se­er­kran­kung er­lie­gen wird, Hand in Hand er­mit­tel. Die Paa­rung er­in­nert mich an ein an­de­res Duo: C. J. San­soms Ro­man­rei­he um Mas­ter Shard­la­ke und sei­nen Ge­hil­fen Ba­rak – qua­si: Shard­la­ke meets Win­ge und Car­dell. Doch wäh­rend im Tu­dor-Eng­land ge­gen Ende der Re­gie­rungs­zeit Hein­richs VIII. vir­tu­os das Lei­se, Aus­ge­klü­gel­te, der Zwi­schen­ton re­giert, das Le­sen ein Ge­nuss ist und die Mör­der­su­che viel­schich­tig von­stat­ten geht, ist das Erst­lings­werk des Schwe­den Ni­klas Nat och Dagg gänz­lich an­ders an­ge­legt: bru­tal, mar­tia­lisch, ge­wal­tig und grau­sam. Das muss man mö­gen oder zu­min­dest er­tra­gen kön­nen, sonst wird das Buch ganz schnell in der nächs­ten Ecke landen.

Und ge­nau des­we­gen ver­är­gert mich so­wohl die Le­se­emp­feh­lung, die Hu­gen­du­bel her­aus­gibt, als auch das, wo­mit der Pi­per-Ver­lag das Buch dem Le­ser an­preist. Ist man mitt­ler­wei­le wirk­lich so weit, dass Net­flix’ Strea­ming­dienst als aus­ch­lag­ge­bend be­trach­tet wird, um das Buch an den Le­ser zu brin­gen? Dort lief näm­lich ge­ra­de die Ver­fil­mung des o.g. Wer­kes von C. Carr als Se­rie (The Ali­e­nist). Und glau­ben Sie mir, die seit vie­len Jah­ren das Gen­re des his­to­ri­schen Kri­mis, ge­ra­de auch in Se­rie, fa­vo­ri­siert und Ca­leb Carrs “Ein­krei­sung” be­reits in den frü­hen 2000ern ver­schlun­gen hat: Kein Ver­gleich, “Die Ein­krei­sung” ist um Wel­ten bes­ser! Un­glaub­lich auch die Wer­bung mit­ten im Buch auf S. 295, wo auf wei­te­re In­fos über Dag, den “Meis­ter des Grau­ens”, ver­wie­sen wird.

Ermittlung in Stockholms ersten Kreisen

Niklas Natt och Dag - 1793 - Glarean Magazin
Schil­de­rer grau­sams­ter Ge­walt­be­reit­schaft: Ni­klas Natt och Dag

Zu­rück zur Hand­lung: die bei­den Er­mitt­ler wol­len dem to­ten Fleisch­klum­pen, den sie Karl Jo­han nen­nen, Ge­rech­tig­keit wi­der­fah­ren las­sen. Eine Mün­ze, die im Darm des To­ten ge­fun­den wird, bie­tet ers­te An­halts­punk­te, als auch eine Kut­sche, die den To­ten im Fat­bu­ren ab­ge­la­den hat. Die Spur führt an­schei­nend in Stock­holms ers­te Krei­se. Ein Sün­den­pfuhl, der auch ab­ge­brüh­te Kri­mi­le­ser nicht kalt las­sen wird, of­fen­bart sich.
Nun sind nor­di­sche Kri­mi­nal­au­toren eher für ihre scho­nungs­lo­sen di­rek­ten und oft bru­ta­len Aus­füh­run­gen be­kannt als an­ders­rum; man den­ke an Nes­boe, Ad­ler Ol­sen usw. Doch das, was sich hier in vier Ka­pi­teln of­fen­bart, ist wirk­lich har­ter To­bak; mar­tia­lisch und in der Schil­de­rung der Ge­walt­be­reit­schaft grau­sam, und bru­tal in der Schil­de­rung der Fol­ter, die dem Tod Karl Jo­hans vor­an­geht (Ka­pi­tel 2). Also de­fi­ni­tiv nichts für zar­te Gemüter.

So recht zu nä­hern ver­mag man sich den bei­den Prot­ago­nis­ten nicht; zu lang sind die durch den Auf­bau er­zeug­ten Un­ter­bre­chun­gen. Wir er­le­ben den klas­si­schen Kri­mi­plot nur in Ka­pi­tel 1, wo das Ge­sche­hen durch­dacht an Fahrt ge­winnt. Was dann folgt, v.a. in Ka­pi­tel 2 und 3, hät­te gut wer­den kön­nen, hät­te Dag m.E. auf ein klein we­nig Grau­sam­keit und de­ren ex­pli­zi­te Schil­de­rung, die fast schon ei­nem Schwel­gen in per­vers-wi­der­li­chen Ex­zes­sen (die sich dann auch bis zum Ende hin­zie­hen) gleich­kommt, ver­zich­tet. Was treibt ei­nen Men­schen an, so in den dunk­len Ab­grün­den zu ver­wei­len? Mir stellt sich die Fra­ge: muss das sein, ist we­ni­ger nicht mehr? Wo bleibt die Raf­fi­nes­se bei alldem?
Zum Ver­ständ­nis: Im zwei­ten Teil wer­den wir mit ei­ner ar­men See­le kon­fron­tiert, die durch Ver­feh­lun­gen zum Werk­zeug des Mör­ders wird. Kann er mit sei­ner Schuld wei­ter­le­ben? Ein in­ter­es­san­ter An­satz­punkt, hät­te man mehr Ge­wicht auf das mo­ra­li­sche Di­lem­ma ge­legt und nicht dumpf in Ex­zes­sen ge­schwelgt. Teil 3 lässt uns ein­mal mehr am Men­schen zwei­feln und bringt eine wei­te­re Fi­gur, die der Hö­ke­rin Anna Sti­na (wird bei ei­ner un­züch­ti­gen Hand­lung er­tappt und lan­det im Zucht­haus, wo sie wei­te­re Ab­grün­de der mensch­li­chen See­le er­blickt) ins Spiel.

Plakative Moral der Geschichte

FAZIT: Der Ro­man “1793” von Ni­klas Natt och Dag fällt als So­zio­gramm ei­nes Psycho- bzw. So­zio­pa­then – nach all dem ex­zes­si­ven Hin und Her, ver­mischt mit et­was Ein­füh­rung in kon­fus ge­schil­der­te schwe­di­sche Ge­schich­te nach dem Tod des Kö­nigs und be­amt­li­cher In­tri­gan­ten – er­schre­ckend schwach aus. Auch sei­ne pla­ka­ti­ve Mo­ral von der Ge­schich­te, dass kei­ner ohne Schuld sei und in je­dem Tä­ter zu­gleich auch ein Op­fer ste­cke, bleibt ir­gend­wo beim Schwel­gen im Ab­tren­nen von Glied­mas­sen, im Ver­ge­wal­ten und Au­gen­blen­den auf der Strecke.

Da nicht di­rekt zur Wei­ter­ent­wick­lung und Auf­lö­sung der Ge­schich­te bei­tra­gend, wer­den wohl vie­le kri­ti­sie­ren, dass man die­ses Ka­pi­tel hät­te strei­chen kön­nen. Nicht un­be­dingt, wür­de ich sa­gen, denn das Haupt­an­lie­gen des Au­tors (so wür­de ich mal un­ter­stel­len), Stock­holm als ab­so­lut wi­der­li­chen Sün­den­pfuhl, die Mensch­heit ins­ge­samt als An­samm­lung von Mons­tern dar­zu­stel­len, ver­mit­telt er so ein­ge­hend. Der Bo­gen­schlag zu­rück ge­lingt, aber über­zeugt nicht, sprich die Zu­sam­men­füh­rung all des­sen im letz­ten Teil. So­weit er­mat­tet von all den Grau­sam­kei­ten und Aus­schwei­fun­gen, kam mir die Le­se­lust leicht ab­han­den, die Rück­kehr zu Mi­ckel und Win­ge im mitt­ler­wei­le win­ter­li­chen Stock­holm liess nur vor­über­kom­mend leich­te Freu­de auf­wal­len: Ein To­ter auf­er­steht zwi­schen­zeit­lich und ein Mör­der beichtet.

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Atem­lo­se Span­nung? Von we­gen. Das So­zio­gramm ei­nes Psycho- oder doch eher So­zio­pa­then fällt nach all dem ex­zes­si­ven Hin und Her, ver­mischt mit et­was Ein­füh­rung in kon­fus ge­schil­der­te schwe­di­sche Ge­schich­te nach dem Tod des Kö­nigs und be­amt­li­cher In­tri­gan­ten, eschre­ckend schwach aus. Gut, Simp­les mag umso nach­hal­ti­ger wir­ken, wenn der Un­ter­bau, die Un­ter­füt­te­rung der Ge­schich­te mit mehr Raf­fi­nes­se und aus­ge­klü­gel­ter an­ge­legt ge­we­sen wäre. Statt­des­sen im­mer nur stu­pi­des Ver­lan­gen nach Lust und Schmerz, ge­paart mit Ge­walt­be­reit­schaft und Grau­sam­keit. Dass letzt­lich Mör­der, Ge­hil­fe als auch Er­mitt­ler sich schul­dig ma­chen, be­rührt nicht mehr wirk­lich, da die pla­ka­ti­ve Mo­ral von der Ge­schich­te, dass kei­ner ohne Schuld sei und in je­dem Tä­ter zu­gleich auch ein Op­fer ste­cke, ir­gend­wo beim Schwel­gen im Ab­tren­nen von Glied­mas­sen, im Ver­ge­wal­ti­gen und Au­gen­blen­den auf der Stre­cke bleibt.
Letzt­lich gäbe es noch viel zu Fi­gu­ren, der Auf­klä­rung und dem mensch­li­chen We­sen zu schrei­ben und zu ana­ly­sie­ren. Doch ent­spre­chend dem Duk­tus von “1793” hal­te ich es ein­fach und sim­pel, ganz wie Hob­bes uns in sei­nem Le­via­than be­reits ge­schil­dert hat: Homo ho­mi­ni lu­pus – der Mensch ist dem Men­schen ein Wolf. Er­war­ten Sie folg­lich nichts an­de­res, und das Buch wird Sie bes­tens unterhalten. ♦

Ni­klas Natt och Dag: 1793 – Ro­man, 494 Sei­ten, Pi­per Ver­lag, ISBN 9783492061315

Le­sen Sie im Glarean Ma­ga­zin zum The­ma Psycho-Kri­mi auch über den Ro­man von Es­ther Pau­chard: Jen­seits der Couch

… so­wie zum The­ma Auf­klä­rung über die his­to­ri­sche Mo­no­gra­phie von Cars­ten Prie­be: Eine Rei­se durch die Aufklärung

… und über den neu­en Hein­rich-Hei­ne-Ro­man von Hen­ning Boe­ti­us: Der weis­se Abgrund


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