Inhaltsverzeichnis
Die Künstler und ihre Moral
Charles Stünzi
Der herausragende und früher hochgelobte US-Schauspieler Kevin Spacey geriet 2017 – im Kielwasser des Weinstein-Skandals und der darauffolgenden Me Too-Bewegung – ins Kreuzfeuer der Kritik, als ihm vorgeworfen wurde, er habe mehrere Männer sexuell belästigt. In der Folge fiel das Fallbeil der amerikanisch geprägten Political Correctness: Spacey wurde gesellschaftlich und beruflich boykottiert bzw. geächtet. Das heisst unter anderem: Er bekam keine Aufträge mehr, und er wurde in den Szenen existierender Filme, in welchen er spielte, herausgeschnitten und durch andere Schauspieler ersetzt…
Vor Gericht hielten die Vorwürfe gegen Spacey freilich nicht stand. Vor kurzem wurde er in allen Anklagepunkten für unschuldig erklärt. Gerechtigkeit ist dem Angeklagten offenbar zumindest in juristischer Hinsicht widerfahren. Aber das Brandmal bleibt, und ob Spacey die frühere Achtung und Bewunderung je wieder in vollem Masse zu Teil werden können, ist fraglich.
Mir aber stellt sich die Frage: Wäre die oben beschriebene Ächtung Spaceys gerechtfertigt gewesen, wenn sich die Vorwürfe gegen ihn bewahrheitet hätten? Oder sollte man nicht besser den Stellenwert eines künstlerischen Werkes von der moralischen Bewertung des Künstlers (Malers, Bildhauers, Musikers, Regisseurs, Schauspielers, Dichters etc.) als Individuum trennen?
Sind gute Künstler auch gute Menschen?

Und sogleich stellt sich mir eine zweite Frage: Sind gute Künstler immer auch gute Menschen? So postulierte es im vergangenen März die Schriftstellerin Dana Grigorcea in ihrer bemerkenswerten Festrede zur Thomas-Mann-Ausstellung an der ETH in Zürich, und zwar wie folgt:
“Spätestens hier stellt sich die grosse Frage, ob die Kunst allein das Werk eines moralisch integren oder zumindest zu moralischer Haltung strebenden Menschen sein kann. In dieser Frage bin ich mit der Erfahrung der kommunistischen Diktatur in meinem Geburtsland Rumänien gebrandmarkt und muss wohl ausrufen: Ja! Unbedingt!”
Der genannte biografische Hintergrund macht die Haltung der prominenten Rednerin verständlich, und für Thomas Mann stimmt meines Erachtens die Gleichung “Guter Mensch – gute Kunst” durchaus, aber trotzdem lautet meine Antwort auf Frau Grigorceas Frage: “Nein! So allgemein kann man diese Gleichung nicht machen.”
Dichter-Talent als Serienmörder
Will man Belege für meine Haltung anführen, muss man nicht unbedingt den österreichischen Schriftsteller und Serienmörder Jack Unterweger (1950-1994) als Beispiel nehmen. Unterweger tötete eine Frau. Im Gefängnis mutierte er dann zu einem vielbeachteten, durchaus talentierten Schriftsteller. Dank der Unterstützung von Autoren und Autorinnen wie Günter Grass, Erich Fried, Ernst Jandl und Elfriede Jelinek wurde er als Musterbeispiel für eine gelungene Resozialisierung vorzeitig freigelassen – und beging danach neun weitere Frauenmorde!

Es geht auch weniger drastisch. Bleiben wir vorerst bei den Schriftstellern. Frankreich hat drei grosse Literaten vorzuweisen, die teilweise ein verbrecherisches Leben führten: Francois Villon (1431-1463), Paul Verlaine (1844-1896) und Jean Genet (1910-1986). Aber auch die Deutschen können sich eines berühmten Autors rühmen, der sich in seinen jüngeren Jahren als kleinkrimineller Betrüger, Dieb und Hochstapler auf illegale und moralisch höchst fragwürdige Weise durchs Leben schlug, nämlich Karl May (1842-1912).
Dunkle Gestalten in der Renaissance
Richten wir unseren Blick auf andere Kunstbereiche. In der Geschichte der bildenden Kunst finden wir schon früh, nämlich in der hehren Epoche der Renaissance, dunkle Gestalten: Der berühmte italienische Bildhauer Benvenuto Cellini (1500-1571) und sein nicht minder berühmter Landsmann, der Maler Caravaggio (1571-1610), sollen zu ihrer Zeit berüchtigte Schlägertypen gewesen sein, die beide auch Morde begingen, Cellini sogar deren zwei.
Man braucht jedoch nicht so weit zurückzublicken, um unter den grossen bildenden Künstlern menschlich bzw. moralisch fragwürdige Gestalten zu finden. So wissen wir mittlerweile, dass sich der renommierte Maler Emil Nolde (1867-1956) im Dritten Reich als überzeugter Rassist und Antisemit gebärdete. Dasselbe gilt übrigens bereits vor der Nazizeit für den Komponisten Richard Wagner (1813-1883).
Zurück zur bildenden Kunst: Auguste Rodin (1840-1917) war einerseits einer der allerbesten Bildhauer weltweit und aller Zeiten, aber anderseits auch ein Frauenverächter, der seine Geliebte Camille Claudine ins Verderben stiess. Sie fristete ihre letzten dreissig Jahre vergessen in einer psychiatrischen Anstalt.

Noch Schlimmeres auf diesem Gebiet weiss man vom Jahrhundertkünstler Pablo Picasso (1881-1973), dessen fünfzigstes Todesjahr wir gerade feiern. Sein Werk und sein Leben – und damit auch seine Frauen – sind, so heisst es unwidersprochen, untrennbar miteinander verbunden. Er, der wohl grösste und produktivste Maler der Moderne, war gleichzeitig ein geradezu klassischer Macho, der seine Musen, Modelle, Geliebten instrumentalisierte, schlecht behandelte und am Schluss der jeweiligen Liaison in seinen Bildern teilweise geradezu bösartig dekonstruierte. Mehrere dieser Frauen endeten im Wahnsinn oder im Suizid.
Zum Schluss kommen wir zum beeindruckenden Schauspieler Klaus Kinski (1926-1991). Man denke nur an seine unvergesslichen Rollen in den Filmen von Werner Herzog. Kinski soll gemäss seiner Tochter Pola Kinski diese über viele Jahre systematisch sexuell missbraucht haben. Bei ihm liegt die Vermutung nahe, dass er gerade deshalb so überzeugend abstossende Figuren darstellen konnte, weil er ein Psychopath war. Dieser unerfreuliche, Angst einflössende Charakter war ihm übrigens geradezu ins Gesicht geschnitten.
Künstlerisches Talent ist kein moralisches Verdienst

Villon, Verlaine, Genet, May, Caravaggio, Cellini, Nolde, Wagner, Rodin, Picasso, Kinski: Dies ist geradezu ein Panoptikum grosser Künstler, die in ihrem Gebaren gegenüber den Mitmenschen alles andere als vorbildliche Zeitgenossen, sondern über kürzere oder weite Wegstrecken ihres Lebens geradezu das Gegenteil davon waren, nämlich böse Menschen, teilweise sogar Schwerverbrecher. Die Grösse ihrer Kunst und gleichzeitig das Schlechte ihres Charakters und ihrer Taten, ist das ein Zeichen von Schizophrenie? Ich glaube nicht. Talent bzw. Kreativität im künstlerischen Bereich ist eigentlich kein Verdienst des jeweiligen Künstlers, schon gar kein moralisches. Ein Mensch ist künstlerisch talentiert oder er ist es nicht. Da ist beim jugendlichen werdenden Künstler eine Begabung, also etwas ihm durch seine Gene und möglicherweise auch durch seine Sozialisation (seine “Erziehung”) Gegebenes, Geschenktes.
Der Mythos des “geborenen Genies”

Freilich muss ein werdender Künstler aus seiner Begabung durch sein eigenes Zutun etwas künstlerisch Wertvolles machen, indem er sich durch Arbeit, Ausbildung Weiterbildung selbst fördert und fordert (und idealerweise auch von anderen gefördert und gefordert wird) bzw. an seinem Talent feilt, um ein guter oder gar grosser Künstler zu werden. Das “geborene Genie” ist eine reine Erfindung des 19. Jahrhunderts. Beim Talent, bei dessen Förderung und beim schliesslich erreichten Status ist es völlig irrelevant, ob der Künstler moralisch gesehen ein guter oder schlechter Mensch ist.
Von Bedeutung kann aber die Tatsache sein, dass Menschen, die es als Künstler oder auf anderen Gebieten (Politik, Wirtschaft etc.) weit bringen wollen und schliesslich auch weit bringen, normalerweise sehr ehrgeizig sind und oft eine starke Tendenz zum Narzissmus haben, was sich bei manchen in einer gewissen Skrupellosigkeit und Rücksichtslosigkeit zeigt. Deshalb, so meine Hypothese, gibt es bei solchen Menschen – also auch bei Künstlern – vielleicht eine etwas höhere Quote an moralisch fragwürdigen Haltungen und Handlungen. Beweisen kann ich das freilich nicht.
Trennung von Moral und Kunst

Wir kommen zurück zum Beginn dieser Ausführungen. Meines Erachtens sollte man grundsätzlich den Wert eines künstlerischen Werkes völlig getrennt von der Moral des Künstlers betrachten, beurteilen, anerkennen, gegebenenfalls auch bewundern. “The American Way”, nämlich die moralisierende Missachtung des künstlerischen Wertes des von einem fragwürdigen Menschen geschaffenen Werkes aufgrund einer das individuelle Urteilsvermögen überlagernden “Political Correctness”, das ist der falsche Weg.
So halte ich es z. B. für falsch, Filme des genialen Regisseurs Woody Allen nicht mehr zu zeigen, weil dieser ein Verhältnis mit seiner Adoptivtochter hatte und diese später sogar heiratete, oder auch die Filme des nicht minder genialen Regisseurs Roman Polanski, der von den amerikanischen Behörden wegen einer über vierzig Jahre zurückliegenden angeblichen Vergewaltigung einer Minderjährigen verfolgt wird.
Es gilt letztlich auf allen Gebieten der Kunst, das Werk eines Künstlers unabhängig von dessen Charakter, Lebenswandel und moralischer sowie juristischer Integrität zu beurteilen, dies der Kunst zuliebe. Sie soll allein an den ihr innewohnenden künstlerischen Werten gemessen werden. Und natürlich sollen im jeweiligen Werk gewisse moralische Grenzen inhaltlich nicht überschritten werden, z.B. durch Gewaltverherrlichung, Rassismus oder Diskriminierung von Minderheiten. ♦
Charles Stünzi
Geboren 1948 in Chur, Studium der Anglistik und Germanistik in Basel, seit 1976 Gymnasiallehrer für Englisch und Latein, Vorstands-Funktionär verschiedener Schriftsteller-Verbände, zahlreiche Sach- und belletristische Publikationen in Büchern und Zeitschriften, lebt in Glis/Wallis
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Lieber Charles Stünzi, im Prinzip gebe ich Ihnen Recht: ein hervorragendes Werk bleibt auch dann hervorragend, wenn es sich herausstellt, dass sein Erzeuger ein Schuft ist. Eine solche Betrachtungsweise hat aber einen Haken. Die Beurteilung eines beliebigen Kunstwerks ist fast unmöglich zu bewerkstelligen, ohne seinen Ursprung zu kennen. Mit Ursprung meine ich nicht einfach die Identität des Autors en, sondern vielmehr den (kunst)-historischen Kontext, in dem es entstanden ist. Man stelle sich nur vor: da ist jemand, dem ein Kunstwerk gezeigt wird, und dieser weiss überhaupt nichts über dessen Herkunft bzw. den Erzeuger. Dann könnte der Betrachter des besagten Kunstwerks eine von der Ursprungsfrage unabhängige Meinung abgeben, die durchaus angemessen ist. Ein solches Szenario ist aber unwahrscheinlich und zumindest in unserem Kulturraum unüblich. Es ist nahezu unmöglich, die Herkunft eines Werkes komplett auszublenden und sich nur mit dessen Inhalt auseinanderzusetzen. Bei zeitgenössischen Künstlern und deren Werken kommt ein weiterer Aspekt hinzu, welcher die Trennung von Kunst vom Erzeuger erschwert: nämlich die wirtschaftliche Auswirkung des Kunstkonsums. Der Autor beansprucht gerechtfertigterweise eine Entlöhnung für seinen künstlerischen Beitrag. Wenn er aber ein unmoralischer Schuft ist, welcher der Gesellschaft Schaden zufügt, dann ist es durchaus legitim, sein – noch so qualitativ hochstehendes – Werk zu ignorieren. So sehe ich zumindest als diskutabel an, der Performance des Pink Floyd Gitarristen Roger Waters fernzubleiben, wenn dieser auf schamloseste Weise antisemitische Klischees bedient. Drum finde ich es legitim über die Konsumverweigerung (und nicht allein über die qualitative Bewertung einer künstlerischen Leistung) ein Zeichen zu setzen.
Auch Ihnen sei für Ihre interessanten Ausführungen herzlich gedankt. Hier ein paar Worte zur Erklärung meiner Haltung: Meine Professoren für deutsche Literatur an der Uni Basel in den späten sechziger und den frühen siebziger Jahren, Karl Pestalozzi und Martin Stern, waren beide Schüler des legendären Emil Staiger und damit Vertreter der werksimmanenten Methode. Vereinfacht ausgedrückt heisst das: Bei der Interpretation und Wertung von literarischen Werken ist grundsätzlich ihr “Inneres” zu berücksichtigen, also der Text an sich. “Äussere” Faktoren, z.B. soziale, historische und biografische (!), sind nur dann als literaturwissenschaftlich relevant in Betracht zu ziehen, wenn sie auf das Wesen und der Wert eines Textes einen nachweisbaren Einfluss haben bzw. diesen zu verstehen helfen. Diese Theorie hat meine Betrachtungsweise von literarischen Texten und auch von anderen Kunstformen wesentlich geprägt, wie es auch in meinem “Glarean-Essay” deutlich zum Ausdruck kommt.
Ihre Bemerkung zu Roger Waters kann ich so unterschreiben. Ich spreche in diesem Fall und auch in anderen Kulturbereichen niemandem das individuelle Konsumverweigerungsrecht ab, aus welchen Gründen auch immer die Verweigerung geschieht. Auch ist es im rechtlich vorgegebenen Rahmen Sache jedes Musik-Veranstalters, Promotors oder Sponsors, welche Musikrichtung und welche Acts er berücksichtigt und welche nicht, und zwar ohne dies begründen oder rechtfertigen zu müssen. Ein genereller Boykott gegen den streitbaren Musiker Waters und sein Werk wäre für mich ein No-Go. Ich selbst habe am Fernsehen sein monumentales Opus “The Wall” uneingeschränkt und sehr beeindruckt genossen.
Charles Stünzi
Danke für diesen interessanten Überblick und Ihre Argumentation, Herr Stünzi. Ich kann sie nachvollziehen, neige zur Zustimmung.
Allerdings, Ihre “strikte Trennung von Kunst und Moral” ist eher die Ausnahme im gängigen Diskurs zum Thema. Beispielsweise ist der deutsche Feuilleton-Autor der SZ Till Briegleb – in einem Streitgespräch mit der Schriftstellerin Thea Dorf im Deutschlandfunk: “Muss Kunst moralisch sein?” – dezidiert anderer Ansicht:
Zitat: “Was moralisch sein muss, ist der Künstler selber, wenn er sich zu politischen und weltpolitischen Dingen äußert und dort seinen persönlichen Einfluss als Autor nimmt, da ist dann Moral tatsächlich eine Kategorie, die man an ihn anlegen kann.” […] “Es muss in der Kunst alles möglich sein. In dem Moment, wo ich mich in eine politische Debatte begebe, da muss ich mich aber diesen politisch-moralischen Argumenten sehr wohl viel konkreter stellen”.
In dieser Debatte ging es konkret allerdings nicht um Diebe und Mörder wie in Ihrem Essay, sondern um das politische Statement von Peter Handke und dessen Unterstützung der serbischen Verbrechen in den Balkan-Kriegen anfangs der Neunziger.
Quelle: https://www.deutschlandfunk.de/thea-dorn-vs-till-briegleb-muss-kunst-moralisch-sein-100.html
J. Weber / Ff/M
Ich danke Ihnen für Ihren interessanten Beitrag. Der von Ihnen angeführte Fall widerspricht meines Erachtens meiner These nicht. Es geht in Brieglebs Statement nicht um Peter Handkes Kunst (Fiction), sondern um sein – wie Sie selbst schreiben – “politisches Statement” (Non-Fiction) zu den Balkan-Kriegen. Dass er dabei irrt und sich auch angesichts seines zu Recht hohen literarischen Ranges verantwortungslos äussert, ist auch meine Meinung. Ergo musste und muss ihm in dieser Sache energisch widersprochen werden. Das hindert mich aber nicht daran, seine literarische Kunst (Romane, Geschichten usw.) zu bewundern und meiner Bewunderung auch öffentlich Ausdruck zu geben. Sein Irren soll auch für niemanden ein Grund sein, ihn als Literaten und insofern als Künstler zu ächten (z.B. seine literarischen Texte aus Schulbüchern zu tilgen). Und schliesslich reicht sein “Irrlauf” in dieser Sache für mich auch nicht aus, um Handke apodiktisch als unmoralischen Menschen zu bezeichnen.
interessanter artikel und thematik, interessanter einblick und blick auch auf bekannte künstler, von denen ich erstmalig las, dass sie eine kriminelle vergangenheit hatten.
Danke für das Kompliment!