Charles Stünzi: Die Künstler und ihre Moral (Essay)

Die Künstler und ihre Moral

Charles Stünzi

Der her­aus­ra­gen­de und frü­her hoch­ge­lob­te US-Schau­spie­ler Ke­vin Spacey ge­riet 2017 – im Kiel­was­ser des Wein­stein-Skan­dals und der dar­auf­fol­gen­den Me Too-Be­we­gung – ins Kreuz­feu­er der Kri­tik, als ihm vor­ge­wor­fen wur­de, er habe meh­re­re Män­ner se­xu­ell be­läs­tigt. In der Fol­ge fiel das Fall­beil der ame­ri­ka­nisch ge­präg­ten Po­li­ti­cal Cor­rect­ness: Spacey wur­de ge­sell­schaft­lich und be­ruf­lich boy­kot­tiert bzw. ge­äch­tet. Das heisst un­ter an­de­rem: Er be­kam kei­ne Auf­trä­ge mehr, und er wur­de in den Sze­nen exis­tie­ren­der Fil­me, in wel­chen er spiel­te, her­aus­ge­schnit­ten und durch an­de­re Schau­spie­ler ersetzt…

Vor Ge­richt hiel­ten die Vor­wür­fe ge­gen Spacey frei­lich nicht stand. Vor kur­zem wur­de er in al­len An­kla­ge­punk­ten für un­schul­dig er­klärt. Ge­rech­tig­keit ist dem An­ge­klag­ten of­fen­bar zu­min­dest in ju­ris­ti­scher Hin­sicht wi­der­fah­ren. Aber das Brand­mal bleibt, und ob Spacey die frü­he­re Ach­tung und Be­wun­de­rung je wie­der in vol­lem Mas­se zu Teil wer­den kön­nen, ist fraglich.
Mir aber stellt sich die Fra­ge: Wäre die oben be­schrie­be­ne Äch­tung Spaceys ge­recht­fer­tigt ge­we­sen, wenn sich die Vor­wür­fe ge­gen ihn be­wahr­hei­tet hät­ten? Oder soll­te man nicht bes­ser den Stel­len­wert ei­nes künst­le­ri­schen Wer­kes von der mo­ra­li­schen Be­wer­tung des Künst­lers (Ma­lers, Bild­hau­ers, Mu­si­kers, Re­gis­seurs, Schau­spie­lers, Dich­ters etc.) als In­di­vi­du­um trennen?

Sind gute Künstler auch gute Menschen?

Kevin Spacey - Schauspieler - Glarean Magazin
Zu Un­recht als Se­xu­al­ver­bre­cher ge­äch­tet: Hol­ly­wood-Schau­spie­ler Ke­vin Spacey

Und so­gleich stellt sich mir eine zwei­te Fra­ge: Sind gute Künst­ler im­mer auch gute Men­schen? So pos­tu­lier­te es im ver­gan­ge­nen März die Schrift­stel­le­rin Dana Gri­gorcea in ih­rer be­mer­kens­wer­ten Fest­re­de zur Tho­mas-Mann-Aus­stel­lung an der ETH in Zü­rich, und zwar wie folgt:
„Spä­tes­tens hier stellt sich die gros­se Fra­ge, ob die Kunst al­lein das Werk ei­nes mo­ra­lisch in­te­gren oder zu­min­dest zu mo­ra­li­scher Hal­tung stre­ben­den Men­schen sein kann. In die­ser Fra­ge bin ich mit der Er­fah­rung der kom­mu­nis­ti­schen Dik­ta­tur in mei­nem Ge­burts­land Ru­mä­ni­en ge­brand­markt und muss wohl aus­ru­fen: Ja! Unbedingt!“
Der ge­nann­te bio­gra­fi­sche Hin­ter­grund macht die Hal­tung der pro­mi­nen­ten Red­ne­rin ver­ständ­lich, und für Tho­mas Mann stimmt mei­nes Er­ach­tens die Glei­chung „Gu­ter Mensch – gute Kunst“ durch­aus, aber trotz­dem lau­tet mei­ne Ant­wort auf Frau Gri­gorce­as Fra­ge: „Nein! So all­ge­mein kann man die­se Glei­chung nicht machen.“

Dichter-Talent als Serienmörder

Will man Be­le­ge für mei­ne Hal­tung an­füh­ren, muss man nicht un­be­dingt den ös­ter­rei­chi­schen Schrift­stel­ler und Se­ri­en­mör­der Jack Un­ter­we­ger (1950-1994) als Bei­spiel neh­men. Un­ter­we­ger tö­te­te eine Frau. Im Ge­fäng­nis mu­tier­te er dann zu ei­nem viel­be­ach­te­ten, durch­aus ta­len­tier­ten Schrift­stel­ler. Dank der Un­ter­stüt­zung von Au­toren und Au­torin­nen wie Gün­ter Grass, Erich Fried, Ernst Jandl und El­frie­de Je­li­nek wur­de er als Mus­ter­bei­spiel für eine ge­lun­ge­ne Re­so­zia­li­sie­rung vor­zei­tig frei­ge­las­sen – und be­ging da­nach neun wei­te­re Frauenmorde!

Jean Genet - Glarean Magazin
Dieb, Land­strei­cher, De­ser­teur, Pro­sti­tu­ier­ter: Li­te­ra­tur-Ge­nie Jean Ge­net

Es geht auch we­ni­ger dras­tisch. Blei­ben wir vor­erst bei den Schrift­stel­lern. Frank­reich hat drei gros­se Li­te­ra­ten vor­zu­wei­sen, die teil­wei­se ein ver­bre­che­ri­sches Le­ben führ­ten: Fran­cois Vil­lon (1431-1463), Paul Ver­lai­ne (1844-1896) und Jean Ge­net (1910-1986). Aber auch die Deut­schen kön­nen sich ei­nes be­rühm­ten Au­tors rüh­men, der sich in sei­nen jün­ge­ren Jah­ren als klein­kri­mi­nel­ler Be­trü­ger, Dieb und Hoch­stap­ler auf il­le­ga­le und mo­ra­lisch höchst frag­wür­di­ge Wei­se durchs Le­ben schlug, näm­lich Karl May (1842-1912).

Dunkle Gestalten in der Renaissance

15 Szenen für Klavier - Cover-Umschlag - Walter Eigenmann - Glarean Magazin
An­zei­ge

Rich­ten wir un­se­ren Blick auf an­de­re Kunst­be­rei­che. In der Ge­schich­te der bil­den­den Kunst fin­den wir schon früh, näm­lich in der heh­ren Epo­che der Re­nais­sance, dunk­le Ge­stal­ten: Der be­rühm­te ita­lie­ni­sche Bild­hau­er Ben­ven­uto Cel­li­ni (1500-1571) und sein nicht min­der be­rühm­ter Lands­mann, der Ma­ler Ca­ra­vag­gio (1571-1610), sol­len zu ih­rer Zeit be­rüch­tig­te Schlä­ger­ty­pen ge­we­sen sein, die bei­de auch Mor­de be­gin­gen, Cel­li­ni so­gar de­ren zwei.
Man braucht je­doch nicht so weit zu­rück­zu­bli­cken, um un­ter den gros­sen bil­den­den Künst­lern mensch­lich bzw. mo­ra­lisch frag­wür­di­ge Ge­stal­ten zu fin­den. So wis­sen wir mitt­ler­wei­le, dass sich der re­nom­mier­te Ma­ler Emil Nol­de (1867-1956) im Drit­ten Reich als über­zeug­ter Ras­sist und An­ti­se­mit ge­bär­de­te. Das­sel­be gilt üb­ri­gens be­reits vor der Na­zi­zeit für den Kom­po­nis­ten Ri­chard Wag­ner (1813-1883).
Zu­rück zur bil­den­den Kunst: Au­gus­te Ro­din (1840-1917) war ei­ner­seits ei­ner der al­ler­bes­ten Bild­hau­er welt­weit und al­ler Zei­ten, aber an­der­seits auch ein Frau­en­ver­äch­ter, der sei­ne Ge­lieb­te Ca­mil­le Clau­di­ne ins Ver­der­ben stiess. Sie fris­te­te ihre letz­ten dreis­sig Jah­re ver­ges­sen in ei­ner psych­ia­tri­schen Anstalt.

Pablo Picasso - Maler - Glarean Magazin
Bru­tal, sa­dis­tisch, frau­en­ver­ach­tend: Jahr­hun­dert-Ma­ler Pa­blo Pi­cas­so (Bild: P.K./)

Noch Schlim­me­res auf die­sem Ge­biet weiss man vom Jahr­hun­dert­künst­ler Pa­blo Pi­cas­so (1881-1973), des­sen fünf­zigs­tes To­des­jahr wir ge­ra­de fei­ern. Sein Werk und sein Le­ben – und da­mit auch sei­ne Frau­en – sind, so heisst es un­wi­der­spro­chen, un­trenn­bar mit­ein­an­der ver­bun­den. Er, der wohl gröss­te und pro­duk­tivs­te Ma­ler der Mo­der­ne, war gleich­zei­tig ein ge­ra­de­zu klas­si­scher Ma­cho, der sei­ne Mu­sen, Mo­del­le, Ge­lieb­ten in­stru­men­ta­li­sier­te, schlecht be­han­del­te und am Schluss der je­wei­li­gen Li­ai­son in sei­nen Bil­dern teil­wei­se ge­ra­de­zu bös­ar­tig de­kon­stru­ier­te. Meh­re­re die­ser Frau­en en­de­ten im Wahn­sinn oder im Suizid.
Zum Schluss kom­men wir zum be­ein­dru­cken­den Schau­spie­ler Klaus Kin­ski (1926-1991). Man den­ke nur an sei­ne un­ver­gess­li­chen Rol­len in den Fil­men von Wer­ner Her­zog. Kin­ski soll ge­mäss sei­ner Toch­ter Pola Kin­ski die­se über vie­le Jah­re sys­te­ma­tisch se­xu­ell miss­braucht ha­ben. Bei ihm liegt die Ver­mu­tung nahe, dass er ge­ra­de des­halb so über­zeu­gend ab­stos­sen­de Fi­gu­ren dar­stel­len konn­te, weil er ein Psy­cho­path war. Die­ser un­er­freu­li­che, Angst ein­flös­sen­de Cha­rak­ter war ihm üb­ri­gens ge­ra­de­zu ins Ge­sicht geschnitten.

Künstlerisches Talent ist kein moralisches Verdienst

Karl May - Schriftsteller - Glarean Magazin
Hoch­stap­ler, Be­trü­ger, Lüg­ner: Best­sel­ler-Au­tor Karl May

Vil­lon, Ver­lai­ne, Ge­net, May, Ca­ra­vag­gio, Cel­li­ni, Nol­de, Wag­ner, Ro­din, Pi­cas­so, Kin­ski: Dies ist ge­ra­de­zu ein Pan­op­ti­kum gros­ser Künst­ler, die in ih­rem Ge­ba­ren ge­gen­über den Mit­men­schen al­les an­de­re als vor­bild­li­che Zeit­ge­nos­sen, son­dern über kür­ze­re oder wei­te Weg­stre­cken ih­res Le­bens ge­ra­de­zu das Ge­gen­teil da­von wa­ren, näm­lich böse Men­schen, teil­wei­se so­gar Schwer­ver­bre­cher. Die Grös­se ih­rer Kunst und gleich­zei­tig das Schlech­te ih­res Cha­rak­ters und ih­rer Ta­ten, ist das ein Zei­chen von Schi­zo­phre­nie? Ich glau­be nicht. Ta­lent bzw. Krea­ti­vi­tät im künst­le­ri­schen Be­reich ist ei­gent­lich kein Ver­dienst des je­wei­li­gen Künst­lers, schon gar kein mo­ra­li­sches. Ein Mensch ist künst­le­risch ta­len­tiert oder er ist es nicht. Da ist beim ju­gend­li­chen wer­den­den Künst­ler eine Be­ga­bung, also et­was ihm durch sei­ne Gene und mög­li­cher­wei­se auch durch sei­ne So­zia­li­sa­ti­on (sei­ne „Er­zie­hung“) Ge­ge­be­nes, Geschenktes.

Der Mythos des „geborenen Genies“

Klaus Kinski - Schauspieler - Glarean Magazin
Jah­re­lang die ei­ge­ne Toch­ter miss­braucht: Schau­spiel-Ge­nie Klaus Kin­ski

Frei­lich muss ein wer­den­der Künst­ler aus sei­ner Be­ga­bung durch sein ei­ge­nes Zu­tun et­was künst­le­risch Wert­vol­les ma­chen, in­dem er sich durch Ar­beit, Aus­bil­dung Wei­ter­bil­dung selbst för­dert und for­dert (und idea­ler­wei­se auch von an­de­ren ge­för­dert und ge­for­dert wird) bzw. an sei­nem Ta­lent feilt, um ein gu­ter oder gar gros­ser Künst­ler zu wer­den. Das „ge­bo­re­ne Ge­nie“ ist eine rei­ne Er­fin­dung des 19. Jahr­hun­derts. Beim Ta­lent, bei des­sen För­de­rung und beim schliess­lich er­reich­ten Sta­tus ist es völ­lig ir­rele­vant, ob der Künst­ler mo­ra­lisch ge­se­hen ein gu­ter oder schlech­ter Mensch ist.
Von Be­deu­tung kann aber die Tat­sa­che sein, dass Men­schen, die es als Künst­ler oder auf an­de­ren Ge­bie­ten (Po­li­tik, Wirt­schaft etc.) weit brin­gen wol­len und schliess­lich auch weit brin­gen, nor­ma­ler­wei­se sehr ehr­gei­zig sind und oft eine star­ke Ten­denz zum Nar­ziss­mus ha­ben, was sich bei man­chen in ei­ner ge­wis­sen Skru­pel­lo­sig­keit und Rück­sichts­lo­sig­keit zeigt. Des­halb, so mei­ne Hy­po­the­se, gibt es bei sol­chen Men­schen – also auch bei Künst­lern – viel­leicht eine et­was hö­he­re Quo­te an mo­ra­lisch frag­wür­di­gen Hal­tun­gen und Hand­lun­gen. Be­wei­sen kann ich das frei­lich nicht.

Trennung von Moral und Kunst

Carlo Gesualdo - Komponist - Glarean Magazin
Ge­nia­ler Mu­si­ker – und Mör­der: Kom­po­nist Car­lo Gesualdo

Wir kom­men zu­rück zum Be­ginn die­ser Aus­füh­run­gen. Mei­nes Er­ach­tens soll­te man grund­sätz­lich den Wert ei­nes künst­le­ri­schen Wer­kes völ­lig ge­trennt von der Mo­ral des Künst­lers be­trach­ten, be­ur­tei­len, an­er­ken­nen, ge­ge­be­nen­falls auch be­wun­dern. „The Ame­ri­can Way“, näm­lich die mo­ra­li­sie­ren­de Miss­ach­tung des künst­le­ri­schen Wer­tes des von ei­nem frag­wür­di­gen Men­schen ge­schaf­fe­nen Wer­kes auf­grund ei­ner das in­di­vi­du­el­le Ur­teils­ver­mö­gen über­la­gern­den „Po­li­ti­cal Cor­rect­ness“, das ist der fal­sche Weg.
So hal­te ich es z. B. für falsch, Fil­me des ge­nia­len Re­gis­seurs Woo­dy Al­len nicht mehr zu zei­gen, weil die­ser ein Ver­hält­nis mit sei­ner Ad­op­tiv­toch­ter hat­te und die­se spä­ter so­gar hei­ra­te­te, oder auch die Fil­me des nicht min­der ge­nia­len Re­gis­seurs Ro­man Pol­an­ski, der von den ame­ri­ka­ni­schen Be­hör­den we­gen ei­ner über vier­zig Jah­re zu­rück­lie­gen­den an­geb­li­chen Ver­ge­wal­ti­gung ei­ner Min­der­jäh­ri­gen ver­folgt wird.
Es gilt letzt­lich auf al­len Ge­bie­ten der Kunst, das Werk ei­nes Künst­lers un­ab­hän­gig von des­sen Cha­rak­ter, Le­bens­wan­del und mo­ra­li­scher so­wie ju­ris­ti­scher In­te­gri­tät zu be­ur­tei­len, dies der Kunst zu­lie­be. Sie soll al­lein an den ihr in­ne­woh­nen­den künst­le­ri­schen Wer­ten ge­mes­sen wer­den. Und na­tür­lich sol­len im je­wei­li­gen Werk ge­wis­se mo­ra­li­sche Gren­zen in­halt­lich nicht über­schrit­ten wer­den, z.B. durch Ge­walt­ver­herr­li­chung, Ras­sis­mus oder Dis­kri­mi­nie­rung von Minderheiten. ♦


Charles Stünzi - Die Künstler und ihre Moral - Essay im GLAREAN MAGAZINCharles Stünzi

Ge­bo­ren 1948 in Chur, Stu­di­um der An­glis­tik und Ger­ma­nis­tik in Ba­sel, seit 1976 Gym­na­si­al­leh­rer für Eng­lisch und La­tein, Vor­stands-Funk­tio­när ver­schie­de­ner Schrift­stel­ler-Ver­bän­de, zahl­rei­che Sach- und bel­le­tris­ti­sche Pu­bli­ka­tio­nen in Bü­chern und Zeit­schrif­ten, lebt in Glis/Wallis


6 Kommentare

  1. Lie­ber Charles Stünzi, im Prin­zip gebe ich Ih­nen Recht: ein her­vor­ra­gen­des Werk bleibt auch dann her­vor­ra­gend, wenn es sich her­aus­stellt, dass sein Er­zeu­ger ein Schuft ist. Eine sol­che Be­trach­tungs­wei­se hat aber ei­nen Ha­ken. Die Be­ur­tei­lung ei­nes be­lie­bi­gen Kunst­werks ist fast un­mög­lich zu be­werk­stel­li­gen, ohne sei­nen Ur­sprung zu ken­nen. Mit Ur­sprung mei­ne ich nicht ein­fach die Iden­ti­tät des Au­tors en, son­dern viel­mehr den (kunst)-historischen Kon­text, in dem es ent­stan­den ist. Man stel­le sich nur vor: da ist je­mand, dem ein Kunst­werk ge­zeigt wird, und die­ser weiss über­haupt nichts über des­sen Her­kunft bzw. den Er­zeu­ger. Dann könn­te der Be­trach­ter des be­sag­ten Kunst­werks eine von der Ur­sprungs­fra­ge un­ab­hän­gi­ge Mei­nung ab­ge­ben, die durch­aus an­ge­mes­sen ist. Ein sol­ches Sze­na­rio ist aber un­wahr­schein­lich und zu­min­dest in un­se­rem Kul­tur­raum un­üb­lich. Es ist na­he­zu un­mög­lich, die Her­kunft ei­nes Wer­kes kom­plett aus­zu­blen­den und sich nur mit des­sen In­halt aus­ein­an­der­zu­set­zen. Bei zeit­ge­nös­si­schen Künst­lern und de­ren Wer­ken kommt ein wei­te­rer Aspekt hin­zu, wel­cher die Tren­nung von Kunst vom Er­zeu­ger er­schwert: näm­lich die wirt­schaft­li­che Aus­wir­kung des Kunst­kon­sums. Der Au­tor be­an­sprucht ge­recht­fer­tig­ter­wei­se eine Ent­löh­nung für sei­nen künst­le­ri­schen Bei­trag. Wenn er aber ein un­mo­ra­li­scher Schuft ist, wel­cher der Ge­sell­schaft Scha­den zu­fügt, dann ist es durch­aus le­gi­tim, sein – noch so qua­li­ta­tiv hoch­ste­hen­des – Werk zu igno­rie­ren. So sehe ich zu­min­dest als dis­ku­ta­bel an, der Per­for­mance des Pink Floyd Gi­tar­ris­ten Ro­ger Wa­ters fern­zu­blei­ben, wenn die­ser auf scham­lo­ses­te Wei­se an­ti­se­mi­ti­sche Kli­schees be­dient. Drum fin­de ich es le­gi­tim über die Kon­sum­ver­wei­ge­rung (und nicht al­lein über die qua­li­ta­ti­ve Be­wer­tung ei­ner künst­le­ri­schen Leis­tung) ein Zei­chen zu setzen.

    • Auch Ih­nen sei für Ihre in­ter­es­san­ten Aus­füh­run­gen herz­lich ge­dankt. Hier ein paar Wor­te zur Er­klä­rung mei­ner Hal­tung: Mei­ne Pro­fes­so­ren für deut­sche Li­te­ra­tur an der Uni Ba­sel in den spä­ten sech­zi­ger und den frü­hen sieb­zi­ger Jah­ren, Karl Pes­ta­loz­zi und Mar­tin Stern, wa­ren bei­de Schü­ler des le­gen­dä­ren Emil Staiger und da­mit Ver­tre­ter der werks­im­ma­nen­ten Me­tho­de. Ver­ein­facht aus­ge­drückt heisst das: Bei der In­ter­pre­ta­ti­on und Wer­tung von li­te­ra­ri­schen Wer­ken ist grund­sätz­lich ihr „In­ne­res“ zu be­rück­sich­ti­gen, also der Text an sich. „Äus­se­re“ Fak­to­ren, z.B. so­zia­le, his­to­ri­sche und bio­gra­fi­sche (!), sind nur dann als li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­lich re­le­vant in Be­tracht zu zie­hen, wenn sie auf das We­sen und der Wert ei­nes Tex­tes ei­nen nach­weis­ba­ren Ein­fluss ha­ben bzw. die­sen zu ver­ste­hen hel­fen. Die­se Theo­rie hat mei­ne Be­trach­tungs­wei­se von li­te­ra­ri­schen Tex­ten und auch von an­de­ren Kunst­for­men we­sent­lich ge­prägt, wie es auch in mei­nem „Glarean-Es­say“ deut­lich zum Aus­druck kommt.
      Ihre Be­mer­kung zu Ro­ger Wa­ters kann ich so un­ter­schrei­ben. Ich spre­che in die­sem Fall und auch in an­de­ren Kul­tur­be­rei­chen nie­man­dem das in­di­vi­du­el­le Kon­sum­ver­wei­ge­rungs­recht ab, aus wel­chen Grün­den auch im­mer die Ver­wei­ge­rung ge­schieht. Auch ist es im recht­lich vor­ge­ge­be­nen Rah­men Sa­che je­des Mu­sik-Ver­an­stal­ters, Pro­mo­tors oder Spon­sors, wel­che Mu­sik­rich­tung und wel­che Acts er be­rück­sich­tigt und wel­che nicht, und zwar ohne dies be­grün­den oder recht­fer­ti­gen zu müs­sen. Ein ge­ne­rel­ler Boy­kott ge­gen den streit­ba­ren Mu­si­ker Wa­ters und sein Werk wäre für mich ein No-Go. Ich selbst habe am Fern­se­hen sein mo­nu­men­ta­les Opus „The Wall“ un­ein­ge­schränkt und sehr be­ein­druckt genossen.
      Charles Stünzi

  2. Dan­ke für die­sen in­ter­es­san­ten Über­blick und Ihre Ar­gu­men­ta­ti­on, Herr Stünzi. Ich kann sie nach­voll­zie­hen, nei­ge zur Zustimmung.
    Al­ler­dings, Ihre „strik­te Tren­nung von Kunst und Mo­ral“ ist eher die Aus­nah­me im gän­gi­gen Dis­kurs zum The­ma. Bei­spiels­wei­se ist der deut­sche Feuil­le­ton-Au­tor der SZ Till Brie­g­leb – in ei­nem Streit­ge­spräch mit der Schrift­stel­le­rin Thea Dorf im Deutsch­land­funk: „Muss Kunst mo­ra­lisch sein?“ – de­zi­diert an­de­rer Ansicht:
    Zi­tat: „Was mo­ra­lisch sein muss, ist der Künst­ler sel­ber, wenn er sich zu po­li­ti­schen und welt­po­li­ti­schen Din­gen äu­ßert und dort sei­nen per­sön­li­chen Ein­fluss als Au­tor nimmt, da ist dann Mo­ral tat­säch­lich eine Ka­te­go­rie, die man an ihn an­le­gen kann.“ […] „Es muss in der Kunst al­les mög­lich sein. In dem Mo­ment, wo ich mich in eine po­li­ti­sche De­bat­te be­ge­be, da muss ich mich aber die­sen po­li­tisch-mo­ra­li­schen Ar­gu­men­ten sehr wohl viel kon­kre­ter stellen“.
    In die­ser De­bat­te ging es kon­kret al­ler­dings nicht um Die­be und Mör­der wie in Ih­rem Es­say, son­dern um das po­li­ti­sche State­ment von Pe­ter Hand­ke und des­sen Un­ter­stüt­zung der ser­bi­schen Ver­bre­chen in den Bal­kan-Krie­gen an­fangs der Neunziger.
    Quel­le: https://www.deutschlandfunk.de/thea-dorn-vs-till-briegleb-muss-kunst-moralisch-sein-100.html
    J. We­ber / Ff/M

    • Ich dan­ke Ih­nen für Ih­ren in­ter­es­san­ten Bei­trag. Der von Ih­nen an­ge­führ­te Fall wi­der­spricht mei­nes Er­ach­tens mei­ner The­se nicht. Es geht in Brie­g­lebs State­ment nicht um Pe­ter Hand­kes Kunst (Fic­tion), son­dern um sein – wie Sie selbst schrei­ben – „po­li­ti­sches State­ment“ (Non-Fic­tion) zu den Bal­kan-Krie­gen. Dass er da­bei irrt und sich auch an­ge­sichts sei­nes zu Recht ho­hen li­te­ra­ri­schen Ran­ges ver­ant­wor­tungs­los äus­sert, ist auch mei­ne Mei­nung. Ergo muss­te und muss ihm in die­ser Sa­che en­er­gisch wi­der­spro­chen wer­den. Das hin­dert mich aber nicht dar­an, sei­ne li­te­ra­ri­sche Kunst (Ro­ma­ne, Ge­schich­ten usw.) zu be­wun­dern und mei­ner Be­wun­de­rung auch öf­fent­lich Aus­druck zu ge­ben. Sein Ir­ren soll auch für nie­man­den ein Grund sein, ihn als Li­te­ra­ten und in­so­fern als Künst­ler zu äch­ten (z.B. sei­ne li­te­ra­ri­schen Tex­te aus Schul­bü­chern zu til­gen). Und schliess­lich reicht sein „Irr­lauf“ in die­ser Sa­che für mich auch nicht aus, um Hand­ke apo­dik­tisch als un­mo­ra­li­schen Men­schen zu bezeichnen.

  3. in­ter­es­san­ter ar­ti­kel und the­ma­tik, in­ter­es­san­ter ein­blick und blick auch auf be­kann­te künst­ler, von de­nen ich erst­ma­lig las, dass sie eine kri­mi­nel­le ver­gan­gen­heit hatten.

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