Peter Biro: Januartage in Krakau (Ein Reisebericht)

Januartage in Krakau

Peter Biro

Der Januar gilt nicht unbe­dingt als beste Rei­se­zeit für Polen, erst recht nicht der dies­jäh­rige, wenn in nicht allzu gro­ßer Ent­fer­nung der Krieg in der Ukraine tobt. Aber eine Vor­trags­ein­la­dung sei­tens eines Lehr­kran­ken­hau­ses der Jagel­lo­ni­schen Uni­ver­si­tät war Grund genug, meine wohl­ge­wärmte Kom­fort­zone zu ver­las­sen und für fünf Tage in die alte Königs­stadt Kra­kau an der Weich­sel zu reisen.

Das Wet­ter war uns gewo­gen, denn es reg­nete nur wenig, die Tages­tem­pe­ra­tur lag im unte­ren Plus­be­reich, und manch­mal schien sogar die Sonne auf die kar­me­sin­ro­ten Haus­dä­cher, die unzäh­li­gen Kirch­türme und die beleb­ten Plätze der Stadt her­nie­der. Auch auf den zwei­ten Blick prä­sen­tierte sich Kra­kau wie eine gepflegte mit­tel­eu­ro­päi­scher Stadt, ganz so, als hätte es vor nicht allzu lan­ger Zeit kei­nen Welt­krieg und kei­nen Sozia­lis­mus gegeben.

Blick auf Krakau - Glarean Magazin
Blick auf Krakau/Polen

Erfreu­li­cher­weise scheint zumin­dest Kra­kaus Stadt­kern vom volks­de­mo­kra­ti­schen Bau­fie­ber mit uni­for­men Beton­blö­cken ver­schont wor­den zu sein – die Alt­stadt und auch die umge­ben­den Anteile drum­herum wir­ken stim­mig und ver­strö­men den Charme der Vor­kriegs­zeit. Mit einer Aus­nahme: der frü­her prä­gende jüdi­sche Anteil in der Bevöl­ke­rung von ehe­dem 25% ist bis auf einen klei­nen Rest ver­schwun­den. Umso mehr bemüht man sich, deren Über­bleib­sel zu pfle­gen und sie in einem prä­sen­ta­blen Zustand zu erhalten.
Die Stadt pro­fi­tiert jeden­falls erheb­lich von einem aus­ge­präg­ten Nost­al­gie-Tou­ris­mus aus Israel und der jüdi­schen Dia­spora. Das betrifft vor allem den Stadt­teil Kazi­mierz, das Ghetto in Pod­górze auf der ande­ren Fluss­seite und natür­lich das zum Museum und Mahn­mal her­ge­rich­tete ehe­ma­lige Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger Aus­schwitz in etwa 60 km Entfernung.

Artefakte einer versunkenen Kultur

Längst vergangene Kultur: Impression aus Kazimierz/Krakau
Längst ver­gan­gene Kul­tur: Impres­sion aus Kazimierz/Krakau

In Kazi­mierz fin­det man die wich­tigs­ten jüdi­schen Bezugs­punkte nah bei­ein­an­der. Von beson­de­rem Inter­esse ist das “Żydowskie Muzeum Galicja” mit einer sehr umfang­rei­chen Samm­lung von Expo­na­ten der jüdi­schen Prä­senz seit dem Mit­tel­al­ter bis zur tra­gi­schen Ver­nich­tung die­ser ehe­mals gro­ßen und bedeu­ten­den Gemeinde.
Wenige Geh­mi­nu­ten ent­fernt ist die Alte Syn­agoge von Kra­kau, die im Stil stark an die Pra­ger Alt­neu­schule erin­nert und nur unwe­sent­lich jün­ger ist. Auch die­ses Gebäude ist museal ein­ge­rich­tet und prä­sen­tiert Arte­fakte der unter­ge­gan­ge­nen Kul­tur. Sie ist nur eine von Dut­zen­den ehe­ma­li­ger Gebets­häu­ser und Gemeindeeinrichtungen.
Um den Platz vor der Syn­agoge rei­hen sich sowohl modisch als auch alt­mo­disch ein­ge­rich­tete Restau­rants und Kaf­fee­häu­ser, die mehr oder weni­ger jüdi­schen Cha­rak­ter haben und eben­sol­che Spei­sen ser­vie­ren. Davor lun­gern rund ein Dut­zend Klein­trans­por­ter, wel­che die Tou­ris­ten zu den Sehens­wür­dig­kei­ten der Stadt einladen.

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Einen beson­ders tris­ten Ein­druck ver­mit­telt das ehe­ma­lige Ghetto auf der gegen­über­lie­gen­den Seite der Weich­sel. Abge­se­hen von einem erhal­te­nen Teil­stück der Mauer, die sin­ni­ger­weise aus Ele­men­ten in Form von anein­an­der gereih­ten Geset­zes­ta­feln besteht, sind prak­tisch alle Gebäude erhal­ten geblie­ben, man­che im Ori­gi­nal­zu­stand, andere bereits reno­viert. Infor­ma­tive Tafeln an den Fas­sa­den ver­kün­den von ihrer frü­he­ren Ver­wen­dung als Wohn­haus für die zusam­men­ge­pferch­ten Bewoh­ner, als Kran­ken- oder Wai­sen­haus (deren Ein­woh­ner in einer Aktion der SS an Ort und Stelle liqui­diert wur­den) und ebenso der Sitz des Juden­rats, wel­ches die unmensch­li­chen Anwei­sun­gen der Her­ren­rasse aus­zu­füh­ren hatte.

Eroberung und Verlust

Über allen die­sen trau­ri­gen – aber sehr ansehn­lich her­ge­rich­te­ten – Stät­ten thront majes­tä­tisch die Burg “Wawel”. Jahr­hun­derte lang war sie der Sitz der pol­ni­schen Herr­scher, dar­un­ter auch von Ste­phan IV. Báthory (1533–1586), der seit 1571 Fürst von Trans­sil­va­nien und seit 1575/76 König von Polen war. Von 1579 bis 1581 führte er meh­rere erfolg­rei­che Feld­züge gegen den Zaren Iwan IV. von Russ­land und eroberte dabei erheb­li­che Gebiete im Osten, die für Polen inzwi­schen wie­der ver­lo­ren­ge­gan­gen sind – ein typi­sches, sich wie­der­ho­len­des Mus­ter der pol­ni­schen Geschichte. Wegen sei­ner Erfolge und Refor­men wird Báthory als bedeu­tends­ter Herr­scher verehrt.

Sitz der alten polnischen Herrscher: Burg Wawel/Krakau
Sitz der alten pol­ni­schen Herr­scher: Burg Wawel/Krakau (Bild: P.Biro)

Viel frü­her, zur Zeit der mon­go­li­schen Inva­sio­nen Euro­pas im 13. Jahr­hun­dert erwies sich der Wawel als unein­nehm­bar. Nicht so die Stadt selbst, die im Win­ter 1240/41 kom­plett zer­stört wurde. Erst im April 1241, nach der Schlacht von Lie­gnitz konn­ten die Inva­so­ren nach­hal­tig aus Ost­eu­ropa ver­trie­ben wer­den. Zur Erin­ne­rung an die Bela­ge­rung der Stadt erklingt heute noch zu jeder vol­len Stunde vom Turm der Mari­en­kir­che eine Trom­pe­ten­fan­fare, die jäh abbricht, weil – der Legende nach – der Trom­pe­ter inmit­ten sei­nes Warn­si­gnals von einem mon­go­li­schen Pfeil getrof­fen wor­den war.

Zwischen Renaissance und Gründerzeit

Einer der schönsten Plätze Osteuropas: Rynek Glówny
Einer der schöns­ten Plätze Ost­eu­ro­pas: Der Rynek Glówny (Bild: P.Biro)

Kra­kaus Alt­stadt ist von einem schö­nen, als Park aus­ge­leg­ten grü­nen Gür­tel umge­ben und hat in sei­ner Mitte einen der schöns­ten Plätze Ost­eu­ro­pas vor­zu­wei­sen, den Rynek Główny, der eine gelun­gene Restau­ra­tion von Ele­men­ten aus der Renais­sance, Barock und Grün­der­zeit har­mo­nisch ver­ei­nigt. Der Platz wird von zahl­lo­sen Fla­neu­ren, Tou­ris­ten, Stras­sen­künst­lern, lizen­zier­ten und Möch­te­gern-Frem­den­füh­rern sowie von Unmen­gen von Tau­ben bevöl­kert. Zur­zeit fin­den dort regel­mä­ßig Demons­tra­tio­nen und Sam­mel­ak­tio­nen für die Ukraine statt.

Arbeit macht frei”

Nach zwei Tagen aus­gie­bi­ger Stadt­be­sich­ti­gung nah­men wir den Bus nach Ausch­witz. Das Stamm­la­ger (Ausch­witz I) befin­det sich inzwi­schen inmit­ten der gleich­na­mi­gen Ort­schaft, die es mitt­ler­weile kom­plett ein­ge­kreist hat. Die­ser Kom­plex war eine ehe­ma­lige pol­ni­sche Mili­tär­ka­serne, die von den Deut­schen als Keim­zelle des Lagers umfunk­tio­niert wurde. Dort geht man unter der berüch­tig­ten Tor-Inschrift “Arbeit macht frei” hin­durch und kann ver­schie­dene Bara­cken besich­ti­gen, die unter­schied­li­che Aspekte des Gesche­hens vor Ort darstellen.

Berge von Leichen, Überresten, Hinterlassenschaften bei der Befreiung des KZ Auschwitz: Prothesen von ermordeten Gefangenenen
Berge von Lei­chen, Über­res­ten, Hin­ter­las­sen­schaf­ten bei der Befrei­ung der deut­schen Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger; hier: Pro­the­sen von ermor­de­ten jüdi­schen Gefan­ge­nen im KZ Auschwitz

Die wohl erschüt­terndste Aus­stel­lung sind die gewal­ti­gen Berge der Hin­ter­las­sen­schaf­ten der ehe­ma­li­gen Lager­in­sas­sen und der liqui­dier­ten Häft­linge. Hin­ter rie­si­gen Vitri­nen sind Kof­fer, Schuhe, per­sön­li­che Gegen­stände, Bril­len und abge­schnit­te­nes Frau­en­haar zu sehen. Die gewal­ti­gen Aus­maße die­ser Dinge tra­gen dazu bei, dass man die ansons­ten unvor­stell­ba­ren Dimen­sio­nen des­sen, was dort gesche­hen ist, viel­leicht ansatz­weise nach­voll­zie­hen kann.

Verkörperungen des Grauens

Zeugnisse der massenmörderischen Perfektion - Gesprengte Gaskammern und Krematorium Auschwitz-Birkenau - Glarean Magazin
Zeug­nisse der mas­sen­mör­de­ri­schen Per­fek­tion – Gespreng­tes Kre­ma­to­rium mit unter­ir­di­scher Gas­kam­mer in Ausch­witz-Bir­kenau (Bild: P.Biro)

Am Ende der Lager­strasse befin­det sich die erste Gas­kam­mer mit Kre­ma­to­rium, in der der Mas­sen­mord aus­pro­biert und eine Weile prak­ti­ziert wurde, bis die fabrik­mä­ßi­gen Anla­gen vom grö­ße­ren Lager Ausch­witz II Bir­kenau in Betrieb genom­men wur­den. Als klei­ner Trost steht dane­ben der Gal­gen, an dem der Lager­kom­man­dant Rudolph Höss im April 1947 gehängt wurde.
Ein Shut­tle­bus bringt die Besu­cher in die abso­lute Ver­kör­pe­rung des Grau­ens: ins grö­ßere Aus­sen­la­ger Ausch­witz II Bir­kenau. Die­ses ist der Ort, wo im Som­mer 1944 die letzte und mas­sivste Ver­nich­tungs­ak­tion der Nazis statt­fand: Die Ermor­dung der unga­ri­schen Juden ein­schließ­lich der­je­ni­gen aus Nordsiebenbürgen.

Der kalte Hauch des Todes

Schiene in den Tod: Eisenbahn-Linie ins Konzentrationslager Auschwitz
Schiene in den Tod: Eisen­bahn-Linie zum Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger Ausch­witz der deut­schen Nazis (Bild: P.Biro)

Erst wan­der­ten wir ent­lang des Schie­nen­paars auf der berüch­tig­ten “Rampe”, wo die Ankömm­linge aus den Wag­gons geholt und direkt zur Selek­tion getrie­ben wur­den. Rechts und links erstre­cken sich die Über­bleib­sel hun­der­ter Bara­cken, bestehend aus je zwei Schorn­stei­nen und dem Umriss der stei­ner­nen Fun­da­mente. Die höl­zer­nen Auf­bau­ten exis­tie­ren nicht mehr. Diese fast bis zum Hori­zont rei­chen­den Sil­hou­et­ten ver­strö­men immer noch den kal­ten Hauch des Todes, der jeden ihrer dama­li­gen Insas­sen bedrohte und die meis­ten auch ein­holte. Dahin­ter sah man nichts als ent­laubte Bäume, den grauen Janu­ar­him­mel und eine gespens­ti­sche Leere.

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Ganz am Ende des Gelän­des sind die gespreng­ten Reste der bei­den Ver­nich­tungs­ma­schi­ne­rien: Gas­kam­mern und Kre­ma­to­rien. Vor ihrem über­stürz­ten Abzug vor der nahen­den Roten Armee haben die SS-Scher­gen diese Anla­gen gesprengt, um die Spu­ren ihrer Taten zu besei­ti­gen. Ver­ge­bens, wie wir heute wis­sen. Neben den mehr­spra­chig bezeich­ne­ten Mahn­ma­len sind noch mit Was­ser gefüllte Gru­ben zu sehen, wo die Asche der Opfer ver­streut wurde.
Der Besuch von Ausch­witz erwies sich als außer­or­dent­lich belas­tend, erschüt­ternd und allein schon wegen sei­ner schie­ren Aus­deh­nung auch phy­sisch ermü­dend. Doch trotz allem war es eine Not­wen­dig­keit, wenigs­tens ein­mal, rund acht Jahr­zehnte nach den Ereig­nis­sen, die­sen Ort auf­zu­su­chen. Ob man es will oder nicht, es prägt einen auch in der zwei­ten Gene­ra­tion nach dem Holocaust. ♦

Lesen Sie im GLAREAN MAGAZIN zum Thema Natio­nal­so­zia­lis­mus auch über Han­nes Bahr­mann: Rat­ten­nest – Argen­ti­nien und die Nazis

…sowie außer­dem zum Thema Nazis über H.-J. Neu­mann & H. Eberle: War Hit­ler krank? – Ein abschlie­ßen­der Befund


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Ein Kommentar

  1. Auf Recher­che für eine erneute Reise nach Kra­kau bin ich auf die­sen Bericht gesto­ßen. Jetzt freue ich mich noch mehr auf mein Wochen­ende. Viele Grüße Mandy

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