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Wild, animalisch, schön, frei
von Katka Räber
Endlich konnte in Locarno wieder das Internationale Filmfestival – unter Corona-Schutzmassnahmen – über die Piazza Grande gehen. Welch eine Wohltat, welch ein Fest der Sinne! Für mich war diesmal der Spielfilm „Soul of a Beast“ des Regisseurs Lorenz Merz der herausragende Schweizer Beitrag.
Warum gehe ich ins Kino? Was erwarte ich von einem Kinobesuch? Was geben mir Filme? Mit Filmen kann ich reisen, auch ganz weit, ohne ins Flugzeug steigen zu müssen. Ein Kinobesuch ist immer billiger als jeder Easy-Jet-Flug – und für die Umwelt viel gesünder. Filme können mich in die entferntesten Landschaften entführen. Sie bringen mir fremde Kulturen, fremde Lebensarten, fremde Schicksale näher. Ich kann mich identifizieren – oder gerade umgekehrt: Meine Position differenzieren. Ich kann Empathie mit den Protagonist/Inn/en empfinden oder mich mit meiner Meinung abgrenzen. Filme regen mich an, liefern Diskussionsstoff, verleiten zum Träumen oder vermitteln mir neue Informationen, neue Lösungen von Lebensproblemen. Oder (last but not least) sie unterhalten mich und bringen mich auf neue oder andere Gedanken.
Jung, leidenschaftlich, authentisch
Vieles davon deckt für mich der herausragende Schweizer Film „Soul of a Beast“ ab, bei dem eigentlich nur die „schwizerdütschen“ Dialoge darauf hinweisen, dass es ein helvetischer Streifen ist.
Der Film ist jung, leidenschaftlich, schnell, authentisch und stark. Die Geschichten des jungen Mannes Gabriel, der als Teenie in Zürich Vater geworden ist und jetzt als alleinerziehender Jugendlicher seines ca. dreijährigen Sohnes zwischen Verantwortung und seiner jugendlichen Lebensfreude und Lust am Ausprobieren und Ausloten von Grenzen pendelt.
Hierzu wird das Publikum auf eine hinreissende Art mitgenommen. Zoé, die ebenfalls noch nicht volljährige Mutter des kleinen Jaimie, ist im Gegensatz zum wilden Skateboardfahrer Gabriel, der zusammen mit seinem Freund Joel das urbane Zürich unsicher macht, ein verwöhntes Kind der Zürcher Goldküste und in ihrem steten Drogenrausch als Mutter nicht zu gebrauchen. Gabriel verliebt sich in die Freundin seines Freundes Joel, in die ungezähmte Corey, die gerade auf dem Sprung ist zu ihrem Vater nach Südamerika. Junges, wildes Verliebsein, Eifersucht und Gefühle von Verrat und Freundschaft, von Verantwortung und Traum.
Schöne junge Menschen im Gefühlschaos
Ich habe selten diese Zerrissenheit von jugendlicher Unbekümmertheit, Risikobereitschaft und Verantwortung auch körperlich auf der Leinwand dargestellt gesehen und dadurch im eigenen Inneren als Erinnerung erlebt. Da stimmt der wilde Rhythmus, die Bilderfolge, hervorragend durch die Kamera eingefangen, die schauspielerische Leistung aller Mitwirkenden, einschliesslich des kleinen Jaimie.
Obwohl auch Drogen und grosse Gefahren eine Rolle spielen, schaut man den schönen jungen Menschen in ihrem Gefühlschaos gerne zu. Das fast animalische Gefühl des Wunsches nach Freiheit, das filmische Einfangen der jungen Sexualität und der Zerrissenheit zwischen Wunschträumen und Wirklichkeit sind sehr menschlich und feinfühlig dargestellt. Die Seele eines wilden Tieres schlummert in so manchem jungen Menschen. Wehe, wenn sie losgelassen…
„Soul of a Beast“ hätte ich sogar den Goldenen Leoparden gegönnt, was ich sonst praktisch noch nie bei Schweizer Produktionen in Erwägung gezogen habe. Wobei man sich keineswegs immer mit den Protagonisten identifizieren muss, um mit Sympathie und Empathie an ihrer Seite zu stehen. Es war der authentische Rhythmus und Ton der Bilder und die Echtheit der jungen Gefühle, die mich filmisch absolut überzeugt haben. Herausragend. ♦
Lorenz Merz (Regie): Soul of a Beast – Spielfilm, mit Pablo Caprez, Ella Rumpf, Luna Wedler, Tonatiuh Radzi u.a., 100 Minuten
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