Die Schweizer Literaturschrift TÄXTZIT (“Textzeit” – Band 12)

Reichhaltige Literatur-Landschaft

von Walter Eigenmann

Neben den unzäh­li­gen Online-Lite­ra­tur-Por­ta­len jeg­li­cher Genre- und Stil-Cou­leur wird oft ver­ges­sen, dass auch noch ein paar papie­rene Reprä­sen­tan­ten der Gat­tung “Lite­ra­tur­zeit­schrift” die hel­ve­ti­sche Land­schaft des künst­le­ri­schen Schrei­bens ein­fär­ben. TÄXTZIT (“Text­zeit”) ist eine die­ser sel­te­nen, bei­leibe nicht nost­al­gi­schen Lite­ra­tur-Gazet­ten – ein aus­schließ­lich von und für Schwei­zer Autoren geschaf­fe­nes “Prä­sen­ta­ti­ons­fo­rum für Schrei­bende und Illustrierende”.

TÄXTZIT – Die Schwei­zer Lite­ra­tur­schrift” will gemäß Selbst­dar­stel­lung den “pro­fes­sio­nell Schrei­ben­den und Illus­trie­ren­den ein kos­ten­lo­ses Prä­sen­ta­ti­ons­fo­rum bie­ten, sie schweiz­weit bekannt und damit die Lite­ra­tur- wie die Illus­tra­tio­nen­land­schaft berei­chern und viel­fäl­ti­ger machen”. Ein heh­res und ehren­haf­tes Ziel – weder ori­gi­nell noch neu zwar, aber wich­tig und inter­es­sant, sofern die Qua­li­tät der Inhalte stimmt.

Wertschätzung der literarischen Arbeit

TäxtzIt (Textzeit) - Die Schweizer Literaturschrift - Cover Band 12 - Rezensionen GLAREAN MAGAZINMitt­ler­weile sind der Initi­ant & Ver­le­ger Arno Seeli und seine Mit­strei­ter bei Band 12 (Juni 2021) ange­kom­men, nach­dem man vor rund neun Jah­ren (März 2012) die aller­erste Aus­gabe vom Sta­pel gelas­sen hatte. Aktu­ell ent­hält das Heft 52 Sei­ten “erle­sene Lite­ra­tur und Illus­tra­tio­nen”, gedruckt wird eine Auf­lage von 1’000 Exemplaren.

Eine lobens­werte Beson­der­heit von TÄXTZIT ist, dass seit Heft 9 den Autor*innen ein Sei­ten­ho­no­rar von 45 Fran­ken bezahlt wird. Das scheint nur auf den ers­ten Blick wenig; in Zei­ten der gras­sie­ren­den “Druck­zu­schuss-Ver­lage”, wo die Schrei­ben­den für ihre Ver­öf­fent­li­chun­gen gar selbst zur Kasse gebe­ten wer­den, ist das viel­mehr eine schöne Geste der Aner­ken­nung und Wert­schät­zung ihrer lite­ra­ri­schen Arbeit.

Ohne thematische Fokussierung

Arno Seeli und seine Crew arbei­ten ohne the­ma­ti­sche Schwer­punkte oder gen­re­spe­zi­fi­sche Vor­ga­ben. Neben kurz­pro­sa­ischen Tex­ten fin­det sich ebenso das knappe Gedicht oder die lite­ra­ri­sche Buch­be­spre­chung wie die auto­bio­gra­phi­sche Notiz oder die augen­zwin­kernde Alpen-Satire.
Gar­niert und struk­tu­riert wer­den dies­mal alle Texte mit Schwarz-Weiß-Zeich­nun­gen der Zür­cher Illus­tra­to­rin Yas­min König. Auch sie ist zeich­ne­risch viel­fäl­tig zugange, aber meist gehört ihre Auf­merk­sam­keit dem idyl­li­schen Stim­mungs­bild oder der Moment­auf­nahme aus Fami­lie und Natur. Dabei stel­len die ganz­sei­ti­gen Illus­tra­tio­nen einen unge­zwun­ge­nen Bezug zum vor­aus­ge­gan­ge­nen Text her, in jedem Falle lockern sie die “Blei­wüste” des Druck­tex­tes mit schlicht-ein­dring­li­chem Zei­chen­strich auf.

Ein Dutzend Schweizer Autor*innen

Melanie Gerber - Glarean Magazin
Mela­nie Ger­ber (pho­to­and­more)

Zufall oder auch nicht: Genau zwölf hel­ve­ti­sche Schriftsteller*innen prä­sen­tiert diese zwölfte TÄXT­ZYT-Num­mer. Die Namen der Autor*innen sind dabei so illus­ter wie ihre Beiträge.
Mela­nie Ger­ber eröff­net mit “Zuhause” den Texte-Rei­gen und erzählt von einer, die just zu Beginn der Corona-Pan­de­mie und nach einer kürz­li­chen Tren­nung aus der gemein­sa­men Woh­nung weg­zieht – und trotz ihrer vie­len Umbrü­che und Bau­stel­len und der all­ge­mei­nen End­zeit­stim­mung die Kurve doch noch kriegt und sich auf dem Bal­kon ein neues inne­res Zuhause erobert.
Ein zwei­ter Text “Was ich nicht weiß” von Ger­ber ist dann sehr viel erns­te­rer Natur: Er the­ma­ti­siert ver­schie­dene Mög­lich­kei­ten der Begeg­nung mit dem Tod – auch jenem von Kin­dern. Ange­regt wird die Schaf­fung von sta­tio­nä­ren Schwei­zer Kinderhospizen.

Anzeige Amazon: Dominik Brun - Bibberland, Zeitgeistangst oder Die letzten Minuten der Menschheit
Anzeige

Nicht fik­tiv, son­dern doku­men­tie­rend sind zwei Bei­träge von Domi­nik Riedo unter­wegs. Riedo repor­tiert zum einen gewisse Zustände bzw. Prak­ti­ken des Schwei­zer Gesund­heits- bzw. Spi­tal­we­sens. In sei­nem zwei­ten Arti­kel wür­digt er das lite­ra­ri­sche Schaf­fen von Carl A. Loosli, dem “Karl Kraus der Schweiz”, wie er die­sen ach­tungs­voll titu­liert. Und dabei einen “gan­zen Kos­mos ‘Loosli'” kon­sta­tiert, den es – nun, da es im Rot­punkt-Ver­lag eine neue Werk­aus­gabe in 7 Bän­den gebe – noch inten­si­ver zu erfor­schen gelte. Denn Loosli’s Zeit beginne jetzt erst wirk­lich, ist Riedo über­zeugt, und seine Rezep­tion würde einer Schweiz gut­tun, “die auch heute viele der von Loosli ange­pran­ger­ten Miss­stände wei­ter­hin nicht beho­ben” habe.

Idyllisches neben Satirischem

Lilly Bardill - Glarean Magazin - Autorin
Lilly Bar­dill (geb. 1935)

Die Chu­rer Erzäh­le­rin Lilly Bar­dill, mit 86 Jah­ren die erfah­renste der hier ver­tre­te­nen Autorin­nen, schil­dert in “Jakobs Aus­flug” die Eska­pa­den eines leicht demen­ten Betag­ten­heim-Bewoh­ners, der sich auf einer Reise zu sei­ner Toch­ter in schö­nen Augen­bli­cken ver­liert und des­halb nie am Ziel ankommt.  Es geschieht, was gesche­hen muss: Jakob wird ver­misst, die poli­zei­li­che Suche beginnt… Der Plot der kur­zen Story mag nicht neu sein, wird aber von der Autorin rüh­rend-ver­schmitzt und empa­thisch präsentiert.
Def­ti­ger geht’s zur Sache in San­dra Rut­schis drei­sei­ti­ger Gro­teske “Als der Mönch nach Hawaii durch­brannte”. Das welt­be­rühmte Berge-Trio Eiger, Mönch und Jung­frau erwacht plötz­lich zum Leben, beginnt ein ange­reg­tes Gezanke, weil die Jung­frau keine Jung­frau mehr sein möchte. Der­weil sich der Mönch ver­är­gert über den Jura hin­weg davon­macht, fal­len Eiger und Jung­frau stöh­nend über­ein­an­der her. Wäh­rend er seine Hand schon “zum Joch wei­ter­wan­dern” lässt, bekommt sie plötz­lich Gewis­sens­bisse… Was das mit Hawaii zu tun hat? Lesen Sie selbst.

Yasmin Koenig - Illustratorin - Täxtzit-Heft Nr. 12 - Rezensionen GLAREAN MAGAZIN
Die berühm­ten Schwei­zer Berg­gip­fel Eiger, Mönch und Jung­frau als Fun-Park: Zeich­nung der Illus­tra­to­rin Yas­min König (TÄXTZIT Band 12 – Juni 2021)

Lyrisches und Prosaisches aus der Innerschweiz

Dolo­res Linggi (Schwyz) und Beat Wild (Zug) sind zwei ange­se­hene Inner­schwei­zer Lite­ra­ten. Linggi, Preis­trä­ge­rin der “Zen­tral­schwei­zer Lite­ra­tur­för­de­rung”,  steu­erte dem neuen TÄXT­ZIT-Band fünf asso­zia­ti­ons­schwere Gedichte bei, wäh­rend Wild mit dem knapp vier­sei­ti­gen Pro­sa­text “Nicht fal­len las­sen” ver­tre­ten ist. Darin möchte eine alte Frau ihrer Zufalls­be­kannt­schaft Oskar, der eine Tumor-Ope­ra­tion hin­ter sich hat, die Rück­kehr ins Leben erleichtern.
Eine dritte Inner­schwei­ze­rin ist die 20-jäh­rige Luzer­ne­rin Lia-Aure­lia Kraft. Ihre kleine Love-Story “Früh­ling” ist dicht for­mu­liert und im bes­ten Sinne rüh­rend. Kraft steht trotz ihres jugend­li­chen Alters bereits eine facet­ten­rei­che Spra­che zur Ver­fü­gung – eine schöne Ent­de­ckung der TÄXTZIT-Macher.

Beziehungen in der Ostschweiz

Anzeige Amazon: In medias res - 222 Aphorismen - Walter Eigenmann
Anzeige

In einer Zeit­schrift mit deutsch­spra­chi­gen Bei­trä­gen aus Hel­ve­tien darf der öst­li­che Teil des Lan­des nicht feh­len; die Ost­schwei­zer Lite­ra­tur­szene ist mit Bea­trice Häf­li­ger (Hof­feld) und Philip Mess­mer (Sul­gen) reprä­sen­tiert. Häf­lig­ers Text singt eben­falls das Hohe­lied der Liebe und deren Ent­ste­hung, ein­ge­bet­tet in innige Wald­se­lig­keit. Er mag in die­sem Heft am deut­lichs­ten das lite­ra­tur-psy­cho­lo­gi­sche Kli­schee der “Schwei­zer Nabel­schau” bedie­nen, ist aber gleich­zei­tig auch ein zärt­li­ches und genau beob­ach­ten­des, dabei sprach­lich elo­quen­tes Ste­no­gramm einer sehr ursprüng­li­chen Mensch-Natur-Beziehung.
Mess­mer geht da in sei­nem “Therapie”-Text eine deut­lich her­bere Bezie­hung an; sie beginnt damit, dass Ehe­frau Sabine ihren Paul mit der Brat­pfanne nie­der­streckt… Zum Schluss wird doch noch alles gut: “Sabine und Paul schaff­ten es nicht ein­mal bis ins Schlaf­zim­mer und trie­ben es auf der Treppe”. Auf der Stre­cke hin­ge­gen bleibt der behan­delnde Arzt der beiden…

Originelles Literatur-Konzept

Mit Daniela Huwy­ler ist eine zweite Lyri­ke­rin ver­tre­ten. Sie prä­sen­tiert drei sprach­ge­wandte und rhyth­misch inter­es­sante Gedichte namens “Agenda”, “Raben­zir­kel”, “Schnee­schwer”. Des Wädens­wi­lers Peter Burk­hards Kurz­prosa-Bei­trag schließ­lich titelt “Tod in der Aare”. Darin erhält Laura näch­tens im Bett gespens­ti­schen Besuch von einer Unbe­kann­ten mit “trie­fend nas­sem, schul­ter­lan­gen Haar”…

Ein auch nur kur­zer Blick auf die Autoren und Inhalte die­ser (Deutsch-)Schweizer “Lite­ra­tur­schrift” zeigt sofort das sym­pa­thi­sche Kon­zept und die durch­dachte Rezep­tur. Wie der Her­aus­ge­ber und ver­ant­wort­li­che Redak­teur Arno Seeli in sei­nem “Auf­takt” fest­legt, müs­sen die Texte “die Schweiz the­ma­ti­sie­ren, noch unver­öf­fent­licht sowie insti­tu­tio­nen- und wer­be­neu­tral sein”. Außer­dem dür­fen die Bei­träge maxi­mal vier Sei­ten umfas­sen. Trotz die­ser for­ma­len Vor­ga­ben ist dem umtrie­bi­gen Lite­ra­tur-Ani­ma­tor ein inter­es­san­ter inhalt­li­cher Mix gelungen.

Gestalterisch Luft nach oben

Schweizer Literaturzeitschriften - Orte - Delirium - Narr - Mütze - GLAREAN MAGAZIN
Die kleine Schweiz als gro­ßes Land der Lite­ra­tur­zeit­schrif­ten, bei­spiels­weise MÜTZE, NARR, DELIRIUM, ORTE (um nur einige zu nennen)

Her­um­nör­geln an sol­chen idea­lis­ti­schen Peri­odika lässt sich ja immer. Zum Bei­spiel könnte dem einen oder ande­ren das “Schwei­zer” im Unter­ti­tel etwas groß­spu­rig erschei­nen – ange­sichts kei­nes ein­zi­gen fran­zö­sisch- oder ita­lie­nisch­spra­chi­gen Bei­trags. Auch hin­sicht­lich des etwas paus­bä­cki­gen Heft-Lay­outs und der rura­len Typo­gra­phie bestünde noch Luft nach oben; guter Inhalt schließt eine attrak­tive Ver­pa­ckung nicht aus. Und drit­tens wür­den je ein paar bio- und biblio­gra­phi­sche Stich­worte zu allen ver­tre­te­nen Autor*innen das Heft noch infor­ma­ti­ver abrunden.

Biotopische Beschaulichkeit

Der kon­se­quente Fokus der Texte(-Auswahl) auf Hel­ve­tien bzw. das sog. “Schwei­ze­ri­sche” führt zwar hier nir­gends zu lite­ra­ri­schen Grenz­über­schrei­tun­gen. Wer sprach­li­che Inno­va­tion, the­ma­ti­sche Inter­na­tio­na­li­tät, das for­male Expe­ri­ment oder gar geo­po­li­ti­sche Schweiz-Motive sucht, wird von TÄXTZIT ent­täuscht. Das viel­zi­tierte “Lokal­ko­lo­rit”, die “Sicht nach Innen” und eine gewisse gewollte Nai­vi­tät des Nar­ra­ti­ven sind die bestim­men­den Ingre­di­en­zen die­ser “Schwei­zer Literatur”.
Aber sol­che bio­to­pi­sche Beschau­lich­keit hat sowohl ihren Reiz als auch ihre Legi­ti­mi­tät. Denn die Pro­vin­zia­li­tät kommt hier char­mant mit Unter­hal­tungs­wert daher. Und nicht jeder lite­ra­ri­sche Text muss die Welt gleich aus den Angeln heben.

Verdienstvolles Literatur-Projekt

Kurzum: TÄXTZIT ist ein ver­dienst­vol­les Lite­ra­tur-Pro­jekt, das eine sowohl erhel­lende wie anre­gende Tour d’horizont bie­tet durch einen wich­ti­gen Teil des zeit­ge­nös­si­schen Lite­ra­tur­schaf­fens der deutsch­spra­chi­gen Schweiz. Alle Texte sind sorg­fäl­tig lek­to­riert bzw. redi­giert und die The­men-Wahl abwechs­lungs­reich komponiert.

Die­ser Autoren-Gazette ist also in die­sem Sinne durch­aus eine noch wach­sende Leser­schaft zu wün­schen – hier sind ein enga­gier­ter Her­aus­ge­ber und ein offen­sicht­lich moti­vier­tes Mit­ar­bei­ter­team am Werk. Der Schnauf möge den Machern nicht so bald aus­ge­hen – und auch das Selbst­be­wusst­sein nicht, das es braucht, um als Print-Medium gegen ein Heer von kos­ten­lo­sen Inter­net-Lite­ra­tur­an­ge­bo­ten bestehen zu können. ♦

Arno Seeli (Hrsg): TÄXTZIT – Die Schwei­zer Lite­ra­tur­schrift – Band 12, 52 Sei­ten A5-quer-For­mat mit Klam­mer­hef­tung, Wort­zim­me­rer Ver­lag, ISBN 978-3-9524327-8-5

Lesen Sie im GLAREAN MAGAZIN zum Thema Schwei­zer Lite­ra­tur­zeit­schrif­ten auch über SCRIPTUM – Das Schwei­zer Literaturmagazin

… sowie zum Thema Schwei­zer Lite­ra­tur den Essay von Mario Andreotti: Ten­den­zen der Schwei­zer Literatur

Außer­dem im GLAREAN MAGAZIN: Ori­gi­nale Erst­pu­bli­ka­tio­nen von Schwei­zer Schriftsteller*innen

Ein Kommentar

Kommentare sind willkommen! (Keine E-Mail-Pflicht)