Matt Haig: Die Mitternachtsbibliothek (Roman)

Unverwüstlicher angelsächsischer Optimismus

von Bernd Giehl

Der Best­sel­ler­au­tor Matt Haig hat ein neues Buch in Deutsch­land ver­öf­fent­licht. Bis­her hat Haig, 1975 in Sheffield/England gebo­ren, 11 Bücher in deut­scher Über­set­zung auf den Markt gebracht. “Die Mit­ter­nachts­bi­blio­thek” (The Mid­night Library) ist sein zwölftes.
Viele sei­ner Romane sind im Raum der Phan­tas­tik ange­sie­delt. Haig bekennt sich zu sei­ner Dia­gnose “Depres­sion”. Dass er die Krank­heit kennt, spürt man in der “Mit­ter­nachts­bi­blio­thek”.

Matt Haig: Die Mitternachtsbibliothek, Roman, Droemer VerlagAls ich anfing, das Buch zu lesen, wun­derte ich mich bald. Es war die Spra­che. Mehr wusste ich nicht. Aber ich las nur ein paar Sei­ten. Mein eige­ner Roman, an dem ich gerade schrieb, brauchte all meine Aufmerksamkeit.
Als ich nach ein paar Tagen wei­ter­las, kam die Ver­wun­de­rung wie­der. Eigent­lich war sie tief abge­sun­ken. Ich hatte schließ­lich zu tun; Sie erin­nern sich. Ein lan­ges Kapi­tel mei­nes Romans hatte von Leben und Tod gehan­delt, und ums Leben oder Ster­ben dreht es sich auch in der Mit­ter­nachts­bi­blio­thek”. Nur dass die Hel­din “frei­wil­lig” in den Tod geht, weil ihr Leben von einem “Schwar­zen Loch” ange­zo­gen wird. Falls es denn so etwas wie “Frei­wil­lig in den Tod gehen” gibt.

Den Pflegekräften im Gesundheitswesen gewidmet

Haigs Roman ist ein Zitat von Syl­via Plath vor­an­ge­stellt, der ame­ri­ka­ni­schen Dich­te­rin und Ehe­frau von Ted Hug­hes, die vor allem durch ihr kur­zes Leben vol­ler Unglück und ihren anschlie­ßen­den “Frei­tod” berühmt gewor­den ist. Ihre Lyrik ist kom­pli­ziert. Ted Hug­hes hat ihr einen wun­der­ba­ren Gedicht­band gewid­met: “Bir­th­day Let­ter”. Wer ein sol­ches Zitat vor­an­stellt, stellt sich einem hohen Anspruch.
Außer­dem gibt es auch noch eine Wid­mung “Für alle Men­schen, die im Gesund­heits­we­sen tätig sind. Und für die Pfle­ge­kräfte. Danke.” Das klingt anders. Sehr anders. Hat das etwas mit dem Roman zu tun?

Anzeige Amazon: Michael Maar - Die Schlange im Wolfspelz - Das Geheimnis grosser Literatur - Spiegel-Bestseller
Anzeige

Aber das nur am Rand. Zunächst sieht es ja auch ganz danach aus, als könne der Autor den Anspruch des Plath-Zitats erfül­len. “Neun­zehn Jahre, bevor sie starb, saß Nora Seed in der klei­nen, war­men Biblio­thek der Hazel­dine Schule in Bedford. Sie saß an einem nied­ri­gen Tisch und starrte auf ein Schachbrett.”
Das nächste Kapi­tel beginnt mit fast den glei­chen Wor­ten: “Sie­ben­und­zwan­zig Stun­den bevor sie beschloss zu ster­ben, saß Nora Seed auf ihrem schä­bi­gen Sofa, scrollte sich durch die glück­li­chen Leben ande­rer Men­schen und war­tete dar­auf, dass irgend­et­was pas­sierte.” “Varia­tion eines Leit­mo­tivs” nennt man so etwas in der Musik.

Locker-coole Sprache

Aber dann liest man wei­ter und wun­dert sich erneut. Gut, hier wird vom gewöhn­li­chen Unglück einer nicht mehr ganz jun­gen Frau erzählt, die vor kur­zem ihre Hoch­zeit hat plat­zen las­sen. Ihre Katze ist gerade über­fah­ren wor­den und ihr Bru­der hat nicht bei ihr vor­bei­ge­schaut, als er einen Freund in der Stadt besucht hat. Man kann ver­schie­de­ner Mei­nung sein, ob das Gründe sind, sich das Leben zu neh­men. Aber dar­auf kommt es auch weni­ger an. Eine alte Kri­ti­ker-Weis­heit sagt: Wich­tig ist die Spra­che, die einer schreibt. Not­falls kann er dann auch einen belie­bi­gen Tag mit eher lang­wei­li­gen Men­schen in Dub­lin beschrei­ben, die durch die Stadt zie­hen und sich auch ein­mal begeg­nen. Ereig­nis­lo­ser als der “Ulys­ses” sind wenige Romane.

Matt Haig - Schriftsteller - Glarean Magazin
Matt Haig (*1975)

Es dau­erte also einige Zeit, ehe ich mich an Haigs Spra­che gewöhnt hatte. Zuerst dachte ich: Matt Haig hat das Buch für Jugend­li­che geschrie­ben. So locker und “cool” kommt es daher. Aber dann habe ich gele­sen, dass Nora Seed ja schon 35 ist. Für einen Jugend­li­chen ist das jen­seits von Gut und Böse.
Im Kapi­tel “Anti­ma­te­rie” ändert sich dann der Ton. Da geht Mat­tis näher ran, und aus der Plas­tik­spra­che mit Sound­ef­fek­ten wird etwas anders: ein Autor, der sich in die Ver­zweif­lung sei­ner Prot­ago­nis­tin ein­zu­füh­len beginnt. Erst recht pas­siert das im Kapi­tel “Das Buch des Bereu­ens”, das Nora Seed, die nun in die “Mit­ter­nachts­bi­blio­thek” ein­ge­tre­ten ist und ihre alte Schul­bi­blio­the­ka­rin Mrs. Elm wie­der­trifft, als ers­tes in die Hand nimmt. Da ste­hen all die Dinge drin, die sie im Lauf ihres Lebens getan und spä­ter gern unge­sche­hen gemacht hätte, von den Klei­nig­kei­ten bis zur Ent­schei­dung, ihren Freund Dan nicht zu heiraten.
Für einen Jugend­li­chen oder eine Lese­rin von Frau­en­ro­ma­nen ist das gut geschrie­ben, aber wer jemals den “Stil­ler” oder gar “Mein Name sei Gan­ten­bein” von Max Frisch gele­sen hat, kennt andere, “moder­nere” Mög­lich­kei­ten, das Thema zu beschreiben.

Philosophische Massentauglichkeit

An der Spra­che hätte Matt Haig also ruhig noch etwas arbei­ten kön­nen Aller­dings wäre das Buch dann nicht mehr mas­sen­taug­lich gewor­den und bei Droe­mer erschie­nen, son­dern bes­ten­falls bei Han­ser. Viel­leicht auch nur in einem anspruchs­vol­len Klein­ver­lag wie Stroemfeld/Roter Stern. (Natür­lich bezo­gen auf die eng­li­sche Ver­lags­land­schaft, die ich aber nicht kenne.) Und Über­set­zun­gen wären natür­lich auch nicht drin gewe­sen. Man muss sich eben ent­schei­den, was man will. Da der Autor vor­gibt, Nora sei Phi­lo­so­phin und habe sich aus­gie­big mit Henry David Tho­reau und des­sen Buch “Wal­den” beschäf­tigt, einer Stu­die über selbst­ge­wählte Ein­sam­keit in den Wäl­dern von Mas­sa­chu­setts, das er 1845 schrieb, würde ein Roman in einer hoch­li­te­ra­ri­schen Spra­che sicher passen.

Dem Leser einfach gemacht

Die Bibliothek - Büchersammlung - Der Ort der vielen Leben - Glarean Magazin
Der Ort der vie­len Leben: Die Bibliothek

Aber Matt Haig will mehr. Des­halb macht er es dem Leser ein­fach. Er lässt Nora an der Schwelle zwi­schen Leben und Tod in einer Biblio­thek lan­den, die nur ein ein­zi­ges Buch in unzäh­li­gen Varia­tio­nen ent­hält: das Buch ihres eige­nen Lebens. Eins davon ist das “Buch des Bereu­ens”, die ande­ren ent­hal­ten ihr Leben als Olym­pia­teil­neh­me­rin (sie war eine eng­li­sche Spit­zen­schwim­me­rin), als Glet­scher­for­sche­rin in der Ark­tis (das war ein­mal ihr Traum) als Frau eine Pub-Betrei­bers (Dans Traum), als Besit­ze­rin einer Katze. Aber jedes Mal schei­tert die­ses Leben.

Anzeige Amazon: Garsentx E-Book-Reader, 4,3-Zoll-elektronisches Papierbuch, BK-4304 Tragbares digitales TFT-LCD-Bildschirm mit Einer Auflösung von 800 x 600, gelesen mit ultraflacher Buchhülle
Anzeige

Auf Spitz­ber­gen, wo sie Eis­berge erforscht und einem Eis­bä­ren begeg­net, der sie als Mit­tag­essen betrach­tet, dem sie aber ent­kommt, trifft sie Hugo, der – wie sie selbst – eine Reise durch seine eige­nen mög­li­chen Leben macht. Selbst­ver­ständ­lich glaubt Nora, er sei für sie bestimmt. Sie befin­det sich schließ­lich im Buch eines Bestseller-Autors.
Aber natür­lich bleibt auch er nicht, denn Nora muss wei­ter; dies­mal als Musi­ke­rin, und wenn der geneigte Leser gehofft hatte, dass sie dies­mal als Mit­glied einer Gara­gen­band vor drei­ßig Leu­ten auf­tritt und dabei glück­lich wird, wird er natür­lich ent­täuscht. Sie fin­det sich in ihrer alten Band “The Laby­rin­thi­ans” wie­der, und die spie­len vor zehn­tau­sen­den begeis­ter­ten Zuhö­rern in Sao Paulo. Am nächs­ten Tag wird es wei­ter­ge­hen nach Rio. Danach steht Asien auf dem Tourneeplan.
Jetzt weiß der Leser zwar immer noch nicht, wel­ches Leben sich Nora wünscht, aber die Träume von Matt Haig kennt er dafür umso besser.

Es gibt kein wahres Leben im falschen

An die­sem Punkt hätte ich bei­nah auf­ge­hört zu lesen. Es waren zwar immer noch 120 Sei­ten bis zum gro­ßem Finale, aber ich war erst ein­mal bedient. Das Thema gefiel mir, aber ein Buch ist mehr als eine These oder ein Thema. Ich hätte also auf­ge­ge­ben, so wie Nora Seed – aber in dem Moment schien der Autor zu spü­ren, dass er es zu weit getrie­ben hatte. Er lässt sie noch ein­mal in die Biblio­thek zurück­keh­ren, die sie in ihrem Zorn fast zer­stört, und her­nach sind es “nor­male” Leben, die sie aus­pro­bie­ren darf: Als Besit­ze­rin einer Hun­de­zucht, als Ehe­frau eines kali­for­ni­schen Win­zers – und schließ­lich in einem zusam­men­fas­sen­den Kapi­tel alle nur erdenk­li­chen Leben. Nur jenes der Gei­sha fehlt in der Auf­zäh­lung, aber das kann Haig in der nächs­ten Aus­gabe ja noch hinzufügen.

Philosoph Theodor W. Adorno - Es gibt kein wahres Leben im falschen - Glarean Magazin
Phi­lo­soph Theo­dor W. Adorno: “Es gibt kein wah­res Leben im falschen”

Doch die wirk­li­che Erkennt­nis, die Matt Haig uns durch Nora Seed ver­kün­den lässt, lau­tet: “Es gibt kein wah­res Leben im fal­schen.” Ver­zei­hung, da habe ich mich wohl bei den Phi­lo­so­phen ver­grif­fen. Adorno wird von ihr ja nicht ein­mal erwähnt. Und da Haig nun ein­mal dem Pes­si­mis­mus abge­schwo­ren hat, muss ich es so for­mu­lie­ren: Es gibt nur ein wah­res Leben, und das ist jenes, das du gerade lebst. Dem­entspre­chend stürzt die Mit­ter­nachts­bi­blio­thek in dem Moment ein, als Nora gerade ihr idea­les Leben gefun­den zu haben scheint, und Nora wird vor ihrem Selbst­mord­ver­such gerettet.

Optimismus à la Camus

Es ist der unver­wüst­li­che angel­säch­si­sche Opti­mis­mus, der mich stört. Natür­lich beein­flusst er auch die Spra­che. Am Ende ist alles gut, und Nora kann mit einer neuen Erkennt­nis in ihr altes Leben zurückkehren.
Den­noch: Ich habe das Buch gern und auch mit Gewinn gele­sen. Es ist die opti­mis­ti­sche Vari­ante von Camus‘ Erkennt­nis, dass man dem Absur­den trot­zen und den Stein wei­ter­wäl­zen muss. Selbst wenn er auf dem Gip­fel wie­der herunterrollt.
Aller­dings würde Matt Haig das so nie­mals formulieren. ♦

Matt Haig: Die Mit­ter­nachts­bi­blio­thek, Roman, 320 Sei­ten, Droe­mer Ver­lag, ISBN 978-3-426-28256-4

Lesen Sie im GLAREAN MAGAZIN zum Thema Roman-Lite­ra­tur auch über Abra­ham Ver­ghese: Rück­kehr nach Missing

Außer­dem zum Thema Lite­ra­tur von Mar­tin Kirch­hoff: Möwen über dem Was­ser (Lyrik)


 

Kommentare sind willkommen! (Keine E-Mail-Pflicht)