Jo Nesbø: Messer (Harry-Hole-Krimi Band 12)

Ein Leben, schlimmer als der Tod

von Isabelle Klein

Es wird eng für Har­ry Hole, den be­rühm­ten Haupt­kom­mi­sar des nor­we­gi­schen Kult-Kri­mi-Au­tors Jo Nes­bo, ganz eng – in sei­nem Fall Num­mer 12: “Mes­ser”. Das Dut­zend ist also voll, und es muss (so das Ge­setz der Se­rie, vgl. un­ten) ein Pau­ken­schlag her. Für den, der (wie ich) ge­trost den Klap­pen­text hat Klap­pen­text sein las­sen und sich völ­lig blank ins Lese-Schman­kerl ge­stürzt hat, bie­tet die­ser 12. Band eine völ­lig un­er­war­te­te Ent­wick­lung im Har­ry-Hole-Uni­ver­sum, die für künf­ti­ge Bän­de ei­ni­ges er­ah­nen lässt.

Jo Nesbo - Messer - Ullstein Verlag Cover - Krimi-Literatur-RezensionenRa­kel ist tot. Er­mor­det, bru­tal er­sto­chen. Die­se Hi­obs­bot­schaft er­eilt Har­ry am ab­so­lu­ten Tief­punkt sei­nes wech­sel­haf­ten Le­bens: Job an der Hoch­schu­le weg, Frau weg (sie hat­te ihm Mo­na­te vor­her die Kof­fer vor die Tür gestellt).
Klar, was Har­ry macht – das, was er nach Se­ri­en­mör­der fan­gen am bes­ten kann: Sau­fen (sor­ry, aber je­des an­de­re Wort wäre unzutreffend).
Sei­nen Al­ko­hol­kon­sum fi­nan­ziert er mit ei­ner ein­fa­chen Po­li­zis­ten­tä­tig­keit, als Part­ner von Truls Bernt­sen; Selbst für Al­ko­hol ist nicht ge­nü­gend Geld da. Trost fin­det er bei der Fo­ren­si­ke­rin Alex­an­dra und spä­ter auch bei der uns be­kann­ten Kaja Sol­ness, die hier mal wie­der kurz in der Hei­mat weilt. Har­ry be­schliesst also, sich erst mal mit sei­nem Freund Al­ko­hol zu be­täu­ben, so dass Schmerz und Lee­re aus­ge­blen­det wer­den – der Rausch als Hilfsmittel.

Harry fucking Hole”

Ers­te Ver­däch­ti­ge zei­gen sich am Ho­ri­zont, Har­ry er­mit­telt! Ha­ben Ge­setz und Ord­nung Har­ry schon je­mals von et­was ab­ge­hal­ten? Zu­sam­men mit Kaja, Alex­an­dra und Bjorn nimmt er den Kampf ge­gen den Mör­der der ge­lieb­ten Frau auf. Auge um Auge, Zahn um Zahn.

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Und ge­treu dem Mot­to ist “Har­ry fuck­ing Hole, oder der ‘de­mo­li­ti­on man'” (S. 49). In die­sem 12. Har­ry-Hole-Fall bleibt nichts dem Zu­fall über­las­sen, al­les ist per­fekt in­sze­niert, manch­mal viel­leicht so­gar ein klein we­nig über­kon­stru­iert. Har­ry durch­lebt Lei­den epi­schen Aus­mas­ses, die Auf­lö­sung kommt ei­ner grie­chi­schen Tra­gö­die gleich.
Uns bleibt aber auch nichts er­spart, mag der eine den­ken, oder: JN zieht zwar wei­te Krei­se, aber ein­mal mehr ist ihm ein ge­nia­les Werk des Har­ry-Hole-Zy­klus ge­lun­gen, in dem er uns, wie ei­gent­lich in je­dem Werk seit “Koma”, atem­los im Un­ge­wis­sen lässt. Zu­min­dest ist dies­mal ei­nes si­cher: Har­ry lebt…

Bil­ly Wil­der (Dreh­buch­au­tor für vie­le ex­zel­len­te Screw­balls der 30er und 40er Jah­re) sag­te ein­mal un­ge­fähr, dass die Kunst dar­in be­stehe, die Zu­schau­er glau­ben zu las­sen, dass er ei­nen Wis­sens­vor­sprung habe, was je­doch durch die Au­toren in­ten­diert ist und eben durch un­vor­her­ge­se­he­ne twists and turns wie­der ge­nom­men wird. Sel­bi­ges be­treibt Nes­bø. Er nimmt An­lauf, ob­wohl er uns durch die durch­zech­te Nacht, Black­outs, blu­ti­ge Klei­dung und ein ver­steck­tes Mes­ser usw. Bö­ses er­ah­nen lässt, und zieht ei­nen wei­ten Bo­gen, bis er zum al­les­klä­ren­den Aus­gangs­punkt zurückkehrt.

Grausame Realität des Lebens

So stellt sich Har­ry, zu­min­dest vor­läu­fig, der grau­sa­men Rea­li­tät ei­nes Le­bens ohne Ra­kel. Wer an­ders könn­te es sein als sei­ne Ne­me­sis, der der Au­tor in “Durst” viel Raum ge­wid­met hat.
Sv­ein Fin­ne, der Ra­che an dem Tod sei­nes Nach­kom­mens neh­men will: Wie könn­te er Har­ry bes­ser tref­fen, als ihm das Wert­volls­te zu neh­men? Doch als der Se­ri­en­ver­ge­wal­ti­ger ein Ali­bi hat, wird es eng, und Har­rys Au­gen­merk rich­tet sich auf den un­durschau­ba­ren Chef Ra­kels, Roar Bohr, ein post­trau­ma­tisch be­las­tungs­ge­stör­ter Kriegsveteran.

Jo Nesbo - Krimi-Autor von Harry Hole - Filmszene Der Leopard - Glarean Magazin.png
“Smar­ter killt kei­ner” – Film-Sze­ne aus “Der Leo­pard” von Jo Nesbo

Hat er ein Mo­tiv? Durch ihn und Kaja teilt Nes­bø die Schre­cken der Af­gha­ni­stan-Ein­sät­ze. Und schliess­lich – es scheint, als wä­ren auch hier al­ler gu­ten Din­ge drei – ma­te­ria­li­siert sich ein wei­te­rer Ver­däch­ti­ger: Har­rys Nach­fol­ger als Kneipenbesitzer.

Die The­men sind breit ge­fä­chert, und wie so oft heis­sen sie Ab­hän­gig­keit, Ge­walt, Krieg, Suff, Un­treue. Ge­mein­hin die Feh­ler der Ver­gan­gen­heit, die ei­nen bzw. ei­nen je­den in die­sem Buch, der Schuld auf sich ge­la­den hat, einholen.

Entwicklung in weiten Kreisen

Der Auf­bau ist aus­ufernd, fal­sche Fähr­ten und Ne­ben­schau­plät­ze neh­men viel Raum ein. Man mag be­män­geln, dass dies al­les im End­ef­fekt zu künst­lich sei, dass der rote Fa­den feh­le. Als (mitt­ler­wei­le) gros­ser Hole-Fan kann ich dies durch­aus ver­ste­hen. Trotz­dem: Ge­nau das ist die nes­bø­sche Kunst und zeich­net das hohe Ni­veau der Se­rie auch nach 12 Tei­len aus. Er ver­steht es, den Le­ser bei der Stan­ge zu hal­ten. Ge­nau das be­herr­schen vie­le Au­toren nicht…
Und letzt­lich fügt al­les sich durch­aus har­mo­nisch zu­sam­men – das fas­zi­niert und macht be­trof­fen zu­gleich. Nes­bø ist ein­fach die Dra­ma-Queen der ak­tu­el­len Thril­ler­welt, er wirft die An­gel aus, und schon wird eine Ent­wick­lung in Gang ge­setzt, die wei­te Krei­se zieht, auch wenn sie mit­un­ter übers Ziel hin­aus­schiesst. Das macht in sich Sinn und ge­ne­riert den ganz be­son­de­ren Reiz des HH-Kosmos’.

Zu gewaltverherrlichend, zu sexlastig?

Jo Nesbo - Schriftsteller - Krimi-Autor von Harry Hole - Glarean Magazin
Kri­mi-Best­sel­ler-Au­tor und Har­ry Hole-Er­fin­der Jo Nes­bo (geb. 1960)

Die Kri­tik liegt si­cher­lich im De­tail: Zu ge­walt­ver­herr­li­chend, zu sex­las­tig. Wie kann Har­ry, gleich In­spek­tor Lyn­ley, so kurz nach Ra­kels Tod bzw. der Tren­nung in frem­de Bet­ten hüp­fen? Wie kann Har­ry sich gott­gleich auf­schwin­gen, da­bei je­des Rechts­emp­fin­den hin­ter sich las­sen? Oder auch: zu aus­schwei­fend (Schil­de­rung der Gräu­el der Blau­helm­ein­sät­ze) – usw. All das mag durch­aus sei­ne Be­rech­ti­gung ha­ben, und doch emp­fin­de ich “Mes­ser” kei­nes­wegs als Rein­fall, son­dern als aus­ge­mach­tes Meisterwerk.
Be­trach­tet man al­lein die mög­li­che Ent­wick­lung Har­ry Ho­les für die fol­gen­den Fäl­le (die es dann doch hof­fent­lich ge­ben wird), hat man un­ge­ahn­te Op­tio­nen. Denn Har­ry ist eine Schlan­ge, die sich häu­tet. Er lässt sich nicht in Ka­te­go­rien ein­tei­len, er ist schil­lernd und un­be­re­chen­bar und da­durch doch fast wie­der be­re­chen­bar. Und sind wir mal ehr­lich: Nor­di­sche Kri­mis wa­ren schon im­mer “mehr von al­lem”: Mehr von de­tail­lier­ter Ge­walt, von häu­fi­gem und bei­läu­fi­gem Sex, aus­ufernd in Län­ge und Mo­ti­va­ti­ons­la­gen – das wis­sen wir spä­tes­tens seit Stieg Lars­son und Ad­ler Ol­sen, um nur mal zwei zu nennen.

Regeneration einer ganzen Roman-Serie

FAZIT: Der neu­es­te Kri­mi von Jo Nes­bø: Mes­ser ist ein gros­ser Wurf und dürf­te die Ge­schi­cke des Nes­bo-Prot­ago­nis­ten Har­ry Hole in ganz neue Ge­fil­de len­ken. In die­sem 12. Band pas­siert die span­nen­de Re­ge­ne­ra­ti­on ei­ner gan­zen kul­ti­gen Ro­man-Se­rie. Empfehlung!

Mei­nes Er­ach­tens ist Ra­kels Tod ein Be­frei­ungs­schlag. Be­reits vor vie­len Jah­ren hat Pa­tri­cia Corn­well ih­rer Scar­pet­ta et­was Ähn­li­ches an­ge­tan (und Ben­ton dann doch wie­der auf­er­ste­hen las­sen). Eliza­beth Ge­or­ge war da kon­se­quen­ter und fast noch tra­gi­scher, denn sie liess die hoch­schwan­ge­re Gat­tin Lyn­leys vor des­sen Au­gen Op­fer ei­nes sinn­lo­sen An­schlags werden.
Se­ri­en müs­sen sich, zu­min­dest nach ei­ner ge­wis­sen Lauf­dau­er, re­ge­ne­rie­ren. Was ist dazu ein­fa­cher, als das Le­ben des Hel­den von Grund auf zu er­schüt­tern? Wäh­rend die an­de­ren den Feh­ler be­gan­gen ha­ben, die­se Chan­ce nicht für ihre Fi­gu­ren und Ge­schich­ten zu nut­zen – bei­spiels­wei­se sind die Au­toren Ge­or­ge und Corn­well für mich in­zwi­schen lei­der un­les­bar ge­wor­den -, bin ich mir recht si­cher, dass Nes­bø die Chan­ce nut­zen wird und wie Phoe­nix aus der Asche er­steht. Die Kar­ten ste­hen gut, denn der Po­li­zist, der Pro­fi­ler, sie sind erst mal pas­sé, der Va­ter und ..?. wer­den dem wei­te­ren Ver­lauf mit­un­ter eine völ­lig an­de­re Wen­dung ge­ben. Ein bes­se­rer, ein wie Phoe­nix der Asche ent­stei­gen­der Har­ry Hole ist zu erwarten.

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Ei­nes bleibt si­cher: “Mes­ser” ist ein Buch, das po­la­ri­siert. Soll­ten Sie Neu­ein­stei­ger im HH-Uni­ver­sum sein, viel­leicht ge­ra­de erst ei­nen oder zwei der HH-Kri­mis ge­le­sen ha­ben, soll­ten Sie es sich gut über­le­gen. Aber für den, der of­fen ist für Ent­wick­lun­gen und den nor­di­schen Kri­mi mit Raum für An­de­res zu schät­zen weiss: Kau­fen, le­sen ge­nies­sen. Nes­bø ist so gut wie eh und je, für mein Emp­fin­den so­gar noch bes­ser. Ein­fach eine Klas­se für sich.

Eine Er­kennt­nis, die ich aus die­ser äus­serst an­re­gen­den Li­nie für mich per­sön­lich mit­neh­me: Je­der, tat­säch­lich je­der kann plötz­lich eine rote Li­nie über­schrei­ten. Ein Thril­ler der Ex­tra­klas­se, der die Har­ry-Hole-Rei­he voll­kom­men neu jus­tiert. Eine glat­te 10 von 10. ♦

Jo Nes­bø: Mes­ser (Har­ry Hole Kri­mi Bd. 12), Ro­wohlt Ver­lag, 574 Sei­ten, ISBN 9783550081736

Le­sen Sie im Glarean Ma­ga­zin zum The­ma Mo­der­ne Ro­ma­ne auch über Ro­land Herr: Fuck­ing Friends

… so­wie über den Thril­ler von Clau­dia Prax­mei­er: Bienkönigin


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