Jüngste Ergebnisse der neurobiologischen Sprachforschung

Sprache ist ein komplexer biokultureller Hybrid”

von Walter Eigenmann

gemäss klas­si­scher Neu­ro­bio­lo­gie der Spra­che weist unsere linke Gehirn­hälfte zwei grosse Sprach­räume auf: Der Broca-Bereich im Fron­tal­lap­pen ver­ant­wor­tet die Pro­duk­tion von Spra­che (= Spre­chen und Schrei­ben), wäh­rend das Wer­ni­cke-Areal im Tem­po­ral­lap­pen das Ver­ste­hen von Spra­che unter­stützt (= Hören und Lesen). Jüngste Ergeb­nisse der neu­ro­bio­lo­gi­schen Sprach­for­schung wei­sen nun dar­auf hin, das dies eine zu undif­fe­ren­zierte Sicht­weise ist.

Science Magazine - Language and the brain - Glarean MagazinEine neue Unter­su­chung “Die Neu­ro­bio­lo­gie der Spra­che jen­seits der Ein­zel­wort­ver­ar­bei­tung” des nie­der­län­di­schen Psy­cho­lin­gu­is­ti­kers und Neu­ro­bio­lo­gen Peter Hago­ort vom Max-Planck-Insti­tut in Nij­me­gen, vor eini­gen Tagen publi­ziert in dem Wis­sen­schafts­ma­ga­zin Sci­ence, wider­spricht nun die­ser ver­hält­nis­mäs­sig “pri­mi­ti­ven” Dar­stel­lung der mensch­li­chen Sprach­kom­pe­tenz: “Die klas­si­sche Sicht­weise ist weit­ge­hend falsch. […] Spra­che ist unend­lich kom­ple­xer als das Spre­chen oder Ver­ste­hen ein­zel­ner Wör­ter, wor­auf das klas­si­sche Modell basiert.”

Unabdingbar fürs Verstehen: Der Kontext

Denn wäh­rend Wör­ter zu den ele­men­ta­ren Bau­stei­nen der Spra­che gehö­ren, brau­chen wir auch Gehirn­ope­ra­tio­nen, um Wör­ter zu struk­tu­rier­ten Sät­zen zu kom­bi­nie­ren. Hago­ort bringt das Bei­spiel: “Der Her­aus­ge­ber der Zei­tung liebte den Arti­kel”. Um eine sol­che Äus­se­rung adäquat zu inter­pre­tie­ren, rei­che es nicht aus, die Sprach­laute (oder Buch­sta­ben) sowie die Bedeu­tung der ein­zel­nen Wör­ter zu ken­nen: “Wir brau­chen auch Infor­ma­tio­nen über den Kon­text (Wer ist der Spre­cher?), die Into­na­tion (ist der Ton zynisch?) und das Wis­sen über die Welt (was macht ein Redakteur?)”

Peter Hoogart - Neurobiologe - Glarean Magazin
Peter Hago­ort

Peter Hago­orts For­schun­gen zei­gen noch dar­über hin­aus­ge­hende Befunde. So deck­ten neu­ro­ana­to­mi­sche Stu­dien auf, dass die bereits erwähn­ten Gehirn-Sprach­re­gio­nen Broca und Wer­ni­cke ihrer­seits nicht nur wei­tere Sprach­ge­biete auf­wei­sen, son­dern dass sich ihre Sprach­ak­ti­vi­tä­ten bis hin zum Parie­tal-Lap­pen erstre­cken; vor­mals hin­sicht­lich Spra­che unter­schätzte Hirn­areale wie die rechte Hemi­sphäre und das Klein­hirn set­zen deut­lich mehr Ver­bin­dun­gen als ange­nom­men ein.

Prozessbeschleunigung durch aktive Voraussage

Hago­ort wei­ter: “Unser Gehirn ver­ar­bei­tet Spra­che mit erstaun­li­cher Geschwin­dig­keit und Unmit­tel­bar­keit in einem dyna­mi­schen Netz­werk von inter­agie­ren­den Hirn­area­len. Alle rele­van­ten Infor­ma­tio­nen wer­den sofort ver­füg­bar, wenn wir begin­nen, die Bedeu­tun­gen ein­zel­ner Wör­ter zu kom­bi­nie­ren und die ver­schie­de­nen Infor­ma­ti­ons­quel­len zu ver­ei­nen. Um die­sen Pro­zess zu beschleu­ni­gen, sagt unser Gehirn aktiv vor­aus, was als nächs­tes kommt.”

MRI Magnetresonanztomographie - Gehirn-Bildgebende Verfahren - Glarean Magazin
Bild­ge­bende Ver­fah­ren wie die Magnet­re­so­nanz-Tomo­gra­phie MRI erlau­ben neu­ro­bio­lo­gi­sche For­schun­gen wie z.B. das Neuroimaging

Doch damit nicht genug: Die Spra­che ist oft “indi­rekt”. Hago­ort führt aus, dass Zuhö­rer die Absicht eines Spre­chers ablei­ten müs­sen, um zu ver­ste­hen, was der Spre­cher meint. Bei­spiels­weise könnte “Es ist heiss hier” auch als Auf­for­de­rung zum Fens­ter­öff­nen ver­stan­den wer­den und nicht als Aus­sage über die Tem­pe­ra­tur. Hago­ort: “Neu­ro­ima­ging-Stu­dien zei­gen, dass sol­che prag­ma­ti­schen Schluss­fol­ge­run­gen von Hirn­area­len abhän­gen, die an der ‘Theo­rie des Geis­tes’ betei­ligt sind, oder vom Den­ken über die Über­zeu­gun­gen, Emo­tio­nen und Wün­sche ande­rer Menschen”.
Da die meis­ten zwi­schen­mensch­li­chen Äus­se­run­gen Teil eines Gesprächs sind, wer­den einige Infor­ma­tio­nen in der Regel bereits zwi­schen dem Spre­cher und dem Zuhö­rer aus­ge­tauscht. Die Red­ner stel­len sicher, dass sie “neue Infor­ma­tio­nen” mar­kie­ren, indem sie die Rei­hen­folge der Wör­ter oder Ton­hö­hen ver­wen­den, um die Auf­merk­sam­keit des Zuhö­rers zu bündeln.

Sprache als multiples Brain-Network

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Spra­che sei ein “kom­ple­xer bio­kul­tu­rel­ler Hybrid”, fasst Hago­ort seine Stu­dien zusam­men. “Aber was ist die Essenz der mensch­li­chen Spra­che? Ist es eine Syn­tax, die im Broca-Bereich zu fin­den ist?” Hago­ort stellt diese alte Vor­stel­lung in Frage: “Es hilft nicht, das Gesamt­bild der mensch­li­chen Sprach­kennt­nisse zu erfas­sen, wenn man zwi­schen wesent­li­chen und unwe­sent­li­chen Aspek­ten von Spre­chen und Spra­che unter­schei­den will”. Statt­des­sen plä­diert der Neu­ro­wis­sen­schaft­ler für eine “mul­ti­ple Brain-Net­work-Ansicht von Spra­che, in der einige Ope­ra­tio­nen gut mit ande­ren kogni­ti­ven Berei­chen wie Musik und Arith­me­tik geteilt wer­den könnten”. ♦

Lesen Sie im Glarean Maga­zin zum Thema Neu­ro­bio­lo­gie auch über Lutz Jän­cke: Macht Musik schlau?

… sowie zum Thema Sprach­psy­cho­lo­gie über Esther Kin­sky: Fremd­spre­chen – Das Übersetzen


English Translation

Language is a complex biocultural hybrid”

by Wal­ter Eigenmann

Accor­ding to the clas­si­cal neu­ro­bio­logy of lan­guage, our left brain has two large lan­guage areas: The Broca area in the fron­tal lobe is respon­si­ble for the pro­duc­tion of speech (= spea­king and wri­ting), while the Wer­ni­cke area in the tem­po­ral lobe sup­ports the under­stan­ding of speech (= hea­ring and reading).

A new study “The Neu­ro­bio­logy of Lan­guage Bey­ond Sin­gle Word Pro­ces­sing” by Dutch psy­cho­lin­gu­ist and neu­ro­bio­lo­gist Peter Hago­ort of the Max Planck Insti­tute in Nij­me­gen, published a few days ago in the sci­en­ti­fic jour­nal Sci­ence, now con­tra­dicts this rela­tively “pri­mi­tive” repre­sen­ta­tion of human lan­guage com­pe­tence: “The clas­si­cal view is lar­gely wrong. […] Lan­guage is infi­ni­tely more com­plex than spea­king or under­stan­ding indi­vi­dual words, on which the clas­si­cal model is based.”

Indispensable for understanding: The context

While words belong to the ele­men­tary buil­ding blocks of lan­guage, we also need brain ope­ra­ti­ons to com­bine words into struc­tu­red sen­ten­ces. Hago­ort gives the exam­ple: “The edi­tor of the news­pa­per loved the article”. In order to inter­pret such an expres­sion ade­qua­tely, it is not enough to know the speech sounds (or let­ters) and the mea­ning of the indi­vi­dual words: “We also need infor­ma­tion about the con­text (who is the spea­ker?), the into­na­tion (is the tone cyni­cal?) and the know­ledge of the world (what does an edi­tor do?)”.

Pic­ture: Peter Hagoort

Peter Hagoort’s rese­arch shows fur­ther fin­dings. For exam­ple, neu­ro­ana­to­mical stu­dies reve­a­led that the brain lan­guage regi­ons Broca and Wer­ni­cke, which have alre­ady been men­tio­ned, not only have other lan­guage regi­ons, but that their lan­guage acti­vi­ties extend as far as the parie­tal lobe; pre­viously unde­re­sti­ma­ted brain areas such as the right hemi­sphere and the cere­bel­lum use signi­fi­cantly more con­nec­tions than assumed.

Process acceleration through active prediction

Hogaart con­ti­nues: “Our brain pro­ces­ses speech with ama­zing speed and imme­diacy in a dyna­mic net­work of inter­ac­ting brain areas. All rele­vant infor­ma­tion beco­mes imme­dia­tely available as we begin to com­bine the mea­nings of indi­vi­dual words and unite the dif­fe­rent sources of infor­ma­tion. To acce­le­rate this pro­cess, our brain actively pre­dicts what comes next.”

Pic­ture: Ima­ging methods such as magne­tic reso­nance ima­ging (MRI) allow neu­ro­bio­lo­gi­cal rese­arch such as neuroimaging.

But that’s not all: the lan­guage is often “indi­rect”. Hago­ort explains that lis­ten­ers must derive the inten­tion of a spea­ker in order to under­stand what the spea­ker means. For exam­ple, “It’s hot here” could be unders­tood as an invi­ta­tion to open a win­dow rather than a state­ment about the tem­pe­ra­ture. Hago­ort: “Neu­ro­ima­ging stu­dies show that such prag­ma­tic con­clu­si­ons depend on brain areas invol­ved in the ‘theory of mind’ or on thin­king about other people’s beliefs, emo­ti­ons and desires.
Since most inter­per­so­nal expres­si­ons are part of a con­ver­sa­tion, some infor­ma­tion is usually alre­ady exch­an­ged bet­ween the spea­ker and the lis­te­ner. Spea­k­ers ensure that they mark “new infor­ma­tion” by using the order of words or pit­ches to focus the listener’s attention.

Language as a multiple brain network

Lan­guage is a “com­plex bio­cul­tu­ral hybrid”, Hago­ort sum­ma­ri­ses his stu­dies. “But what is the essence of human lan­guage? Is it a syn­tax that can be found in the Broca area? Hago­ort ques­ti­ons this old notion: “It doesn’t help to grasp the whole pic­ture of human lan­guage skills if you want to distin­gu­ish bet­ween essen­tial and insi­gni­fi­cant aspects of speech and lan­guage. Ins­tead, the neu­ro­sci­en­tist argues for a “mul­ti­ple brain net­work view of lan­guage in which some ope­ra­ti­ons could well be shared with other cogni­tive domains such as music and arithmetic. ♦

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