Inhaltsverzeichnis
Eine aussergewöhnlich gewöhnliche Frau
von Isabelle Klein
In dem Roman von Bernhard Schlink: Olga breitet der Autor eine Geschichte über eine starke Frau in stürmischen Zeiten aus, die beinahe novellenartig anmutet, derart reduziert ist dieser dreiteilige Roman, der mit seiner Kürze als auch mit schnörkelloser Sprache gleichermassen verwundert wie fasziniert. Am Anfang das eine, zum Ende das andere.
Wir erleben in Schlinks Erzählung Olgas Kindheit, die alles andere als einfach ist und in ihrer Schlichtheit fast schon märchenhaft wirkt – kurz (bei bestimmten Ereignissen), aber auch wieder sehr ausführlich im Vergleich zu manchen Stellen des ersten Teiles, in denen viele Jahre auf wenigen Seiten umrissen werden, und dabei skurril, geradezu kafkaesk in der Schilderung der Vorkommnisse.
Im Wilden Osten des Deutschen Kaiserreiches

Zur Waise geworden im Wilden Osten des Deutschen Kaiserreiches, wächst sie bei ihrer Grossmutter auf: Liebe zu erfahren sei noch wichtiger als zu lieben, wird Olga im hohen Alter sagen. Gerade weil sie als kleines Mädchen eben dies nie erleben durfte. Die “arme” Olga, die etwas “slawisch” anmutet und darum abgelehnt wird, schliesst Freundschaft mit den Kindern des hiesigen Grundbesitzers. Hier werden die Weichen ihres Lebens – einerseits ambitioniert und emanzipiert – gestellt (eben alles andere als arm), andererseits ist ihre Stärke zugleich Teil ihrer Schwäche, denn sie wird nie über ihren selbst gewählten festgesteckten Radius hinauskommen.
Und gerade hier zeigt sich einmal mehr, wie raffiniert Schlink diesen Roman konzipiert hat. Gerade als man denkt, Olga und ihre mangelnde Freude an Herberts – ihre grosse und einzige Liebe – Welterkundung verstanden zu haben, zeigt uns der Autor im dritten Teil – der aus Briefen besteht, die Olga über viele Jahre an den Geliebten adressiert hat -, dass Olga eben doch mehr ist als die Summe ihrer Handlungen: “Dass du zurückkommst und mich all das fragst, was du mich nie gefragt hast: Wie ich leben möchte, ob ich lieber etwas anderes täte als Kinder zu unterrichten, die nicht unterrichtet werden wollen, und was das wäre und was ich von der Welt sehen, wohin ich reisen und wo ich leben möchte, wie Du mir bei alledem helfen kannst.”
Gefangene eines kolonialistischen Umfeldes
Zurück zum Anfang: Weichenstellend für ihr Leben ist die Begegnung mit den Kindern des hiesigen Grundbesitzers, Herbert und Viktoria. Welch imperialistischer Name, der zugleich für die Geisteshaltung der Deutschen zu Zeiten des Kaiserreiches steht! Kolonialismus ist Programm, vor allem in Herberts Leben, der sich dem Regiment und dem Kampf in “Deutsch-Südwest” gegen die Herero anschliessen wird. Die drei sind Gefangene ihres gesellschaftlichen Umfeldes, jeder trägt archetypische Züge in sich. So ist die, die augenscheinlich “arm” dran ist, die kleine Olga mit dem unerwünschten Background, eben doch gerade die Starke, Ambitionierte, politisch Interessierte und Emanzipierte, kritisch Denkende. Sie alleine wird es aus eigener Kraft zu etwas bringen im Leben, ganz die Selfmade-Frau – Erfolg durch Wissen und Lehre. Und so zieht sich die vermeintliche Schwäche, an Beruf und lokaler Eingebundenheit festzuhalten auch durch das Leben der älteren Olga. – Sie verliert ihr Gehör – welch Glück, denn so muss sie den ungeliebten Nationalsozialismus und die lautstarken Auftritte nicht mit anhören.

Während Olga mit Herbert eine Freundschaft verbindet, die zu Liebe heranwächst und Zeit ihres Lebens bis über seinen Tod hinaus anhält, ist ihr Verhältnis zu Viktoria von Anfang an belastet. Zerfressen von Standesdünkel, Borniertheit und Neid hintertreibt sie immer wieder deren Freundschaft und aufkeimende Liebe, intrigiert gegen die von Herbert gewünschte Heirat. Doch Olga wäre nicht Olga, wenn sie nicht bemerkenswert ruhig und stark bliebe, unbeirrt ihren Weg ginge. Wie sie später einmal zu Ferdinand (ihr Quasi-Enkel im Nachkriegsdeutschland) sagen wird: “So ist das Kind. Du kannst aus dem, was dir gegeben ist, nicht das Beste machen, wenn du es nicht annimmst.” Und darin ist Olga wahrlich eine Meisterin!
Heimliche Treffen über Jahre hinweg, lange Zeiten der Abwesenheit, als Herbert zunächst Soldat wird und dann nach Deutsch-Südwest reist, um im irrigen missionarischen Eifer das angeblich überlegene Deutsche der kolonialen Welt zum Heil zu bringen – das ist Olgas Leben als junge Frau. Sie scheint zufrieden mit ihrem kleinen Wirkkreis und freut sich über Berichte von einem fernen Land.
Vom Kaiserreich zum Nazi-Grössenwahn
Gekonnt greift Schlink in diversen Andeutungen das Machtstreben der Deutschen auf und an, lässt es schliesslich mit der alten Olga in Schall und Rauch aufgehen. Über die Herero, das Streben nach weiteren Kolonien, den nationalsozialistischen Grössenwahn durch die Erschliessung von “Lebensraum” im Osten, dem ihr Ziehsohn Eik willenlos verfällt, bis hin zu den 1960ern: Immer wollen die Deutschen alles zu gross. Und so entwirft Schlink ein Gemälde, das äusserst reduziert, schlicht in dem Durchstreifen der Abläufe ist (da werden locker mal Jahre auf 15 Seiten abgerissen), die den Leser über die grösseren Zusammenhänge deutscher Geschichte sinnieren und sich ihrer bewusst werden lässt.
Bemerkenswert ist der Stellenwert der Zahl Drei, die immer wiederkehrt. Drei Freunde aus Kindheitstagen, die ihre Lebenswege nachhaltig beeinflussen; Drei Männer, die Olga Vertraute und Weggefährten in unterschiedlichen Lebensstadien sind: Da ist der bereits genannte Herbert, über den sie Zeit ihres Lebens nicht hinwegkommen wird; dann Ziehsohn Eik, der sich genau so wie Herbert einer wahnwitzigen Idee verschreiben wird. Dritter im Bunde ist der junge Ferdinand, den Olga durch ihre Arbeit als Näherin in der jungen Bundesrepublik kennenlernen wird – ihr Vertrauter der letzten Jahre. Hier schliesst sich der Kreis, denn die Zahl Drei repräsentiert auch den Aufbau des Romans, und Ferdinand kommt gerade im dritten Teil überragende Bedeutung zu.
Tragisch und aufbauend zugleich
Im ersten Teil lässt uns ein auktorialer Erzähler im Zeitraffer am Leben Olgas in Ostpreussen bis hin zur Vertreibung teilnehmen. Daran schliesst ein personaler Erzähler – eben Ferdinand – an, der Olgas Leben als ältere Dame skizziert. So weit, so gut – sehr gelungen und raffiniert schliesst Schlink damit den Kreis, indem er Ferdinand auf die Suche nach verschollenen Briefen gehen lässt. Und so erfahren wir endlich ein wenig mehr, als die ruhen gelassene Fassade über die Jahre hinweg preisgibt. ein gelungener und raffinierter Schachzug von Schlink, so letztlich alles wieder zueinander zu führen und dabei doch noch die eine oder andere Überraschung parat zu halten.
Olgas Geschichte ist tragisch und aufbauend zugleich. Es ist die Geschichte einer Frau, die weiss was sie will und wofür sie steht, auch wenn die Männer ihr immer einen Strich durch die Rechnung machen mit ihren Wertewelten… ♦
Bernhard Schlink: Olga, Roman, 320 Seiten, Diogenes Verlag, ISBN 978-3257070156
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