Philip Pullman: Über den wilden Fluss (Roman)

Eine Woge der Liebe für das Kind

von Isabelle Klein

Mit Pre­quels und Sequels im Fan­ta­sy­be­reich ist das immer so eine Sache – fast keine Saga in Buch- oder Film­form, die nicht, in wel­che Rich­tung auch immer, fort­ge­setzt wird. Braucht man sie wirk­lich, oder ist alles nur Geldmacherei?

Philip Pull­man arbei­tet seit vie­len Jah­ren an die­sen neuen Bän­den, die er inter­es­san­ter­weise als “equel” (eben weder “Pre-” noch “Sequel”) bezeich­net, und mit “Über den wil­den Fluss” liegt nun end­lich der von Fans heiss­ersehnte erste Teil der neuen Tri­lo­gie (im Ori­gi­nal “The Book of Dust” – Vol. 1) vor.

Vie­les ist dabei gleich geblie­ben und doch wie­der anders. Neu ist u.a. Mal­com, ein muti­ger und paten­ter Junge, den die Liebe zur Frei­heit, Wahr­heit und zu einem Kind in ein Aben­teuer unbe­kann­ten Aus­mas­ses füh­ren wird. Ebenso Alice, ein nüch­tern-mür­ri­sches jun­ges Ding, das Mal­colm unver­se­hens zur wich­ti­gen Stütze wird Dane­ben alt­be­kannte Figu­ren, die uns in der “His Dark Materials”-Trilogie begeg­nen, nur eben jün­ger. Zudem eine Welt, die der unse­ren recht ähn­lich ist, aber sich doch in wesent­li­chen Merk­ma­len unter­schei­det. Wie schon im Haupt­werk erklärt vie­les (anba­ri­sches Licht, Gyrop­ko­p­ter … ) sich von selbst und bleibt doch durch das aus­blei­bende Glos­sar herr­lich indif­fe­rent. Denn letzt­lich bleibt es ja im Vor­stel­lungs­ver­mö­gen des Ein­zel­nen, wie er sich diese Klei­nig­kei­ten (und Pull­mans Wel­ten­ent­wurf) erklärt.

Das alte Staubphänomen – verdichtet

Neu ist, dass das alt­be­kannte Staub­phä­no­men hier ver­dich­tet wird. Durch den Staub ist die alles beherr­schende tota­li­täre Kir­che in Gefahr. Denn ihr zufolge liesse sich die Seele als Mate­rie deu­ten und ver­löre ihren gött­li­chen Ursprung. Man sieht bereits, auch hier ver­webt Pull­man wie­der exzel­lent u.a. Blake und Mil­ton zu einer Suche nach Wahr­hei­ten im Kampf um Macht­an­sprü­che. Mit­ten­drin ist Mal­colm Pol­s­tead, zunächst ein elf­jäh­ri­ger bie­de­rer Lang­wei­ler, der den Eltern im Gast­haus und den Non­nen pflicht­be­wusst hilft. Durch Beob­ach­ten eines mys­te­riö­sen Vor­falls trifft er auf die Oak­ley-Street-Agen­tin Dr. Relf und sieht sich durch die Zunei­gung zu Lyra, die die Non­nen in Pflege genom­men haben, bald unver­se­hens in einem dun­kel-düs­te­ren Aben­teuer, als Was­ser­mas­sen, sich zu einer bibli­schen Flut apo­ka­lyp­ti­schen Aus­mas­ses zusam­men­brauen und man ver­sucht Lyra zu rau­ben. Ein­zige Ret­tung ver­spricht Mal­colms heiss­ge­lieb­tes Boot “La Belle Sau­vage”, auf das er sich samt Baby Lyra und Alice begibt, um dem reis­sen­den Strom zu trot­zen und Lyra in Sicher­heit zu bringen.

The mea­ning of a story emer­ges in the mee­ting bet­ween the words on the page and the thoughts in the reader’s mind.”** Es ist genau die­ser Satz, der auf Pull­mans Home­page zu lesen ist, der mich vor vie­len Jah­ren für die “His Dark Materials”-Trilogie begeis­terte. Und so lässt sich folg­lich im All-Age-Bereich für Gross und Klein, für Neu­ein­stei­ger und alte Hasen jeweils etwas ande­res aus Pull­mans Werk ziehen.

Spannend, düster, exzellent

Düster, eine despotische Welt abbildend, erschafft Philip Pullman in seinem Fantasy-Roman "Über den wilden Fluss" eine ungemein packende Geschichte um Lyras Babyzeit. Ein liebenswerter Junge, ein entzückendes Baby - gepaart mit Wassermassen biblischen Ausmasses in einer Welt voller Wunder.
Düs­ter, eine des­po­ti­sche Welt abbil­dend, erschafft Philip Pull­man in sei­nem Fan­tasy-Roman “Über den wil­den Fluss” eine unge­mein packende Geschichte um Lyras Baby­zeit. Ein lie­bens­wer­ter Junge, ein ent­zü­cken­des Baby – gepaart mit Was­ser­mas­sen bibli­schen Aus­mas­ses in einer Welt vol­ler Wunder.

Über den wil­den Fluss” ist ein span­nen­des, düs­te­res Lese­aben­teuer vol­ler Fan­ta­sy­ge­stal­ten für die Jun­gen, exzel­lente Theo­kra­tie- und Tota­li­ta­ris­mus­kri­tik für die Erwach­se­nen, die sich zugleich an den lie­bens­wer­ten Prot­ago­nis­ten und ihren fleisch­ge­wor­de­nen See­len in Dæmon­ge­stalt (wie­der mal höchst ent­zü­ckend) erfreuen möch­ten. Und so beginnt es etwas gemäch­lich in einer Welt, die wie­der ein­mal der unse­ren so ähn­lich und doch ganz anders ist. Mit der reis­sen­den Flut, die Men­schen über­rascht, obwohl die Zei­chen auf War­nung stan­den, wird aus dem pflicht­be­wuss­ten Jun­gen ein muti­ger Ret­ter, und die Span­nung nimmt Fahrt auf. Zugleich wird alles, was Pull­man ratio­nal erklärt, ins Über­na­tür­li­che ver­kehrt. Es wim­melt von Elfen, Hexen, Was­ser­göt­tern. Genial auch die Idee mit der Insel der Ver­ges­sen­den, die auf ori­gi­nelle Art und Weise wohl Demenz erklä­ren soll.

Grosse Spielräume mit durchdachtem Weltenentwurf

Philip Pullman (Geb. 1948)
Philip Pull­man (Geb. 1948)

Vor rund 15 Jah­ren, als ich das erste Mal als Erwach­sene Pull­mans “Gol­de­ner-Kom­pass-Tri­lo­gie” begeg­nete, ris­sen mich Lyra und Co. nicht son­der­lich vom Hocker. Zu sehr stan­den damals die Zei­chen auf Zau­ber­fan­tasy, gepaart mit Inter­nats­ro­man­tik, gegen Faschis­mus. Wobei Pull­mans vier Sally-Lock­hart-Bücher (vik­to­ria­ni­sche Aben­teuer-Mys­tery mit einem Hauch Steam­punk) eher mei­nen Geschmack tra­fen. Heute jedoch, nach viel­fäl­ti­ger Jugend-Fan­tasy-Lek­türe, schätze ich die gros­sen Spiel­räume, die gute Fan­tasy-Autoren sich zunutze machen und eben solch einen wun­der­bar durch­dach­ten Wel­ten­ent­wurf wie die­sen hier schaf­fen, in dem viel mehr steckt, als man auf den ers­ten Blick ver­mu­ten mag. Viel­schich­ti­ger und gehalt­vol­ler als reine Wel­ten­ent­würfe, die nur unter­hal­ten sol­len. Zum Glück weit weg von christ­lich ver­klär­ter Roman­tik à la “Nar­nia”. Inso­fern soll­ten sich auch Erwach­sene, denen “Über den wil­den Fluss” viel­leicht zunächst als rei­nes Jugend­buch erscheint, nicht abhal­ten lassen.

Was soll man also sagen über die­sen ers­ten Band einer neuen Tri­lo­gie, in dem ein­fach alles glän­zend ist? Gekonn­ter Span­nungs­auf­bau, eine düs­tere Odys­see, die vor allem junge Leser im wahrs­ten Sinne mit­reis­sen wird; dane­ben ein schnör­kel­lo­ser Erzähl­stil, wun­der­bar nüch­tern auf den Punkt gebracht. Gelun­gene Figu­ren­kon­stel­la­tion um Lyra Bel­la­qua. Und für das etwas rei­fere Publi­kum jede Menge Ver­weise auf Pull­mans Vor­bil­der, und die hat er als Lite­ra­tur­do­zent wie Blake- und Mil­ton-Ver­eh­rer ja zuhauf. Beste Coming-of-Age-Fan­tasy für ein Publi­kum von 9 bis 99. Freuen wir uns auf die Fortsetzung. ♦

Philip Pull­man: Über den wil­den Fluss, Roman, 566 Sei­ten, Carlsen Ver­lag, ISBN 978-3-551-58393-2

Lesen Sie im Glarean Maga­zin zum Thema Roman-Saga auch über Ken Fol­lett: Win­ter der Welt
… sowie über den neuen Roman von C. Drews: Sonn­tags fehlst du am meisten

Kommentare sind willkommen! (Keine E-Mail-Pflicht)