CD-Neuheiten: The Edge of Time & The Last Island

Urzeit-Zauber und Orkney-Klänge

von Wolf­gang-Armin Rittmeier

Das schot­ti­sche Label Del­phian steht seit mitt­ler­weile 17 Jah­ren für aus­ser­ge­wöhn­li­che Musik­pro­duk­tio­nen jen­seits des soge­nann­ten „Main­streams“. Es sind beson­ders Kon­zept­al­ben – wie die kürz­li­che erschie­nene Stein­zeit-CD „The Edge of Time“ und Plä­doy­ers für bis­lang Uner­hör­tes wie „The Last Island“, das Minia­tu­ren und kam­mer­mu­si­ka­li­sche Werke des im ver­gan­ge­nen Jahr ver­stor­be­nen Kom­po­nis­ten Sir Peter Max­well Davies prä­sen­tiert -, die Del­phian sein cha­rak­te­ris­ti­sches Gepräge ver­lei­hen. Und so zei­gen diese bei­den Alben Mög­lich­kei­ten musi­ka­li­scher Rede auf einer Zeit­achse auf, die etwa 43’000 Jahre umfasst. Der­glei­chen bie­ten nicht eben viele Labels.

Musik aus dem Paläolithikum: “The Edge of Time”

The Edge of Time - CD-Cover - Delphian RecordsThe Edge of Time“, das Volume 4 der ins­ge­samt her­aus­ra­gen­den Reihe „Euro­pean Archeo­logy Pro­ject”, wirft also den Blick zurück in eine Zeit, die wir uns – wenn wir ehr­lich sind – nicht wirk­lich vor­stel­len kön­nen. Wir schrei­ben das Ende des Mit­tel­pa­läo­li­thi­kums, befin­den uns in einer Welt am Rand der letz­ten Eis­zeit und auf einem euro­päi­schen Kon­ti­nent, auf dem erst­mals der ana­to­misch moderne Mensch auf­taucht. In den Höh­len „Geis­sen­klös­terle“ und „Hohle Fels“ auf der Schwä­bi­schen Alb sowie in der in Süd­frank­reich gele­ge­nen Höhle von Istu­ritz ent­deckte man in den letz­ten Dez­en­nien – neben ande­ren Fun­den – auch Flö­ten aus Tier­kno­chen (Mam­mut, Schwan, Geier).

Uraltes Vokabular im Dialog mit der Moderne

Diese Flö­ten nun – genauer gesagt: die Rekon­struk­tio­nen die­ser Instru­mente – ste­hen im Zen­trum der Ein­spie­lung. Die Flö­tis­tin Anna Frie­de­rike Poten­gow­ski hat sich mit die­sen Instru­men­ten vom Rande der Zeit zwar wis­sen­schaft­lich aus­ein­an­der­ge­setzt, das eigent­lich Inter­es­sante aber ist, dass sie auch ange­gan­gen ist, ihnen Leben ein­zu­hau­chen und sie auf diese Weise der toten Welt des früh­zeit­li­chen Rari­tä­ten­ka­bi­netts zu ent­reis­sen: „Die Idee des Pro­jek­tes war es, die Gegen­warts­kul­tur mit ihren ver­ges­se­nen Wur­zeln in Kon­takt zu brin­gen, etwas von dem uralten musi­ka­li­schen Voka­bu­lar zurück­zu­ho­len und es in einen Dia­log mit moder­nen musi­ka­li­schen Aus­drucks­for­men zu setzen.“
Gemein­sam mit dem Per­kus­sio­nis­ten Georg Wie­land Wag­ner hat sich Poten­gow­ski also auf den nicht eben unpro­ble­ma­ti­schen Weg der Nach­emp­fin­dung bege­ben. Und diese Nach­emp­fin­dung klingt in der Tat höchst fas­zi­nie­rend. Die Kom­bi­na­tion der ein wenig schar­fen, krat­zi­gen, an die Pan­flöte erin­nern­den Kno­chen­flö­ten­klänge mit einer Gesangs­stimme und den Natur­ma­te­ria­lien, die Wag­ner im Rah­men der Per­kus­sion ein­setzt (Holz, Stein, Heu, Was­ser, Tier­haut), wirkt durch­weg über­zeu­gend. Aber auch, wenn plötz­lich Marimba und Vibra­phon zu Ein­satz kom­men, bleibt das, was die bei­den Künst­ler an Musik erzeu­gen, atmo­sphä­risch aus­ge­spro­chen dicht. Es wird eine Viel­falt an Stim­mun­gen erzeugt, die der Hörer unmit­tel­bar nach­voll­zie­hen kann: Hei­ter­keit, Klage, Medi­ta­tion, Geheim­nis, Magie – von all dem kön­nen diese uralten Kno­chen ebenso über­zeu­gend sin­gen wie die moder­nen Flö­ten, Oboen oder Englischhörner.

Begrenzte Gestaltungsmöglichkeiten der Instrumente

Doch lei­der bleibt auch in Anna Frie­de­rike Poten­gow­skis ansons­ten durch­weg infor­ma­ti­ven Ein­füh­rungs­text eine Frage unbe­ant­wor­tet, die doch als Fix­punkt der Nach­emp­fin­dung nicht unwich­tig erscheint: In wel­chen Zusam­men­hän­gen spiel­ten die frü­hen Men­schen diese Instru­mente? War es zum Zeit­ver­treib? War es um, nachts die grosse Stille der Welt zu ver­trei­ben? Wur­den sie im Rah­men von kul­ti­schen Hand­lun­gen ein­ge­setzt? Hier wäre ein Hin­weis auf For­schungs­er­geb­nisse infor­ma­tiv gewe­sen. Davon abge­se­hen ist das ein­zige Manko die­ser an sich wirk­lich rundum gelun­ge­nen Pro­duk­tion viel­leicht die Spiel­zeit von gut 65 Minu­ten. Denn man kann nicht daran vor­bei­re­den, dass sich nach nicht allzu lan­ger Zeit des Hörens das Gefühl ein­stellt, dass die Mög­lich­kei­ten der Gestal­tung von Musik mit die­sen Instru­men­ten – so über­zeu­gend diese an sich auch ist – auch ihre Gren­zen hat. Und so schleicht sich nach eini­ger Zeit der ungute Ein­druck der Red­un­danz und krea­ti­ven Ermü­dung ein, auf­grund des­sen man neben das „Sehr gut“, das diese Pro­duk­tion im Gan­zen ver­dient hat, wohl ein klei­nes „Minus“ set­zen muss. 40 Minu­ten hät­ten gereicht. ♦

The Edge of Time, Palaeo­li­thic Flu­tes of France & Ger­many, Anne Frie­de­rike Poten­gow­ski & Georg Wie­land Wag­ner, Audio-CD, 64 Minu­ten, Del­phian CD-Label

Lesen Sie im Glarean Maga­zin zum Thema “Alte Instru­mente” auch über Ariel Rami­rez: Misa Criolla


Eine Postkarte von den Orkneys:  “The Last Island”

The last Island - Cover - Delphian RecordsAm ande­ren Ende des Zeit­strah­les nun fin­det sich jene Musik, die die CD „The Last Island“ vor­stellt. Sie prä­sen­tiert kam­mer­mu­si­ka­li­sche Kom­po­si­tio­nen der Gegen­wart aus der Feder des 2016 ver­stor­be­nen Kom­po­nis­ten Sir Peter Max­well Davies. Viele der Werke, die auf die­ser CD ent­hal­ten sind, sind über die Jahre für das schot­ti­sche Hebri­des Ensem­ble kom­po­niert wor­den, das hier für die Gestal­tung der zehn mehr oder min­der knap­pen Stü­cke ver­ant­wort­lich zeich­net. Der künst­le­ri­sche Lei­ter des Ensem­bles, Wil­liam Con­way, war über 30 Jahre hin­weg freund­schaft­lich mit dem Kom­po­nis­ten ver­bun­den. In sei­nem ein­lei­ten­den Text zur Auf­nahme ver­sucht er zu erklä­ren, was das ganz beson­dere an den hier ein­ge­spiel­ten Wer­ken ist, die alle­samt zwi­schen 1991 und 2016 ent­stan­den sind: „Man kann es so sehen, dass die Kam­mer­mu­sik, von der eine Menge unter dem Schat­ten von Krank­heit ent­stan­den ist, […], Max‘ eigene letzte Insel war, seine Ver­sion der ver­zich­ten­den, frei­ge­ben­den Ges­ten des Prospero […].“

Bezug zur Lebensumwelt des Komponisten

Greift man die­sen Gedan­ken auf, so fin­det sich leich­ter ein Zugang zu die­sen nicht sel­ten bedroh­lich-düs­te­ren, unheim­lich-magi­schen, sper­ri­gen, aber auch nicht sel­ten tiefe Melan­cho­lie offen­ba­ren­den Wer­ken. Oft bezie­hen sich die Kom­po­si­tio­nen, will man den Wor­ten Davies‘ Glau­ben schen­ken, auf Erschei­nun­gen der Lebens­um­welt des Kom­po­nis­ten, der sich zu Beginn der 70er Jahre des 20. Jahr­hun­derts auf den Ork­ney Islands nie­der­ge­las­sen hatte. So ist das Streich­sextett „The Last Island“ von zwei unbe­wohn­ten Inseln inspi­riert, die in der Nähe sei­ner Wahl­hei­mat San­day sind.
Das stän­dige Chan­gie­ren zwi­schen dun­kel gehal­te­nen, weit­ge­hend ruhi­gen Pas­sa­gen, die sich nicht sel­ten durch einen nost­al­gi­schen Ton aus­zeich­nen, und erreg­ten Abschnit­ten, die rau­schen, tän­zeln und schwir­ren, ver­sinn­bild­licht treff­lich die bei­den Fel­sen im tosen­den Ozean. Eine echte Mee­res­mu­sik, die in ihrer gesam­ten Hal­tung von fern an Bax‘ Ton­dich­tung „Tin­ta­gel“ gemahnt. Von der Ork­ney-Insel San­day aus schreibt er auch musi­ka­li­sche Post­kar­ten („Post­card from San­day“) oder eine „Bir­th­day Card for Jen­ni­fer“ – rei­zende Minia­tu­ren, von Philip Moore am Kla­vier über­zeu­gend in Szene gesetzt.

Spannungsfeld von Lyrik und Dramatik

Das Label Delphian ist immer für Entdeckungen gut. Zwei der jüngsten Veröffentlichungen verdeutlichen dies unmittelbar. Ob nun die Klänge urzeitlicher Flöten (The Edge of Time) oder die herb-schöne Tonsprache Peter Maxwell Davies‘ (The Last Island): Hier finden sich interessanten Konzepte, die musikalisch, technisch und editorisch auf ausgesprochen hohem Niveau umgesetzt werden. Ein Muss für jeden, der sich einmal abseits der eingefahrenen Wege des Mainstreams umhören möchte.
Das Label Del­phian ist immer für Ent­de­ckun­gen gut. Zwei der jüngs­ten Ver­öf­fent­li­chun­gen ver­deut­li­chen dies unmit­tel­bar. Ob nun die Klänge urzeit­li­cher Flö­ten (The Edge of Time) oder die herb-schöne Ton­spra­che Peter Max­well Davies‘ (The Last Island): Hier fin­den sich inter­es­sante Kon­zepte, die musi­ka­lisch, tech­nisch und edi­to­risch auf aus­ge­spro­chen hohem Niveau umge­setzt wer­den. Ein Muss für jeden, der sich ein­mal abseits der ein­ge­fah­re­nen Wege des Main­streams umhö­ren möchte.

Der Rest der hier zu hören­den Werke aber zeich­net sich durch eine Herb­heit, Ner­vo­si­tät und Tran­ce­haf­tig­keit aus, die ins­be­son­dere auf der Folie der von Con­way ange­deu­te­ten Ent­ste­hungs­be­din­gun­gen eine beson­dere Prä­gnanz und Dring­lich­keit erhält. Ähn­lich wie im Fall von Bruck­ners neun­ter Sym­pho­nie scheint hier ein Kom­po­nist am Abgrund fie­ber­haft zu Werke zu gehen. Für die­sen Peter Max­well Davies legen sich die Musi­ke­rin­nen und Musi­ker des Hebri­des Ensem­bles nicht nur ins Zeug: sie atmen ihn förm­lich und legen eine rund­her­aus gran­diose Inter­pre­ta­tion die­ser Werke vor. Man mag hin­se­hen (oder hin­hö­ren), wohin man möchte, und kann doch immer wie­der nur zu dem einen Ergeb­nis kom­men. Sei es Gestal­tung der gespens­tisch-gewich­ti­gen „Noc­turnes“ für Kla­vier­quar­tett, des sich in einem enor­men Span­nungs­feld von Lyrik und Dra­ma­tik bewe­gen­den „Obo­en­quar­tett“, der zwi­schen Uner­bitt­lich­keit und roman­tischs­ter Ton­spra­che schwan­ken­den „Sonate für Vio­line und Kla­vier“ oder dem Streich­quar­tett­satz aus dem Jahre 2016, dem letz­ten Werk, an dem Peter Max­well Davies arbei­tete: das Hebri­des Ensem­ble und die Musik von Peter Max­well Davies sind in jeder Hin­sicht für­ein­an­der gemacht. Ob man der­einst eine wei­tere Auf­nahme die­ser Werke braucht? Ich bezweifle es. ♦

The Last Island, Cham­ber Music by Peter Max­well Davies, Hebri­des Ensem­ble, Audio-CD, 76 Minu­ten, Del­phian CD-Label

Lesen Sie im Glarean Maga­zin zum Thema Kam­mer­mu­si­ka­li­sche Moderne auch über Audio-CD
Franz Schu­bert & Jörg Wid­mann: Oktette

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