Die lautstarken Protestkundgebungen im Zuge von Aufführungen moderner Musik scheinen nunmehr der Vergangenheit anzugehören. Das Auditorium der Neuen Musik rekrutiert sich in erster Linie aus “Spezialisten”. Und jener Teil des “durchschnittlichen” Publikums, der sich auf das Abenteuer Neue Musik einzulassen bereit ist, ist inzwischen recht zahm geworden. Der Hörer wagt schon alleine aus Furcht, als intolerant und konservativ zu gelten, kaum noch, sich negativ zu einem Musikstück zu äussern, das ihm insgeheim missfällt.
Vor allem aber zeichnet er sich durch grössere Aufgeschlossenheit aus. Er sieht ein, dass die Musik des 20. und 21. Jahrhunderts anders klingen muss als die früherer Zeiten, selbst wenn er sie nicht unbedingt versteht.
Mittlerweile aber besteht seitens vieler Musikliebhaber auch der Wunsch bzw. die Neugier, namentlich die abendfüllenden Opera der Neuen Musik kennen zu lernen. Bei den – leider seltenen – Anlässen, bei denen entsprechende Werke an den grossen Konzert- und Opernbühnen oder im Rahmen von Festivals zur Aufführung gelangen, lässt sich eine hohe Besucherzahl beobachten. […]
Nichtsdestoweniger leidet die Neue und Zeitgenössische Musik nach wie vor unter Kontaktschwierigkeiten, was vielfach an dem problematischen Erbe liegt, das sie angetreten hat. Potenzielle Hörerkreise wurden verschreckt und müssen erst davon überzeugt werden, dass auch moderne Musik sehr reizvoll sein und Genuss bereiten kann. […]
A priori eine schwierige Position: Die zeitgenössische Neue Musik
Einer Vielzahl von modernen Kompositionen fehlt schon der Intention ihrer Schöpfer nach der verbindliche und affirmative Charakter, der die Identifikation mit ihnen auf breiter Ebene ermöglichen würde. In der pluralistischen Gesellschaft, die keine Leitkultur mehr kennt und in der der Musikgeschmack einerseits von einer mächtigen Industrie und andererseits von jedem Individuum selbst bestimmt wird, haben diese Werke grosse Schwierigkeiten, an ihre “Empfänger” zu gelangen. Der Mensch der modernen Zivilisationen, dessen Leben weitgehend vom täglichen Broterwerb bestimmt wird, ist fortwährend einer Reizüberflutung ausgesetzt, die vom Verkehrslärm und den allgegenwärtigen Massenmedien herrührt. Gerade er sehnt sich in seinen spärlich bemessenen Erholungspausen nach dem Heilen und Schönen, das er in der traditionellen Musik, in der lebensbejahenden Unterhaltungsmusik oder auch im Kitsch findet.
Indem aber die Neue Musik – von Ausnahmen freilich abgesehen – gerade den Eindruck von formaler Geschlossenheit und den herkömmlichen Schönheitsbegriff negiert, hat sie sich a priori in eine schwierige Position begeben. Sie spricht nur diejenigen an, die dazu bereit sind, den Zugang zu ihr von sich aus zu suchen, sei es nun in Form von geistiger Auseinandersetzung, meditativer Vertiefung oder durch die rein “kulinarische” Perzeption ihrer Klänge.
Da ihre Interessenten eine Minderheit bilden, ist auch die wirtschaftliche Situation der Neuen Musik eine denkbar schlechte. Die Mehrzahl der Musikschaffenden kann nicht vom Komponieren leben und muss den Unterhalt auf andere Weise bestreiten. Die notwendigen Mittel für Konzertaufführungen – Herstellungskosten für das Notenmaterial, Saalmieten, Musikerhonorare etc. – können vielfach nur durch Förderungen aus öffentlicher Hand aufgebracht werden. Und der Erlös aus verkauften Eintrittskarten oder Spenden steht meist in keiner günstigen Relation zum finanziellen Aufwand.
Die Situation der zeitgenössischen Musik ist derzeit also unzufriedenstellend, aber keineswegs hoffnungslos. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass sich die heutigen Komponisten aktiv um die Wiederherstellung des Kontakts zum Publikum und um die Entschliessung neuer Rezipientenkreise bemühen. Dass die harmonische Begegnung von Komponist und Hörer im Werk notwendigerweise auf Kosten des künstlerischen Anspruchs erfolgt, ist eine Irrlehre des 20. Jahrhunderts, die mittlerweile zunehmend an Glaubwürdigkeit verliert. ♦
Aus Ursula Petrik: Die Leiden der neuen Musik – Die problematische Rezeption der Musik seit etwa 1900, Edition Mono/Monochrom Wien 2008