Jaume Cabré: Das Schweigen des Sammlers (Roman)

Von Dämonen besessen

von Gün­ter Nawe

Die Vial, eine wert­vol­le Gei­ge aus der Werk­statt des Cre­mo­ne­ser Gei­gen­bau­ers Sto­rio­ni aus dem 18. Jahr­hun­dert, übt eine selt­sa­me Fas­zi­na­ti­on auf den jun­gen Adrià Ar­dè­vol aus. Die­ser po­ly­glot­te, aus­ser­or­dent­lich be­gab­te Sohn ei­nes An­ti­qui­tä­ten­händ­lers aus Bar­ce­lo­na und die­se Gei­ge mit ih­rem be­zau­bern­den Klang, an der al­ler­dings Blut klebt, ste­hen im Mit­tel­punkt des neu­en Ro­mans “Das Schwei­gen des Samm­lers” des ka­ta­la­ni­schen Au­tors Jau­me Cabré.
Die Gei­ge, die Adrià bald per­fekt zu spie­len ver­steht, ist auch der Grund für ein Tö­tungs­de­likt, für ei­nen ge­heim­nis­vol­len Mord, dem Adriàs Va­ter Fe­lix Ar­dè­vol i Bosch zum Op­fer fällt. Für die­ses Ver­bre­chen macht sich der Jun­ge selbst ver­ant­wort­lich. Hat er doch die wert­vol­le Stoirio­ni, die sein Va­ter ei­nem In­ter­es­sen­ten zei­gen will, ge­gen sei­ne ei­ge­ne und we­ni­ger wert­vol­le Gei­ge aus­ge­tauscht. Die­se “Schuld”, die er spä­ter auf an­de­re Wei­se – die Gei­ge ge­hör­te ei­gent­lich ei­nem jü­di­schen Be­sit­zer – ab­tra­gen will, muss Adrià leben.

Parallele oder überschneidende Handlungsstränge

Jaume Cabré: Das Schweigen des Sammlers - Roman - Insel VerlagDas ist die Kon­stel­la­ti­on, aus der her­aus der Au­tor sei­nen Ro­man kon­stru­iert. Da­bei ent­wi­ckelt er Hand­lungs­strän­ge, die sich stän­dig über­schnei­den oder par­al­lel zu­ein­an­der ver­lau­fen. Das viel­stim­mi­ge Per­so­nal die­ses um­fang­rei­chen Bu­ches, die Schau­plät­ze, ein schier un­über­seh­ba­re Fül­le von Er­eig­nis­sen in Ver­gan­gen­heit und Ge­gen­wart – das al­les ist auf höchst kunst­vol­le Wei­se mit- und in­ein­an­der ver­schränkt, so dass eine Nach­er­zäh­lung fast un­mög­lich wird.
Den­noch: Ge­lehr­ter soll nach Va­ters Wil­len Adrià wer­den, nach Mut­ters Wil­len Gei­gen­vir­tuo­se. Die Kon­flik­te, die sich dar­aus für den Jun­gen er­ge­ben, sind evi­dent – und ma­chen die psy­chi­sche Si­tua­ti­on aus, in der der sen­si­ble Adrià, eine höchst ein­drucks­vol­le Fi­gur, sich be­fin­det. Adrià – wie schon sein Va­ter – ist nicht nur von der Mu­sik be­ses­sen, son­dern auch von des­sen Sam­mel­lei­den­schaft er­fasst. Er ver­stand, “…dass ich von dem glei­chen Dä­mon be­ses­sen war wie mein Va­ter. Das Krib­beln im Bauch, das Ju­cken in den Fin­gern, der tro­cke­ne Mund…”. Adrià ver­sucht, sich in die­sem Zwie­spalt von Ge­füh­len und Am­bi­tio­nen, was ei­nem Fluch gleich­kommt, zwi­schen mu­si­ka­li­schem Vir­tuo­sen­tum und Ge­lehr­sam­keit einzurichten.

Von der Inquisition bis zu Auschwitz-Birkenau

Aus den Re­cher­chen Adriàs über den Mord an sei­nem Va­ter und auf der Su­che nach dem Tä­ter er­schliesst sich die Fa­mi­li­en­ge­schich­te und die Ge­schich­te der Gei­ge und ih­rer Ent­ste­hung in Cre­mo­na im 17./18. Jahr­hun­dert. Eine dunk­le Ver­gan­gen­heit tut sich auf. Sie ist ver­bun­den mit der In­qui­si­ti­on im 14. und 15. Jahr­hun­dert, in der der Gross­in­qui­si­tor und sein Se­kre­tär, ein Meu­chel­mör­der, ein Mönch und ein jü­di­scher Arzt ent­schei­den­de Rol­len spie­len; Pa­ris wird zum Schau­platz und 1914 bis 1918 auch Rom. Eine Ge­schich­te, die Jau­me Ca­bré in Auschwitz–Birkenau 1944 en­den las­sen wird, mit den schreck­li­chen Ver­bre­chen von Sturm­bann­füh­rern und KZ-Ärz­ten an jü­di­schen Häft­lin­gen. Ca­bré schlägt da­mit ei­nen his­to­ri­schen Bo­gen vom Mit­tel­al­ter bis in die Neu­zeit – und stellt oft er­schre­cken­de Über­ein­stim­mun­gen, vor al­lem in ih­ren ne­ga­ti­ven Er­schei­nungs­for­men, fest.

Geschichten voller Gier und Macht und Neid

Dichter von Weltrang: Jaume Cabré (*1947)
Dich­ter von Welt­rang: Jau­me Ca­bré (*1947)

Es ist eine Ge­schich­te, es sind vie­le Ge­schich­ten in ei­ner von Gier und Macht und Neid, von dunk­len Mord­fäl­len und fins­te­ren In­tri­gen, vom Bö­sen schlecht­hin – aber auch über die Lie­be. Eine Lie­be, die Adrià und Sara er­le­ben und er­lei­den. Der Ro­man ist eine Art Me­ta­pher über den Miss­brauch von Macht und über die Macht der Kunst. Da­mit ist die­ser wun­der­ba­re Ro­man auch ein Buch über die con­di­tio hu­ma­na, me­lan­cho­lisch dar­ge­stellt und sehr tra­gisch, der sich Adrià aus­ge­setzt sieht. Ret­tung er­wächst ihm je­doch aus der Lie­be und aus der Lie­be zur Ge­lehr­sam­keit und zur Musik.

Jau­me Ca­bré wech­selt oft un­er­war­tet die Zeit­ebe­nen. Er­zähl­zeit und er­zähl­te Zeit ge­hen plötz­lich in­ein­an­der über. Es ist ein fas­zi­nie­ren­des Ta­bleau der Gleich­zei­tig­keit von ak­tu­el­lem Ge­sche­hen, von Er­in­ne­rung und his­to­ri­schen Fak­ten, das die­ser ge­nia­le Au­tor ge­schaf­fen hat. Mit­ten im Satz wird aus dem Ich-Er­zäh­ler ein aukt­oria­ler Er­zäh­ler; er­gibt sich eine Art “Wech­sel­ge­sang” zwi­schen der ers­ten und drit­ten Per­son. Wir ha­ben es mit ei­ner sehr küh­nen, je­doch sehr ge­lun­ge­ne Ro­man­kon­struk­ti­on zu tun, die vom Le­ser ein ho­hes Mass an Auf­merk­sam­keit er­for­dert; ihn da­für aber auch wun­der­bar be­lohnt. Die kon­ge­nia­le Über­set­zung durch Kirs­ten Brandt und Pe­tra Zick­mann trägt dazu in ho­hem Mas­se bei.

Mehr noch als Schriftsteller bin ich Musiker”

Jaume Cabrés Roman "Das Schweigen des Sammlers" ist eine Studie von einzigartigem, ja weltliterarischem Rang über die Macht und deren Missbrauch - und über die Macht der Kunst.
Jau­me Ca­brés Ro­man “Das Schwei­gen des Samm­lers” ist eine Stu­die von ein­zig­ar­ti­gem, ja welt­li­te­ra­ri­schem Rang über die Macht und de­ren Miss­brauch – und über die Macht der Kunst.

Jau­me Ca­bré ist ein äus­serst klu­ger, ein sou­ve­rä­ner Au­tor. Das hat er be­reits in sei­nen frü­he­ren Bü­chern (“Die Stim­men des Flus­ses”, “Se­n­yo­ria”) be­wie­sen. Mit die­sem Ro­man toppt er je­doch sei­ne bis­her er­schie­ne­nen Ro­ma­ne. Das hat nicht nur et­was mit dem Plot, den vie­len Plots, sehr am­bi­tio­niert und vir­tu­os mit­ein­an­der ver­knüpft, zu tun, son­dern auch mit der Mu­si­ka­li­tät der Spra­che des ka­ta­la­ni­schen Au­tors. Jau­me Ca­bré hat ein­mal dar­über ge­sagt: “…denn mehr noch als Schrift­stel­ler bin ich Mu­si­ker, je­den­falls, was die Lei­den­schaft an­geht… Es gibt eine syn­tak­ti­sche Ka­denz, an der ich dau­ernd ar­bei­te…”. Ge­nau so auch liest sich der Ro­man, hoch mu­si­ka­lisch, von gros­ser sprach­li­cher Dich­te, ar­tis­tisch, ohne ar­ti­fi­zi­ell zu sein.
Es si­cher nicht zu weit aus­ge­holt, die­sem gross­ar­ti­gen Ro­man welt­li­te­ra­ri­schen Rang zuzusprechen. ♦

Jau­me Ca­bré: Das Schwei­gen des Samm­lers, 839 Sei­ten, In­sel-Suhr­kamp Ver­lag, ISBN 978-3-458-17522-3

Le­sen Sie im Glarean Ma­ga­zin zum The­ma Neue Ro­ma­ne auch über Sa­rah Per­ry: Die Schlan­ge von Essex

… so­wie über den Kri­mi­nal­ro­man von Su­san­ne Goga: Der Ballhausmörder

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