Sarah Perry: Die Schlange von Essex (Roman)

Und die Welt dreht sich weiter”

von Isabelle Klein

Im vik­to­ria­ni­schen Lon­don des Jah­res 1893 ist das Kor­sett, das Cora Sea­borne die Luft zum Atmen nimmt, nicht nur mate­ri­ell zu sehen. Ihr Gatte, im Ster­ben lie­gend, befreit sie von Zwang und Unter­drü­ckung. Sein Tod gibt ihr end­lich die ersehnte Frei­heit, dem gesell­schaft­li­chen und weib­li­chen Dasein vol­ler Ein­engung durch Kon­ven­tio­nen, dem gesell­schaft­li­chen Kor­sett, zu ent­flie­hen. Was läge näher, als dem Ruf des Her­zens, in die­sem Fall der Wis­sen­schaft um Fos­si­lien, die Mary Anning mit ihren sen­sa­tio­nel­len Fun­den bereits rund ein drei­vier­tel Jahr­hun­dert zuvor den Weg zu Ruhm geeb­net hat, zu fol­gen und einem Leben vol­ler Frei­heit, Luft und Liebe nachzugeben?

Sarah Perry - Die Schlange von Essex (Roman) - Eichborn VerlagZusam­men mit ihrer Freun­din, zugleich Gesell­schaf­te­rin und Kin­der­mäd­chen für den ver­schro­be­nen jun­gen Fran­cis, macht sich das Trio nach Essex, genauer gesagt Col­ches­ter auf, um end­lich Erfül­lung in der Ein­öde zu fin­den, vol­ler Anbe­tung und Hin­gabe an die Natur. Doch auch weit weg von der Kapi­tale des Bri­ti­schen Welt­rei­ches ist man nicht sicher vor alten Bekann­ten. Ein Arbeits­kol­lege des Ver­stor­be­nen weilt samt Gat­tin ebenda und ver­mit­telt den Kon­takt zum Geist­li­chen des klei­nen Ört­chens Ald­win­ter, wo Cora neben der sagen­um­wo­be­nen “Schlange von Essex” viel mehr fin­det, als sie zunächst erwartet.

Natur vs. Glaube vs. Wissenschaft

Perry hat mit ihrem mehr­fach aus­ge­zeich­ne­ten Roman, eine fein­ge­spon­nene, dichte und tief­sin­nige Geschichte erson­nen, die zunächst durch ihre fein­sin­ni­gen Cha­rak­tere punk­tet, deren ange­deu­te­ten Lei­den­schaf­ten und ver­wor­re­nen Kon­stel­la­tio­nen im ers­ten Drit­tel des Romans einen Gross­teil des Rei­zes der “Schlange von Essex” aus­ma­chen. Dane­ben die Suche Coras nach sich selbst. Den Zwän­gen ent­flie­hen, das “Frau sein” hin­ter sich las­sen, das doch nur Ver­druss und Schmerz (eine unglück­li­che Ehe, eine gestörte Mut­ter-Sohn-Bezie­hung) nach sich gezo­gen hat. Und gerade da, mit­ten im Nichts, wird sie der Liebe ihres Lebens begeg­nen. Nichts­ah­nend rum­pelt man bei der Befrei­ung eines Scha­fes anein­an­der und beschliesst ein­an­der zu ver­ab­scheuen. Als Cora und Pfar­rer Will Ran­some sich dann offi­zi­ell begeg­nen, ist das Erstau­nen gross, denn die Ran­so­mes erwar­te­ten eine ält­li­che matro­nen­hafte Witwe, samt Sohn auf Freiersfüssen.
Doch sie erhal­ten etwas ganz ande­res – eine treue Freun­din, ange­regte Gesprächs- und Streit­part­ne­rin, Ver­bün­dete und Mit­strei­te­rin wider den dörf­li­chen Wahn, rund um die Schlange, das mythi­sche Wesen, das wohl gekom­men ist, die Men­schen zu stra­fen. Sämt­li­che Gescheh­nisse, gleich ob der feh­lende Früh­ling, das ver­dor­bene Korn, das Ver­schwin­den einer Ziege… wer­den dem Levia­than ange­las­tet. Doch wäh­rend Cora hofft, die Schlange könnte eine monu­men­tale Ent­de­ckung palä­on­to­lo­gi­scher Art sein, die sie eins wer­den lasse mit ihrem gros­sen Vor­bild, möchte Will Ran­some all die Vor­komm­nisse ratio­nal erklä­ren. Hit­zige Debat­ten und anre­gende Streit­ge­sprä­che sind pro­gram­miert, doch dann treibt der Wahn um Got­tes­stra­fen ein gan­zes Dorf um. Als Mäd­chen in Hys­te­rie ver­fal­len und Naomi Banks, die Freun­din von Wills und Stel­las Toch­ter Joanna, ver­schwin­det, wird aus Aber­glaube vs. Glaube vs. Wis­sen­schaft bit­te­rer Ernst.

Überkonstruiertes Beziehungsgeflecht ermüdet

Bestseller-Autorin Sarah Perry (Geb. 1979)
Best­sel­ler-Autorin Sarah Perry (Geb. 1979)

Schnell jedoch wird das ver­wor­rene Bezie­hungs­ge­flecht ermü­dend und scheint über­kon­stru­iert: Cora und deren mit­un­ter zwei­deu­tige Bezie­hung zu ihrer Gefähr­tin Mar­tha, der die Bekannt­schaft und innige Freund­schaft zu Will ein immer­wäh­ren­der Dorn im Auge ist. Auch der geniale Chir­urg Luke Gar­rett, der Arzt des ver­bli­che­nen Mr. Sea­borne war und von einer gemein­sa­men Zukunft mit Cora träumt, ist mit von der Par­tie. Durch eine Neben­hand­lung wird er uns die gesamte Hand­lung über beglei­ten und zur tra­gi­schen Figur, im dop­pel­ten Sinne, wer­den. Auch Mar­tha hat einen Ver­eh­rer, den rei­chen George Spen­ser, der zugleich Freund und Kol­lege Lukes ist. Mar­tha, die hier für das soziale Gewis­sen in der Stadt (Lon­don, genauer gesagt die Woh­nungs­frage) steht, die ihre Armen aus­beu­tet und die Rei­chen unge­hin­dert immer rei­cher und ver­kom­me­ner wer­den lässt, ist eine gespal­tene Gestalt, die die eine liebt, aber nicht haben kann, den ande­ren, den sie haben könnte aus­nutzt, einen drit­ten für kurz­fris­tige Befrie­di­gung braucht und sich dann ganz ihren Grund­sät­zen kon­trär mit einem vier­ten einlässt.

Roman-Figuren stellvertretend für die Gesellschaft

Die Figu­ren ste­hen stell­ver­tre­tend für die Gesell­schaft und ihren sta­ti­schen Zustand, der aller­dings lang­sam auf­zu­bre­chen droht; ihre Ent­wick­lung ist sinn­bild­lich für das Mäan­dern des Lebens (die die Lan­ge­weile durch vor­ge­zeich­ne­ten Lebens­wege sowohl her­aus­stel­len als auch kon­ter­ka­rie­ren soll). Lei­der füh­ren all die Neben­hand­lungs­plätze, die viel­leicht gut zur Ver­deut­li­chung der Para­dig­men Natur (pas­to­rale Idylle) vs. Glaube (Mythen, Bibel) vs. Wissenschaft/Verstand (Dar­win und die Mög­lich­keit der Chir­ur­gie als auch Medi­zin) sein mögen (bzw. deren Wech­sel), schnell zu Vor­her­seh­bar­keit und einem unschö­nen Aus­fran­sen der Handlung.
Und so ent­wi­ckelt sich, was kraft­voll, dyna­misch, andeu­tungs­reich, kurz: viel­ver­spre­chend, strin­gent, ver­schro­ben und bizarr beginnt (für Freunde des Skur­ri­len durch­aus ver­heis­send), zum aus­ufern­den Ärger­nis, das zuneh­mend mon­ta­ge­haft Ent­wick­lun­gen prä­sen­tiert, was bei Dickens viel­leicht gekonnt inte­griert ist, hier aber fehl am Platze scheint. Und vor allem das Lesen zur Her­aus­for­de­rung macht…

Von der Pflicht befreit, möglichst hübsch auszusehen”

Der Roman "Die Schlange von Essex" von Sarah Perry scheint weder Fisch noch Fleisch zu sein. Stilistisch und erzählerisch durchaus herausragend aus dem Mainstream-Einheitsbrei, der sich dem Oberflächlich-Offensichtlichen widmet - aber nicht fokussiert genug auf das Anliegen. So verliert sich die Autorin im überkonstruierten Beziehungsgeflecht.
Der Roman “Die Schlange von Essex” von Sarah Perry scheint weder Fisch noch Fleisch zu sein. Sti­lis­tisch und erzäh­le­risch durch­aus her­aus­ra­gend aus dem Main­stream-Ein­heits­brei, der sich dem Ober­fläch­lich-Offen­sicht­li­chen wid­met – aber nicht fokus­siert genug auf das Anlie­gen. So ver­liert sich die Autorin schliess­lich im über­kon­stru­ier­ten Beziehungsgeflecht.

Wo bleibt dabei die Liebe Coras zu Mary Anning, wo der Dis­kurs über Dar­win, wo ihre Ambi­tion? Wo bleibt vor allem die Schlange von Essex, die bis zur (vor­her­seh­ba­ren) Auf­lö­sung lange in ihrem Ursprung unbe­ach­tet dahin düm­pelt. Auch die Liebe zu der Natur, dem ver­schro­be­nen Wesen der Land­be­völ­ke­rung, der inter­es­san­ten Land­schaft um den Black­wa­ter (besag­ter Fluss­arm, um den sich hier alles dreht) wird recht schnell bei­sei­te­ge­legt, was schade ist, denn Perry ver­steht ihr Hand­werk durch­aus. Sprach­lich ist und bleibt das Buch bis zum Ende ein Genuss, gelun­gene Meta­phern, gekonnte Per­so­ni­fi­zie­run­gen las­sen die Natur, über die Stre­cken, wo Perry ihr Raum zur Ent­fal­tung gibt, in all ihrer tris­ten und ver­wun­sche­nen Schön­heit, auferstehen.
Durch all die Ent­wick­lun­gen und Neben­schau­plätze lei­det die Ver­bun­den­heit des Lesers zur Hand­lung, zu Per­so­nen und Loka­li­tät. So kann man bei­spiels­weise bei Simons Becketts Thril­ler “Toten­fang” die Land­schaft um die Back­wa­ters düs­te­re­rer und atmo­sphä­risch dich­ter ver­fol­gen. Wei­te­rer gros­ser Minus­punkt ist die doch unaus­ge­go­rene bruch­stück­hafte Lie­bes­ge­schichte, die eben nicht das schafft, was für eine gute Herz-Schmerz-Geschichte essen­zi­ell ist – uns hin­ein­zu­zie­hen in die Bezie­hungs­the­ma­tik, uns zu fes­seln, mit­fie­bern zu las­sen und atem­los des Happy Ends zu har­ren und die­ses herbeizusehnen. ♦

Sarah Perry: Die Schlange von Essex, Roman, 492 Sei­ten, Eich­born Ver­lag, ISBN 978-3-8479-0030-6

Lesen Sie im Glarean Maga­zin zum Thema His­to­ri­scher Roman auch über Rebecca Gablé: Der dunkle Thron

… sowie über den neuen Roman von Rolf Bau­er­dick: Wie die Madonna auf den Mond kam

Kommentare sind willkommen! (Keine E-Mail-Pflicht)